Amnesty Journal 11. Januar 2010

Vier Minuten Revolte

Seit 30 Jahren feiern Musikvideos "queere" Identitäten. Doch es geht um mehr als um sexuelle und kulturelle Selbstbehauptung. Das zeigen allein die 21 Homosexuellen-Morde 2007 in den USA.

Kann eine Orgie politisch sein? Das Video zum Nummer-eins-Hit "Relax" von Frankie goes to Hollywood zeigt den schwulen Sänger Holly Johnson in einem Club voller Ledermänner. Johnson geht mit mehreren Kerlen auf Tuchfühlung und singt: "Relax, don’t do it, when you want to come!" Auf den ersten Blick wird hier nur ein hedonistisches Disneyland inszeniert, weit entfernt vom politischen Kampf, den die Homosexuellenbewegungen in Europa und den USA seit den Stonewall Riots von 1969 mit zunehmender Vehemenz geführt hatten.

Die Riots waren die ersten Auseinandersetzungen, in denen sich Homosexuelle, in diesem Fall in New York, der Verhaftung durch die Polizei widersetzten. Trotzdem ist "Relax" politisch. Denn 1983 war diese Orgie das erste Musikvideo, das ein größtenteils heterosexuelles Fernsehpublikum explizit mit einer schwulen Subkultur konfrontierte. Die Forderung, das Private als politisch zu begreifen, wird in "Relax" erfüllt, wenn Holly Johnson ein "Coming-Out" feiert, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Übrigens so deutlich, dass MTV und BBC das Video bald aus dem Programm nahmen.

"Relax" steht am Anfang einer langen Reihe von Clips, die dem Mainstream alternative Identitäten entgegensetzen und in den knapp vier Minuten, die ein Video gewöhnlich dauert, eine Revolte gegen sexuelle Konventionen anzetteln. In den frühen Achtzigern war die Zeit dafür reif. Der Begriff "queer", ursprünglich abfällig gebraucht für alle, die nicht der sexuellen Norm entsprachen, wurde von vielen Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender und Intersexuellen umgedeutet zum Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins. Anders als die anderen zu sein, wurde zur Quelle kreativer und politischer Energie.

Mit seinen anarchischen Erzählformen konnte das Musikvideo diese Energie schneller in Bilder umsetzen als herkömmliche Medien, wie etwa der Spielfilm. Bis heute bietet das Musikvideo "queeren" Künstlerinnen und Künstlern einen enormen Spielraum. "Hier sind wir!", rufen Boy George, Bronski Beat, Melissa Etheridge, Meshell Ndegeocello, Gossip und unzählige andere dem Zuschauer zu. Wer sich in der Geschichte des Musikvideos auf Spurensuche begibt, erfährt, wie vielfältig, aber auch wie bedroht dieses "wir" bis heute ist.

1984, ein Jahr nach "Relax", sucht ein schwuler Junge in einer tristen englischen Kleinstadt nach Liebe. Ein Mann im Hallenbad lächelt ihn an, der Junge schöpft Hoffnung, doch kurz ­darauf wird er von dem Mann und seinen Kumpanen zusammengeschlagen. "Smalltown boy", das Video zum ersten Hit des Trios Bronski Beat, zeigt den sexuellen Außenseiter als Opfer.

Vom selbstbewussten Hedonismus in "Relax" ist "Smalltown boy" weit entfernt. Und doch ist auch dieses Video ein politisches Manifest. In fünf Minuten prangern Bronski Beat an, wofür ein Spielfilm einen ganzen Abend bräuchte: Homophobie und Diskriminierung sind im England der Achtziger noch weit verbreitet. Der Titel des entsprechenden Bronski-Beat-Albums "The age of consent" bezieht sich auf das Alter, in dem schwule Männer straffrei Sex haben dürfen. 1984 lag es mit 21 Jahren weit über der Altersgrenze für heterosexuelle Jugendliche.

Dass der Junge im Zug nach London auf andere schwule Jungs trifft, war eine deutliche Botschaft an jeden schwulen ­Jungen, der damals vor dem Fernseher saß: Du bist nicht allein! Ein Gemeinschaftsgefühl, das nach dem Ausbruch der Aids-Krise zwar stark gefordert war, das sich in den populärsten Videos aus der zweiten Hälfte der Achtziger aber kaum manifestierte. Erst 1990 rappte Neneh Cherry im Video zu "I got you under my skin" gegen die Kälte an, die HIV-positiven Menschen entgegenschlägt. Ein bis übers Gesicht in Latex gehüllter Tänzer windet sich zum wummernden Bass des Songs und verkörpert beides: Isolation bis hin zur Unsichtbarkeit und sexuelles Begehren.

Dass in den Neunzigern einige heterosexuelle Sängerinnen in ihren Videos Homosexualität ins Spiel bringen, ist ein Beleg für die zunehmende Toleranz der westlichen Industriegesellschaften – Toleranz bis hin zur Vermarktung. In den Videos zu "Vogue", "Justify my love" und "Erotica" treibt Madonna das Spiel mit den visuellen Codes und Fetischen der schwulen Subkultur bis zum wohlkalkulierten Skandal. Im Video zu Björks "All is full of love" (1999, Regie: Chris Cunningham) versinken zwei androgyne Roboter, beide mit Björks Antlitz, in einem in­nigen Kuss.

Dieser Clip macht die Utopie einer allumfassenden Liebe für vier Minuten und neun Sekunden wahr. Gleichzeitig nimmt dieses Video zwar politische Prozesse auf – der Versuch der "queeren" Kulturen in den späten Neunzigern, alle Identitäts- und Begehrensgrenzen zu überwinden – verwandelt diese aber in eine hermetische Bilderwelt, die sich selbst genug ist.

Doch im neuen Jahrtausend erobert eine neue Generation von "queeren" Künstlerinnen und Künstlern das Musikvideo als Mittel politischer Selbstbehauptung zurück. Zwei Clips aus dem Jahr 2007 sind beispielhaft. Das Video zu "Gay bash" (Schwulenklatschen) der lesbischen Hip-Hopperin Mélange Lavonne zeigt den Trauergottesdienst für einen jungen Mann. Wie ist er gestorben? Mélange Lavonne verdrängt den Priester vom Mikrofon und rappt los: Der Junge war schwul, und er ist einem "hate crime" zum Opfer gefallen, wurde von Menschen getötet, die ihn hassten, weil er nicht war wie sie.

"Gay bash" erinnerte 2007 an eine traurige Wirklichkeit: In diesem Jahr wurden in den USA 21 Homosexuelle ermordet. Das Video zeigt auch den Nährboden solcher Taten. "Gott hasst Schwuchteln" steht auf den Plakaten, die Demonstranten in "Gay Bash" vor sich hertragen. Mit denselben Worten hatten fundamentalistische Christen Ende der Neunziger vor einem Gerichtsgebäude protestiert, in dem sich die Mörder eines schwulen Studenten verantworten mussten.

"Ihr seid keine Christen, ihr predigt Hass", schleudert Lavonne im Video der Kirchengemeinde entgegen. Die Anklage ist dieselbe wie in "Smalltown boy". Doch hier steht eine Künstlerin, die dem Gegner nicht ausweicht, sondern angreift. Dass Mélange Lavonne eine lesbische Hip-Hopperin ist, also zu einer Musikrichtung gehört, in der gern homophobe Klischees benutzt werden, ist ein weiteres politisches Statement.

Ähnlich subversiv, aber viel spielerischer gehen Gossip im Video zu "Listen up" die Sache an. Ein Mann und eine Frau, jeweils in der eigenen Wohnung, stehen vor dem Spiegel und machen sich schick. Der Mann setzt eine Perücke auf und schminkt sich, die Frau klebt einen Schnurrbart an. Als Mann geht sie auf die Straße und schaut Frauen hinterher, während der Mann in Frauenkleidern männliche Passanten anflirtet.

Als sich die beiden dann in einem Club begegnen, dreht Regisseur Whitey McConnaughy die Schraube noch eine Runde weiter: "Drag Queen" und "Drag King" können die Augen nicht mehr voneinander lassen. Auf dem Tresen wiegt sich die lesbische Sängerin Beth Ditto in den Hüften und singt, dass wir nicht alles glauben sollen, was uns die Leute erzählen. Fast dreißig Jahre, nachdem Holly Johnson in einem schwulen Club mit ein paar Regeln brach, ist das Musikvideo immer noch ein Ort für "queere" Selbstbehauptung und "queere" Utopien.

Von Lennart Herberhold und Evan Romero-Castillo.
Lennart Herberhold ist Mitglied der Amnesty-Gruppe MERSI (Menschenrechte und sexuelle Identität) in Hamburg. Evan Romero-Castillo ist Kurator der Anthologie: "Resilience: Queers in Music Video 1979–2009".

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