Amnesty Report Italien 16. Mai 2017

Italien 2017

Amnesty Report 2016 / 2017

2016 gelangten mehr als 181000 Flüchtlinge und Migranten auf dem Seeweg nach Italien. Mehr als 4500 Personen ertranken im Mittelmeer bzw. galten als auf See vermisst. Dies war die bislang höchste registrierte Zahl von Todesopfern. Bei der Umsetzung des "Hotspot-Konzepts" der EU, das vorsah, Flüchtlinge in Registrierzentren ("Hotspots") zu identifizieren und sie von Migranten ohne regulären Aufenthaltsstatus zu unterscheiden, kam es zu exzessiver Gewaltanwendung, willkürlichen Festnahmen und kollektiven Abschiebungen durch die italienischen Behörden. Roma wurden beim Zugang zu Wohnraum weiterhin diskriminiert. Tausende von ihnen mussten in speziellen Lagern leben, Hunderte wurden Opfer rechtswidriger Zwangsräumungen. Das Parlament verabschiedete ein Gesetz, das die eingetragene Partnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare einführte. Auch 2016 wurde Folter nicht als eigener Straftatbestand ins Strafgesetzbuch aufgenommen.

RECHTE VON FLÜCHTLINGEN UND MIGRANTEN

Schätzungen zufolge kamen 2016 mehr als 4500 Menschen bei dem Versuch ums Leben, in nicht seetüchtigen und völlig überladenen Boden auf der zentralen Mittelmeerroute nach Italien zu gelangen. Dies war die bislang höchste Zahl an Todesopfern.

Mehr als 181000 Flüchtlinge und Migranten erreichten 2016 Italien, dies waren etwas mehr als in den Vorjahren. Die allermeisten starteten an der libyschen Küste und wurden von Schiffen der italienischen Küstenwache und Marine, von Handelsschiffen aus anderen Ländern und immer häufiger auch von Schiffen verschiedener NGOs aus Seenot gerettet. Unter den Flüchtlingen und Migranten waren mehr als 25700 unbegleitete Minderjährige und damit mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr. Die italienischen Behörden hatten große Mühe, sie gemäß den internationalen Standards zu betreuen.

Die EU-Militäroperation im südlichen zentralen Mittelmeer (EUNAVFOR MED – Operation Sophia) wurde unter Leitung der italienischen Marine fortgesetzt. Sie begann im Oktober 2016 mit der Ausbildung der libyschen Küstenwache, obwohl in Berichten davon die Rede war, dass Angehörige der Küstenwache auf Boote mit Flüchtlingen und Migranten geschossen hatten und dass Gerettete, die nach Libyen zurückgebracht wurden, dort willkürliche Inhaftierung und Folter befürchten mussten.

Italien setzte weiterhin das 2015 von der EU beschlossene "Hotspot-Konzept" um, das eine rasche Identifizierung und Überprüfung der Flüchtlinge und Migranten am Ankunftsort sicherstellen soll. Weil die EU verlangte, die Fingerabdrücke von allen zu erfassen, die auf dem Seeweg ankamen, nahmen die italienischen Behörden Personen, die sich dem widersetzen wollten, willkürlich fest und setzten unangemessene Gewalt gegen sie ein. Es wurden mehrere Fälle von Misshandlungen gemeldet.

Von der Reise erschöpfte, traumatisierte Menschen wurden in aller Eile ohne vorherige Belehrung über ihre Rechte und über die Folgen ihrer Einlassungen von Polizisten angehört, die nicht dafür ausgebildet waren, den Status schutzbedürftiger Personen zu ermitteln. Tausende Menschen, die als nicht schutzbedürftig angesehen wurden und sich daher ohne regulären Aufenthaltsstatus im Land aufhielten, erhielten Ausweisungsbescheide oder eine Aufforderung zur freiwilligen Ausreise. Personen, die dem nicht Folge leisten konnten, weil sie nicht über die nötigen finanziellen Mittel oder die für den Grenzübertritt erforderlichen Dokumente verfügten, waren Missbrauch und Ausbeutung schutzlos ausgesetzt.

Staatsangehörige von Ländern, mit denen Italien Rückführungsabkommen abgeschlossen hatte, wurden weiterhin in ihr Herkunftsland abgeschoben, oft schon wenige Tage nach ihrer Ankunft. Es bestand die Sorge, dass die Betroffenen keinen Zugang zu einem ordnungsgemäßen Asylverfahren erhalten hatten und dass nicht im Einzelfall geprüft worden war, ob ihnen bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland Gefahr drohte, sondern dass sie kollektiv abgeschoben wurden, obwohl dies verboten war.

Im August 2016 unterzeichneten die italienischen und die sudanesischen Polizeibehörden eine Absichtserklärung zur verstärkten Zusammenarbeit beim "Migrationsmanagement", die u. a. ein beschleunigtes Rückführungsverfahren vorsah. Die Vereinbarung konnte zwar nicht als Grundlage dienen, um sudanesische Asylsuchende in den Sudan abzuschieben, doch war die vereinbarte Identitätsprüfung so oberflächlich, dass die Gefahr bestand, dass auch Sudanesen, denen in ihrem Herkunftsland Menschenrechtsverletzungen drohten, abgeschoben wurden. Dies wäre ein Verstoß gegen den Grundsatz der Nicht-Zurückweisung (Non-Refoulement), der eine Abschiebung verbietet, wenn schwere Menschenrechtsverletzungen drohen.

Am 24. August 2016 wurde eine Gruppe von 40 Personen, die bei einer Überprüfung auf der Grundlage dieser Vereinbarung als sudanesische Staatsangehörige identifiziert worden waren, von Italien in den Sudan abgeschoben. Nach ihrer Ankunft dort wurden sie von Mitarbeitern des sudanesischen Geheimdienstes verhört, dem gravierende Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Einige der Abgeschobenen waren aufgrund der bewaffneten Auseinandersetzungen in Darfur nach Italien geflüchtet.

Bis zum Jahresende hatte Italien mehr als 176500 Menschen aufgenommen, die zum Großteil in Notunterkünften untergebracht wurden. Der Plan, die Asylsuchenden im ganzen Land zu verteilen, stieß bei einigen Kommunalverwaltungen und Anwohnern weiterhin auf Widerstand. In einigen Städten gab es Proteste, die oft von rechtsextremen Gruppen und der Partei Lega Nord organisiert oder unterstützt wurden.

Bis Mitte Dezember 2016 hatten etwa 120000 Personen in Italien Asyl beantragt, während es im Jahr zuvor nur 83000 waren. Die meisten kamen aus Nigeria und Pakistan. Etwa 40 % der Antragsteller erhielten zunächst irgendeine Form von Schutz.

Der von der EU im September 2015 beschlossene Plan, Asylsuchende, die in Italien und Griechenland angekommen waren, auf andere Mitgliedstaaten umzuverteilen, funktionierte in der Praxis nicht. Von den 40000 Personen, die aus Italien hätten umgesiedelt werden sollen, kamen nur 2654 tatsächlich in ein anderes Land. Unter den Umgesiedelten waren keine unbegleiteten Minderjährigen.

Italien nahm außerdem etwa 500 Menschen im Rahmen eines humanitären Programms auf, das von der katholischen Gemeinschaft Sant’Egidio und der Föderation evangelischer Kirchen in Italien (Federazione delle chiese evangeliche in Italia) finanziert wurde.

Auch 2016 galten "illegale Einreise und illegaler Aufenthalt" in Italien als Straftaten. Die Regierung hatte diese Bestimmung immer noch nicht per Erlass abgeschafft, obwohl das Parlament sie bereits im April 2014 dazu aufgefordert hatte.

Im Dezember 2016 befand der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Khlaifia u. a. gegen Italien, dass einige tunesische Migranten, die 2011 nach Italien gelangt waren, dort willkürlich festgehalten wurden und ihnen die Möglichkeit verwehrt worden sei, vor ihrer Rückführung nach Tunesien Rechtsmittel gegen ihre Inhaftierung einzulegen. Im November erhob die Staatsanwaltschaft Perugia (Umbrien) Anklage gegen sieben Polizisten, eine Friedensrichterin und drei kasachische Diplomaten wegen Straftaten im Zusammenhang mit der Entführung und rechtswidrigen Abschiebung der Ehefrau des kasachischen Oppositionspolitikers Mukhtar Ablyazov, Alma Shalabayeva, und ihrer sechsjährigen Tochter Alua Ablyazova nach Kasachstan im Mai 2013. Im Juli 2013 hatte die italienische Regierung die Ausweisung rückwirkend aufgehoben und damit eingeräumt, dass sie gegen italienisches Recht verstoßen hatte.

DISKRIMINIERUNG – ROMA

Tausende von Roma-Familien mussten weiterhin in speziellen, oft sehr abgelegenen Baracken- und Wohnwagensiedlungen leben, ohne Zugang zu Grundversorgungsleistungen. Oft herrschten dort unzumutbare Bedingungen, die weder den italienischen Bestimmungen noch den internationalen Standards für angemessenes Wohnen genügten. Hunderte von Roma-Familien wurden Opfer von Zwangsräumungen, die gegen internationales Recht verstießen.

Die 2011 beschlossene Nationale Strategie zur Integration der Roma wurde von der Regierung nach wie vor nicht umgesetzt, was den Zugang zu Wohnraum betraf. Es gab immer noch keine landesweiten Pläne, um ihre Unterbringung in speziellen Siedlungen zu beenden. Stattdessen setzten die Behörden die Planung und Errichtung neuer Siedlungen fort.

In der Gemeinde Giugliano in Campania im Großraum Neapel stellten im Februar 2016 die kommunalen und regionalen Behörden zusammen mit der Präfektur Neapel und dem Innenministerium 1,3 Mio. Euro für den Bau einer neuen Siedlung bereit, um Wohnraum für die im Lager Masseria del Pozzo lebenden Roma zu schaffen. Dieses in der Nähe von Giftmülldeponien gelegene Lager war 2013 für Roma-Familien errichtet worden, die ihre vorherige Unterkunft aufgrund rechtswidriger Zwangsräumungen verloren hatten. Nachdem ein Gericht die Umsiedlung der Bewohner von Masseria del Pozzo angeordnet hatte, ließen die Behörden das Lager mit seinen 300 Bewohnern, darunter Dutzende Minderjährige, im Juni 2016 räumen. Den Betroffenen wurde lediglich angeboten, sie zu einer abgelegenen ehemaligen Fabrik für Feuerwerkskörper zu bringen, in der es weder funktionierende Toiletten noch Stromversorgung gab und der Zugang zu fließendem Wasser extrem begrenzt war. Ende 2016 lebten die Menschen immer noch in der Fabrik unter völlig unzulänglichen Bedingungen.

Im Dezember 2016 äußerte sich der UN-Ausschuss für die Beseitigung rassistischer Diskriminierung besorgt darüber, dass Roma nach wie vor rechtswidrige Zwangsräumungen befürchten mussten, in speziellen, eigens für sie geschaffenen Siedlungen untergebracht wurden und beim Zugang zu Sozialwohnungen und anderen Sozialleistungen, die Wohnraum betrafen, diskriminiert wurden.

RECHTE VON LESBEN, SCHWULEN, BISEXUELLEN, TRANSGESCHLECHTLICHEN UND INTERSEXUELLEN

Im Mai 2016 verabschiedete das Parlament das Gesetz Nr. 76/2016, das die eingetragene Partnerschaft für homosexuelle Paare einführte, einen Rechtsrahmen für heterosexuelle Paare ohne Trauschein schuf und diese Partnerschaften rechtlich weitgehend Ehen gleichstellte. Die Stiefkind-Adoption, also die Möglichkeit, dass homosexuelle Partner die leiblichen Kinder ihrer Lebensgefährten adoptieren, wurde in dem Gesetz allerdings ausgeklammert.

FOLTER UND ANDERE MISSHANDLUNGEN

Im März 2016 nahm die nationale Ombudsstelle ihre Tätigkeit auf, deren Aufgabe darin besteht, die Haftbedingungen zu überwachen und Folter und andere Misshandlungen zu verhindern. Sie ist auch für die Überwachung von Abschiebeflügen zuständig.

Das Parlament versäumte es 2016 erneut, Folter als Straftatbestand in das Strafgesetzbuch aufzunehmen, wie im UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe gefordert, obwohl Italien diese Konvention bereits 1989 ratifiziert hat.

Auch konnten sich Parlament und Regierung nicht darauf verständigen, Identifizierungsmerkmale an Polizeiuniformen einzuführen, die es möglich machen würden, die Verantwortlichen für Übergriffe zu ermitteln.

TODESFÄLLE IN GEWAHRSAM

Im Juli 2016 wurden fünf Ärzte, die im Zusammenhang mit dem Tod von Stefano Cucchi wegen Totschlags angeklagt waren, in einem vom Obersten Gerichtshof angeordneten Revisionsverfahren freigesprochen. Stefano Cucchi war 2009 eine Woche nach seiner Einlieferung in die Häftlingsabteilung eines römischen Krankenhauses gestorben. Ein zweites Ermittlungsverfahren gegen Polizisten, die an seiner Festnahme beteiligt waren, ging dem Verdacht nach, sein Tod sei durch Schläge verursacht worden, die er in Polizeigewahrsam erlitten hatte.

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