Amnesty Report Kirgisistan 07. Juni 2016

Kirgisistan 2016

 

Es gab 2015 weiterhin keine unparteiischen und effektiven Ermittlungen zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit und anderen Menschenrechtsverletzungen, die während der gewaltsamen Auseinandersetzungen im Juni 2010 und danach verübt wurden. Die Behörden ergriffen keine wirksamen Maßnahmen, um Folter und andere Misshandlungen zu beenden und die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Angesichts einer zunehmenden Intoleranz gegenüber ethnischen, sexuellen und anderen Minderheiten wurden die Handlungsspielräume der Zivilgesellschaft immer enger. Es wurden Gesetzentwürfe ins Parlament eingebracht, die auf Einschränkungen der Rechte auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit abzielten. Sie wurden später wegen "Beratungsbedarfs" zurückgezogen. Der gewaltlose politische Gefangene Azimjan Askarov war weiterhin in Haft. Angehörige der Sicherheitskräfte durchsuchten die Wohnungen seiner Rechtsanwälte und Räume einer NGO, die sich für ihn und andere ethnische Usbeken einsetzte.

Folter und andere Misshandlungen

Folter und andere Misshandlungen waren 2015 weiterhin an der Tagesordnung, und die Täter wurden nach wie vor nicht strafrechtlich verfolgt. Dabei war Ende 2014 im Rahmen des Nationalen Präventionsmechanismus zum Schutz vor Folter ein Programm zur Überprüfung von Hafteinrichtungen eingeführt worden. Außerdem veröffentlichte das Gesundheitsministerium Leitlinien für medizinische Fachkräfte zur Dokumentation von Folter, die sich am UN-Handbuch für die wirksame Untersuchung und Dokumentation von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (Istanbul-Protokoll) orientierten.

Am 16. April 2015 fällte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein Urteil im Verfahren Khamrakulov gegen Russland. Darin stellte er fest, dass asylsuchende ethnische Usbeken, die von Russland nach Kirgisistan ausgeliefert würden, dort Gefahr liefen, Folter und anderen Misshandlungen ausgesetzt zu sein.

Kirgisistan akzeptierte im Juni 2015 Empfehlungen des UN-Menschenrechtsrats, der im Zuge der Allgemeinen Regelmäßigen Überprüfung des Landes auf eine stärkere Bekämpfung von Folter und anderen Misshandlungen gedrängt hatte. Das Gremium empfahl, die Foltervorwürfe zu untersuchen, die vor allem von Angehörigen ethnischer Minderheiten im Zusammenhang mit den gewaltsamen Auseinandersetzungen im Juni 2010 erhoben worden waren. Außerdem müsse das Nationale Zentrum zur Verhütung von Folter mit den notwendigen Mitteln ausgestattet und seine Unabhängigkeit gewährleistet werden.

Straflosigkeit

Foltervorwürfe und Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt zogen nur selten wirksame Ermittlungen nach sich, noch geringer war die Zahl der Fälle, in denen es zu einer strafrechtlichen Verfolgung der Täter kam.

Im ersten Halbjahr 2015 dokumentierte die NGO Koalition gegen Folter in Kirgisistan 79 Fälle von Folter und anderen Misshandlungen. Im Juni bildete die Generalstaatsanwaltschaft eine Sonderermittlungseinheit, die strafrechtliche Ermittlungen in drei Folterfällen einleitete. Bis Oktober lagen den Gerichten 35 Strafsachen zur Begutachtung vor, die mehr als 80 Angehörige der Ordnungskräfte betrafen, denen Folter vorgeworfen wurde. Bislang befanden die Gerichte jedoch nur in vier Fällen Angeklagte für schuldig; diese Urteilssprüche gehen in das Jahr 2011 zurück.

Die Behörden unternahmen 2015 keine ernsthaften Anstrengungen, um die ethnisch motivierten Auseinandersetzungen im Juni 2010 in Osch und Dschalalabat wirksam zu untersuchen. Dabei hatten sowohl ethnische Kirgisen als auch ethnische Usbeken schwere Straftaten begangen, auf usbekischer Seite waren jedoch mehr Tote und Verletzte und größere Schäden zu verzeichnen. Seither wurden ethnische Usbeken unverhältnismäßig oft Opfer von Verfolgung. Der UN-Menschenrechtsrat empfahl im Zuge der Allgemeinen Regelmäßigen Überprüfung, die Polizei und die Sicherheitskräfte stärker für alle Bevölkerungsgruppen zu öffnen und umfassende Antidiskriminierungsgesetze zu verabschieden. Diese Empfehlung wurde von Kirgisistan jedoch zurückgewiesen. Rechtsanwälte, die im Zusammenhang mit den Ereignissen inhaftierte ethnische Usbeken verteidigten, wurden weiterhin aufgrund ihrer Arbeit schikaniert.

Am 21. Mai 2015 sprach das Bezirksgericht Sokuluk drei Gerichtsdiener eines örtlichen Gerichts in der Region Talas schuldig, im Dezember 2013 gemeinsam Kalia Arabekova vergewaltigt zu haben, und verurteilte sie zu je acht Jahren Haft. Obwohl Kalia Arabekova mehrfach darauf hinwies, dass sie bedroht werde, lehnte die Richterin es ab, die Männer bis zu deren Berufungsverhandlung zu inhaftieren. In der Nacht des 21. Juli wurde Kalia Arabekova in ihrer Wohnung von zwei maskierten Männern überfallen, bedroht und vergewaltigt. In einem der beiden erkannte sie einen der ursprünglichen Täter.

Gewaltlose politische Gefangene

Azimjan Askarov, ein ethnisch usbekischer Menschenrechtsverteidiger und gewaltloser politischer Gefangener, der wegen angeblicher Teilnahme an ethnisch motivierten Zusammenstößen im Jahr 2010 zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, blieb weiterhin im Gefängnis. Im Juli 2015 verlieh das US-Außenministerium Azimjan Askarov den Preis für Menschenrechtsverteidiger (Human Rights Defenders Award) und löste damit wütende Reaktionen hochrangiger kirgisischer Politiker aus. Der Präsident verurteilte die Auszeichnung und sprach von einer Provokation, die den Separatismus befeuere; die Regierung hob ein Kooperationsabkommen mit den USA aus dem Jahr 1993 auf.

Rechte auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit

Das gesellschaftliche Klima war von wachsender Intoleranz geprägt, und die Diskriminierung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgeschlechtlichen und Intersexuellen nahm zu. Vor diesem Hintergrund stimmte eine überwältigende Mehrheit der Parlamentsabgeordneten im Juni 2015 in zweiter Lesung für einen homophoben Gesetzentwurf, der 2014 eingebracht worden war. Er sieht Änderungen des Strafgesetzbuchs sowie anderer Gesetze vor und hat zum Ziel, "eine positive Einstellung" gegenüber "nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen" unter Strafe zu stellen. Die vorgesehenen Strafen reichen von Geldbußen bis zu einjähriger Haft. Bevor der Gesetzentwurf in dritter und letzter Lesung endgültig beschlossen werden konnte, wurde er wegen "Beratungsbedarfs" zurückgezogen. Es wurde jedoch erwartet, dass er dem Parlament erneut zur Abstimmung vorgelegt werden würde.

Menschenrechtsverteidiger und andere engagierte Bürger sahen sich bei ihrer Arbeit vermehrt Schikanen und zunehmendem Druck seitens der Behörden ausgesetzt und beklagten ein wachsendes Klima der Unsicherheit.

Dem Parlament wurde 2015 erneut ein Gesetzentwurf vorgelegt, der NGOs, die Geld aus dem Ausland erhalten und nicht näher definierten "politischen Aktivitäten" nachgehen, verpflichten würde, sich als "ausländische Agenten" registrieren zu lassen und diese stigmatisierende Bezeichnung in der Öffentlichkeit zu führen. Der Präsident und führende Politiker sprachen sich entschieden für die Initiative aus, die sich an einem Gesetz orientiert, das 2012 in Russland verabschiedet wurde. Der Gesetz-entwurf wurde zwar im Juni wegen "Beratungsbedarfs" zurückgezogen, doch war damit zu rechnen, dass er erneut ins Parlament eingebracht und zur Abstimmung kommen würde.

Am 27. März 2015 durchsuchten Angehörige des Geheimdienstes (GKNB) in Osch das Büro der Menschenrechtsorganisation Bir Dino ("Eine Welt") und die Wohnungen der Rechtsanwälte Valerian Vakhitov und Khusanbai Saliev, die für die Organisation arbeiten. Die Beamten beschlagnahmten Dokumente zu Fällen, an denen die Rechtsanwälte arbeiteten, Computer und digitale Speichermedien. Valerian Vakhitov und Khusanbai Saliev legten Beschwerde gegen die Durchsuchung und den Durchsuchungsbeschluss des örtlichen Gerichts ein. Am 30. April befasste sich das Bezirksgericht Osch mit dem Fall und am 24. Juni der Oberste Gerichtshof. Beide entschieden, die Durchsuchungen stellten rechtswidrige Eingriffe in die Arbeit der Rechtsanwälte dar. Bir Duino gewährte u. a. ethnischen Usbeken Rechtshilfe, die nach den gewaltsamen Auseinandersetzungen im Juni 2010 in Osch von Strafverfolgung bedroht waren, darunter auch Azimjan Askarov.

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