Amnesty Report Pakistan 23. Mai 2018

Pakistan 2017/18

Report Cover 17/18

Die Meinungsfreiheit geriet 2017 noch stärker unter Druck. Das Gesetz zur Internetkriminalität aus dem Jahr 2016 wurde genutzt, um Menschenrechtsverteidiger, die sich im Internet geäußert hatten, zu schikanieren, einzuschüchtern und willkürlich zu inhaftieren. Die Praxis des Verschwindenlassens war weit verbreitet, ohne geahndet zu werden. Die Regierung verurteilte ausnahmsweise einen gewaltsamen Angriff auf eine Person, der Blasphemie vorgeworfen worden war. In dem konkreten Fall hatte eine aufgebrachte Menschenmenge einen Studenten getötet. Die Blasphemiegesetze boten nach wie vor die Grundlage dafür, dass Menschen wegen Meinungsäußerungen im Internet schuldig gesprochen wurden. Es gab 2017 zahlreiche Großkundgebungen von Befürwortern dieser Gesetze. Mehrere Journalisten wurden von Unbekannten angegriffen. Angehörige von Minderheiten litten nach wie vor unter Diskriminierung und konnten ihre wirtschaftlichen und sozialen Rechte nur begrenzt wahrnehmen. Das Parlament blockierte einen Gesetzentwurf zur Erhöhung des Mindestheiratsalters für Mädchen auf 18 Jahre. Ungeachtet eines 2016 verabschiedeten Gesetzes, das sogenannte Ehrenmorde unter Strafe stellt, wurden Frauen nach wie vor aus Gründen der "Ehre" getötet.

Hintergrund

Der Oberste Gerichtshof ordnete im Juli 2017 die Amtsenthebung von Ministerpräsident Nawaz Sharif an, weil er Einkommen aus einer ausländischen Quelle nicht offengelegt hatte. In der darauffolgenden Zeit verlor die Regierung erheblich an Ansehen, nachdem gegen weitere Mitglieder der Familie Sharif und gegen Minister Ermittlungen wegen Korruptionsverdacht eingeleitet worden waren. Im November 2017 trat der Justizminister zurück, der zuvor bei wochenlangen Protesten der Blasphemie bezichtigt worden war. Im Vorfeld der für 2018 anberaumten Wahlen ließ sich eine wachsende Einflussnahme des Militärs auf die Außenpolitik sowie auf Fragen der nationalen Sicherheit und die täglichen Regierungsgeschäfte feststellen. 

Vor dem Hintergrund von Schusswechseln an der Line of Control, der Demarkationslinie, die den faktischen Grenzverlauf in der umstrittenen Region Kaschmir markiert, dauerten die Spannungen zwischen Pakistan und Indien an. Die Beziehungen zu Afghanistan verschlechterten sich, weil beide Seiten einander vorwarfen, das Staatsgebiet des anderen sei Ausgangspunkt für bewaffnete Angriffe auf das eigene Land. Im Zuge ihrer neuen Südasienpolitik sah die US-Regierung Pakistan als einen wesentlichen Faktor an, der für die instabile Lage in Afghanistan verantwortlich war. Diese Haltung nährte Befürchtungen, es könne zum Bruch der Beziehungen kommen. Die Ausweitung des milliardenschweren chinesisch-pakistanischen Investitionsprogramms China Pakistan Economic Corridor bedeutete eine weitere Annäherung Pakistans an sein nordöstliches Nachbarland und eine Abkehr von westlichen Staaten.

Im Oktober 2017 wurde Pakistan in den UN-Menschenrechtsrat gewählt. Im Laufe des Jahres untersuchten der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und der UN-Menschenrechtsausschuss die Menschenrechtslage im Land. Außerdem wurde die Allgemeine Regelmäßige Überprüfung durch den UN-Menschenrechtsrat vorgenommen.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Die Angriffe auf die Meinungsfreiheit setzten sich 2017 fort. Betroffen waren vor allem Personen, die Meinungsäußerungen im Internet verbreiteten. Im Januar 2017 fielen fünf Blogger, die in anonymen Kommentaren im Internet das Militär kritisiert haben sollen, dem Verschwindenlassen zum Opfer. Vier von ihnen wurden später freigelassen; zwei erklärten, sie seien im Gewahrsam des Militärgeheimdienstes gefoltert worden. Der fünfte Blogger blieb bis Ende 2017 "verschwunden". Das drakonische Gesetz zur Internetkriminalität aus dem Jahr 2016 diente als rechtliche Grundlage für eine Reihe von Festnahmen. Im Juni 2017 wurde der Journalist Zafarullah Achakzai inhaftiert, der für die Tageszeitung Daily Qudrat arbeitete. Über mehrere Wochen hinweg wurden Anhänger verschiedener politischer Parteien wegen kritischer Äußerungen in den sozialen Medien festgenommen. Die Behörden unternahmen nichts gegen Benutzerkonten bewaffneter Gruppen, die in den sozialen Medien Diskriminierung und Gewalt schürten. 

Die repressiven Blasphemiegesetze, die vage und weit gefasst waren und auch friedliche Meinungsäußerungen unter Strafe stellten, wenn diese als Verletzung religiöser Gefühle ausgelegt werden konnten, führten immer wieder zu strafrechtlicher Verfolgung, häufig nach Äußerungen in den sozialen Medien. Im Juni 2017 verurteilte ein Antiterrorgericht in der Provinz Punjab Taimoor Raza wegen "blasphemischer" Facebook-Beiträge zum Tode. Im September wurde in der Stadt Gujrat der Christ Nadeem James zum Tode verurteilt, weil er ein "blasphemisches" Gedicht über WhatsApp verbreitet hatte.

Blasphemievorwürfe waren auch der Auslöser für die Ermordung von Mashal Khan, der an der Universität Mardan studierte. Am 13. April 2017 stürmten aufgebrachte Studierende in das Wohnheim, in dem er lebte, rissen ihm die Kleider vom Leib, schlugen auf ihn ein und erschossen ihn schließlich. Regierungschef Nawaz Sharif versprach daraufhin, man werde Maßnahmen gegen den "Missbrauch" der Blasphemiegesetze ergreifen. Sechs Tage nach der Tötung von Mashal Khan griffen drei Frauen in Sialkot einen "Wunderheiler" an, dem sie Blasphemie vorwarfen, und töteten ihn auf ähnliche Weise in seinem Haus. Zwei Tage später ging eine aufgebrachte Menschenmenge in Chitral auf einen der Blasphemie bezichtigten Mann los und verletzte mehrere Polizisten, die ihn schützen wollten. Im Mai 2017 kam es in der Stadt Hub in Belutschistan zu einem Tumult, bei dem ein zehnjähriger Junge getötet und fünf weitere Menschen verletzt wurden. Die Wut der Menschenmenge richtete sich gegen den Hindu Prakash Kumar, der verdächtigt wurde, ein beleidigendes Foto über soziale Medien verbreitet zu haben. 

Hochrangige Regierungsvertreter verschärften die Spannungen im Zusammenhang mit Blasphemievorwürfen. Im März 2017 erklärte Innenminister Nisar Ali Khan "Gotteslästerer" seien "Feinde der Menschheit". Im Februar und im März ordnete das Hohe Gericht in Islamabad an, alle blasphemischen Beiträge im Internet müssten gelöscht werden, und forderte die Regierung auf, Strafverfolgungsmaßnahmen gegen diejenigen zu ergreifen, die die Inhalte hochgeladen hatten. Menschenrechtsverteidiger berichteten über schwerwiegende Drohungen, die sie über das Internet erhielten, denen die Behörden jedoch nicht nachgingen.

Menschenrechtsverteidiger

Blogger, Journalisten, Rechtsanwälte, Aktivisten und andere Menschenrechtsverteidiger waren Schikanen, Einschüchterungsversuchen, Drohungen und gewaltsamen Angriffen ausgesetzt. Einige wurden Opfer des Verschwindenlassens. Die fünf Blogger, die im Januar 2017 "verschwanden" (siehe oben), und Aktivisten, die sich für deren Freilassung einsetzten, wurden Opfer einer diffamierenden Hetzkampagne. Man warf ihnen vor, sie seien "Gotteslästerer" und gegen Pakistan, den Islam und die Armee eingestellt. Im Fernsehen und in den sozialen Medien kritisierte Menschenrechtsverteidiger erhielten Morddrohungen und sahen sich gezwungen, Selbstzensur zu üben und sich in Sicherheit zu bringen.

Im Mai 2017 sprühten Unbekannte in Lahore Morddrohungen an das Haus des Journalisten Rana Tanveer, der sich mit Angriffen auf religiöse Minderheiten beschäftigte. Wenige Tage später wurde er auf seinem Motorrad von einem Autofahrer absichtlich angefahren, so dass er stürzte und schwere Verletzungen erlitt. Im September wurde der Journalist Matiullah Jan, der wiederholt Kritik an der Einmischung des Militärs in die Politik geübt hatte, in seinem Auto angegriffen. Er war mit seinen beiden Kindern unterwegs, als zwei Männer auf einem Motorrad einen großen Betonklotz gegen seine Windschutzscheibe schleuderten. Im Oktober wurde der politisch engagierte Journalist Ahmad Noorani bei einer Autofahrt von mehreren Motorradfahrern angehalten, aus dem Wagen gezerrt und u. a. mit Eisenstangen geschlagen. Ende 2017 war im Zusammenhang mit all diesen Angriffen noch niemand zur Verantwortung gezogen worden. 

Auch 2017 fielen immer wieder Menschenrechtsverteidiger dem Verschwindenlassen zum Opfer; einige von ihnen tauchten später wieder auf. Raza Khan, ein Friedensaktivist aus Lahore, "verschwand" im Dezember 2017. Punhal Sario, der sich in der Provinz Sindh für ein Ende des Verschwindenlassens einsetzte, wurde im August selbst zum Opfer. Im Oktober kam er wieder nach Hause. Zeenat Shahzadi, die im August 2015 in Lahore verschleppt worden war, war die erste Journalistin, die dem Verschwindenlassen zum Opfer fiel. Nach 26 Monaten wurde sie im Oktober 2017 in der Nähe der afghanischen Grenze wieder aufgefunden. Im November "verschwand" sie erneut, ihr Schicksal war Ende 2017 unbekannt. In den Provinzen Sindh und Belutschistan verschleppten pakistanische Sicherheitskräfte im Oktober und November Dutzende Menschenrechtsverteidiger. Einige von ihnen kamen wenige Tage später wieder nach Hause, bei anderen gab es am Jahresende noch keinerlei Hinweise auf ihren Verbleib. 

Die Handlungsspielräume der Zivilgesellschaft wurden immer enger, weil das Innenministerium seine weitreichenden Befugnisse einsetzte, um die unabhängige Arbeit von Menschenrechtverteidigern und NGOs zu behindern. Im November wies das Innenministerium 29 internationale NGOs an, ihre Arbeit einzustellen und das Land innerhalb weniger Tage zu verlassen.

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Laut einer Nationalen Ernährungsstudie litten etwa 58 % aller Haushalte unter Ernährungsunsicherheit. Schätzungsweise 44 % der Minderjährigen waren unterentwickelt oder zu klein für ihr Alter. In den Stammesgebieten im Nordwesten und in Belutschistan war der Prozentsatz noch viel höher.

Die Regierung ging nicht gegen diejenigen vor, die für das System der Schuldknechtschaft in ländlichen Gebieten verantwortlich waren. Das Gesetz zur Abschaffung der Zwangsarbeit von 1992 wurde noch immer nicht angemessen umgesetzt, u. a. weil bei den unteren Gerichten Unklarheit über die Bestimmungen des Gesetzes herrschte und die Polizei nicht handelte, wenn Anzeige erstattet wurde.

Im Juli 2017 stellte der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in seinen abschließenden Bemerkungen fest, dass mehr als 73 % der Beschäftigten in der informellen Wirtschaft tätig waren, die meisten von ihnen Frauen, und keinen arbeitsrechtlichen und sozialen Schutz genossen. Der Ausschuss forderte Pakistan auf, Maßnahmen gegen das Lohngefälle zwischen Männern und Frauen zu unternehmen, das von 34 % im Jahr 2008 auf 39 % im Jahr 2015 gestiegen war. Außerdem stellte der Ausschuss fest, dass die Ausgaben im sozialen Bereich, vor allem im Gesundheitswesen und im Bildungssektor, dringend erhöht werden müssten. Schließlich forderte er angemessene Maßnahmen gegen die unterschiedliche Einschulungsquote von Jungen und Mädchen.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen

Einen historischen Meilenstein für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen bedeutete die Anerkennung seitens der Regierung von allen, die im Personalausweis künftig "drittes Geschlecht" angeben möchten. Auf Anweisung des Hohen Gerichts in Lahore wurde das "dritte Geschlecht" erstmals bei der Volkszählung berücksichtigt.

Ungeachtet dieses symbolisch wichtigen Sieges litten Transgeschlechtliche nach wie vor unter Schikanen und gewaltsamen Angriffen. Im August 2017 wurde in Karatschi eine 25-jährige Transfrau namens Chanda erschossen. Im September 2017 brachen ebenfalls in Karatschi fünf Männer in ein Haus ein, in dem eine Gruppe von Transfrauen wohnte, und verübten eine Gruppenvergewaltigung an zwei der Frauen und andere sexualisierte Gewalttaten.

Frauenrechte

Wichtige Gesetze zum Schutz der Rechte von Frauen wurden nicht verabschiedet oder existierende Gesetze nicht umgesetzt. Der Entwurf eines Strafgesetzes der Provinz Sindh zum Schutz von Minderheiten, das erzwungene Glaubensübertritte von Frauen, die religiösen Minderheiten angehören, strafbar machen sollte, wurde nicht unterzeichnet. Ein Gesetz, mit dem das Mindestheiratsalter für Mädchen von 16 auf 18 Jahre angehoben und damit an das für Jungen angeglichen werden sollte, wurde vom Oberhaus des Parlaments blockiert.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

2017 wurden weiterhin zahlreiche Gewaltverbrechen an Frauen und Mädchen verübt, darunter auch sogenannte Ehrenmorde. In der nordwestlichen Provinz Khyber Pakhtunkhwa wurden 94 Frauen von Familienangehörigen ermordet. In mehreren Fällen wurden keine Ermittlungen eingeleitet und die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen. 

Es existierten weiterhin parallele und informelle Gerichtsbarkeiten, die die Rechtsstaatlichkeit aushöhlten und "Urteile" gegen Frauen und Mädchen verhängten. Im Juli 2017 ordnete ein Dorfrat im Bezirk Multan die Vergewaltigung eines jungen Mädchens an, um eine angebliche Straftat ihres Bruders zu "vergelten". Im August wurde in Karatschi nach der Exhumierung der Leichen eines Teenagerpaars festgestellt, dass die beiden mit Elektroschocks gefoltert worden waren. Ein Stammesrat (Jirga) hatte sie zum Tode verurteilt. Im September 2017 tötete in Peshawar ein Mann seine beiden Töchter, weil er vermutete, dass sie Freunde hatten. 

Das Gesetz von 2016, das die Strafen für "Ehrenmorde" an die für Mord angeglichen hatte, erwies sich als unwirksam. Es sah die Verhängung der Todesstrafe vor, überließ jedoch dem Gericht die Entscheidung, ob eine Straftat "aus Gründen der Ehre" begangen wurde. 2017 gab es einige Fälle, in denen der Beschuldigte ein anderes Motiv für seine Tat angab und von der Familie des Opfers nach dem Qisas- und Diyat-Recht begnadigt wurde, das anstelle einer Bestrafung auch "Blutgeld" und Vergebung ermöglicht.

Flüchtlinge und Asylsuchende

Auch 2017 wurden Flüchtlinge nach Afghanistan abgeschoben, wenn auch in weitaus geringerem Maße als im Vorjahr. Laut Angaben des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge wurden 2017 insgesamt 59020 registrierte Flüchtlinge nach Afghanistan abgeschoben, verglichen mit über 380000 im Jahr 2016. Diese Massenabschiebungen im Vorjahr waren auf die eskalierenden Spannungen zwischen den Regierungen Afghanistans und Pakistans zurückzuführen. Über 2 Mio. afghanische Staatsangehörige waren in Gefahr, abgeschoben zu werden, da ihre Aufenthaltsgenehmigungen Ende des Jahres ausliefen.

Polizei und Sicherheitskräfte

Die Zuständigkeit der Militärgerichte für die strafrechtliche Verfolgung von Zivilpersonen, die terroristischer Straftaten verdächtigt wurden, wurde 2017 um weitere zwei Jahre verlängert. Es gab erneut Berichte über eine Beteiligung der Sicherheitskräfte an Menschenrechtsverletzungen wie Folter und anderen Misshandlungen, willkürlichen Inhaftierungen, außergerichtlichen Hinrichtungen und Verschwindenlassen. Da nach wie vor keine unabhängigen und unparteiischen Mechanismen existierten, um solche Verstöße zu untersuchen und die Täter vor Gericht zu stellen, herrschte noch immer Straflosigkeit. Obwohl die Zahl der Anschläge bewaffneter Gruppen 2017 abnahm, starben zahlreiche Menschen bei Bombenanschlägen, die u. a. gegen Sicherheitskräfte und religiöse Minderheiten gerichtet waren.

Weitere Artikel