Amnesty Journal Israel und besetzte Gebiete 12. Februar 2010

"Wir schlachten jede heilige Kuh"

Ein Gespräch mit dem Leiter des Freedom Theatre, Juliano Mer Khamis, über die palästinensische Autonomiebehörde, heikle Auftritte in Israel und Mädchen auf der Bühne.

Zur Person: Juliano Mer Khamis
Der Sohn einer jüdischen Menschenrechtsaktivistin und eines kommunistischen Palästinensers war israelischer Soldat und saß ­hinter Gittern, weil er einen Offizier angegriffen hatte. ­Später war er Schauspieler in Tel Aviv. Heute leitet der 51-Jährige das Freedom Theatre im palästinensischen Jenin.

Das Freedom Theatre kritisiert nicht nur die israelische Besatzung, sondern auch die konservativen Verhältnisse in der palästinensischen Gesellschaft. Wie kommt das in Jenin an?
Sehr unterschiedlich. Unsere erste Produktion war die "Farm der Tiere" von George Orwell, die man als Parabel über die ­Situation in Palästina ansehen kann: Die Autonomiebehörde ­arrangiert sich mit den Besatzern und spielt sich selbst als dik­tatorisches Regime auf. Das sorgte natürlich für Missgunst…

…es gab zwei Brandanschläge auf das Theater.
Ja, aber man weiß nicht, wer dafür verantwortlich war. Vielleicht Kriminelle, vielleicht Konservative. Glücklicherweise ist nichts passiert. Es ist eben nicht besonders populär, das von Tradition und Religion geschaffene Vakuum in der Gesellschaft zu durchbrechen. Für uns geht es aber genau darum: Wir wollen kritisches Denken fördern und jede heilige Kuh schlachten. Wir können nicht gegen die Besatzung kämpfen, wenn wir uns nicht von unseren eigenen Ketten befreien.

Gab es auch Fortschritte?
Natürlich. Ein sehr wichtiges Thema für uns ist die Emanzipation von Mädchen und Frauen, man könnte sie als Indikator für den Stand unserer eigenen Befreiung bezeichnen. Die Situation von Frauen spielt in "Fragments of Palestine" eine große Rolle; auch deshalb konnten wir das Stück nicht überall aufführen. Wir bemühen uns, möglichst viele Mädchen in das Theater einzubinden. Vor vier Jahren war es fast unmöglich, dass eine Frau bei uns auch nur im Büro arbeitet. Sie wäre öffentlich in Un­gnade gefallen. Heute haben wir mehr Mädchen als Jungen. Es wächst eine neue Generation heran. Die ist sich dessen bewusst, dass wir zunächst unsere Identität rekonstruieren müssen, bevor wir wieder zu den israelischen Checkpoints marschieren.

Trotz ihrer Kritik an der frauenfeindlichen palästinensischen Gesellschaft steht für Sie der Hauptfeind an den Checkpoints?
Wir betonen immer wieder: Schiebt nicht alles auf die Besatzung, wir müssen selbst Verantwortung übernehmen für unsere Entwicklung. Aber wo beginnt die Besatzung und wo endet die Tradition? Wenn die Menschen ihr Land verlieren, das Soziale zerstört wird und es keine Wirtschaft und keine Kultur gibt, kehrt man zu den Stammesbeziehungen zurück, also zu den traditionellen Strukturen. Und darunter leiden zuerst die Frauen.

Treten Sie in Israel auf?
Bislang hatten meine Studenten Israel boykottiert.

Bislang? Und nun hat sich das verändert?
Es hat ein Prozess begonnen. Ich wollte das Schwarz-Weiß-Bild aufbrechen und habe den Studenten Filme über den Holocaust gezeigt. Zunächst warfen sie mir vor, ich wolle Verständnis für die Besatzer schaffen. Ich argumentierte: Es gibt Juden, es gibt Zionisten, es gibt linke Israelis, es gibt rechte Israelis. Solche Debatten haben die Schauspieler nun dazu gebracht, dass sie in Israel auftreten wollen. Ich persönlich halte das für eine gefährliche Entscheidung. Damit legitimiert man einen nicht akzeptablen Zustand. Aber sie bestehen darauf. Ich will nicht mit Leuten kooperieren, die sich nicht klar gegen die Besatzung stellen.

Aber es gibt ja auch Israelis, die Ihre Sache unterstützen.
Mit denen arbeiten wir Hand in Hand. Viele Israelis kommen nach Jenin. Wir sind das einzige palästinensische Projekt, das die Türen für Israelis und Juden öffnet.

Interview: Wolf-Dieter Vogel

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