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Libyen 2015
- Hintergrund
- Interner bewaffneter Konflikt
- Rechtswidrige Tötungen
- Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit
- Justizwesen
- Straflosigkeit
- Frauenrechte
- Rechte von Flüchtlingen und Migranten
- Diskriminierung von religiösen und ethnischen Minderheiten
- Todesstrafe
- Amnesty International: Bericht
Milizen und andere bewaffnete Kräfte begingen möglicherweise Kriegsverbrechen, andere schwerwiegende Verletzungen des humanitären Völkerrechts und Menschenrechtsverstöße. Sie beschossen Wohngebiete in Bengasi, Tripolis, Warschafana, Zawiya, dem Nafusa-Gebirge und in anderen Gegenden wahllos mit Mörsergranaten.
Dabei töteten oder verletzten sie Hunderte Zivilpersonen und zerstörten oder beschädigten zivile Gebäude und Einrichtungen. Das Milizenbündnis "Libysche Morgenröte", Sintan-Brigaden und Warschafana-Milizen entführten Zivilpersonen aufgrund ihrer Herkunft oder politischen Zugehörigkeit, folterten und misshandelten Häftlinge und richteten in einigen Fällen gefangen genommene Kämpfer summarisch hin.
Islamistische Kräfte mit Verbindungen zum Revolutionären Rat (Shura) von Bengasi entführten ebenfalls Zivilpersonen und richteten zahlreiche gefangen genommene Soldaten in Schnellverfahren hin. Bewaffnete Kräfte, die sich zur Operation "Würde" zusammenschlossen, flogen mit Unterstützung der in Tobruk ansässigen Übergangsregierung Luftangriffe auf Wohngebiete und beschädigten dabei zivile Gebäude und töteten Zivilpersonen.
Sie folterten und misshandelten gefangen genommene Zivilpersonen und Kämpfer und führten einige summarische Hinrichtungen durch. Politisch motivierte Tötungen waren an der Tagesordnung und wurden strafrechtlich nicht geahndet. Hunderte Angehörige der Sicherheitskräfte, Staatsbedienstete, Religionsführer, Aktivisten, Richter, Journalisten und Menschenrechtsverteidiger wurden ermordet.
37 Personen, die während der Regierungszeit von Mu’ammar al-Gaddafi hochrangige Posten bekleidet hatten, wurden vor Gericht gestellt. Es gab jedoch erhebliche Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens. Folter war nach wie vor weit verbreitet. Journalisten wurden aufgrund ihrer Berichterstattung ins Visier genommen, und ausländische Staatsangehörige mussten zunehmend Angriffe befürchten. Die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen wurden weiterhin nicht zur Rechenschaft gezogen. Dies galt auch für Verbrechen, die in den zurückliegenden Jahrzehnten begangen wurden.
Hintergrund
Die politische Spaltung des Landes setzte sich 2014 über Monate hinweg fort, und es kam weiterhin zu Auseinandersetzungen über die Rechtmäßigkeit und das Mandat des Allgemeinen Nationalkongresses, Libyens erstem gewählten Parlament nach dem Sturz des Gaddafi-Regimes. Das Land versank endgültig im Chaos, als es in Bengasi, Derna, Tripolis, Warschafana, dem Nafusa-Gebirge und in anderen Gebieten zu bewaffneten Kämpfen zwischen rivalisierenden politischen und ideologischen Lagern, Regionen und Stämmen kam.
Einen Höhepunkt erreichten die politischen Spannungen im Februar 2014 anlässlich der Wahl zu einer Verfassunggebenden Versammlung. Die Wahl war überschattet von Gewalt und wurde von einigen ethnischen Minderheiten boykottiert. Außerdem standen nur sehr wenige Frauen zur Wahl. Ende 2014 hatte die Verfassunggebende Versammlung ihre vorläufigen Empfehlungen veröffentlicht und einen öffentlichen Konsultationsprozess eingeleitet.
Im Mai 2014 startete der ehemalige Armeegeneral Khalifa Haftar in Bengasi die Operation "Würde" mit dem erklärten Ziel, den Terrorismus zu bekämpfen. Die Militäroffensive richtete sich gegen eine Koalition aus Ansar al-Sharia (Anhänger der Scharia) und anderen islamistischen bewaffneten Gruppen, die sich später in Revolutionärer Rat (Shura) von Bengasi umbenannten. Auf offizieller Ebene stieß die Operation "Würde", die sich später auf die Stadt Derna ausweitete, zunächst auf Ablehnung.
Im Juni wurde ein Repräsentantenhaus gewählt, das den Allgemeinen Nationalkongress ersetzen sollte. Die Wahl war ebenfalls von Gewalt überschattet, erreichte nur eine geringe Wahlbeteiligung und brachte den islamistischen Kräften eine Niederlage ein. Die neue Regierung, die in der Folge die Amtsgeschäfte übernahm, unterstützte die Operation "Würde".
Im Juli 2014 startete das Milizenbündnis "Libysche Morgenröte" eine Militäroffensive, die angeblich der Verteidigung der "Revolution vom 17. Februar" dienen sollte. Sie umfasste vor allem Milizen aus Misrata, Zawiya und Tripolis und richtete sich gegen rivalisierende Milizen aus Sintan und Warschafana. Letztere standen den liberalen und föderalistischen Parteien nahe, die das Repräsentantenhaus dominierten und denen vorgeworfen wurde, mit der Operation "Würde" eine Gegenrevolution einzuleiten. Im August wurde das Repräsentantenhaus aus Sicherheitsgründen von Tripolis nach Tobruk verlegt.
30 Parlamentsabgeordnete boykottierten den Umzug. Das Repräsentantenhaus erkannte die Operation "Würde" als legitimen Militäreinsatz unter der Führung der libyschen Armee an, erklärte die Milizen der "Libyschen Morgenröte" und Ansar al-Sharia zu terroristischen Gruppen und forderte das Ausland zum Eingreifen auf, um Zivilpersonen und staatliche Einrichtungen zu schützen. Berichten zufolge flogen Kampfflugzeuge der Vereinigten Arabischen Emirate von ägyptischen Stützpunkten aus Luftangriffe auf Milizen der "Libyschen Morgenröte", denen es jedoch gelang, am 23. August 2014 den Internationalen Flughafen von Tripolis einzunehmen.
Die bewaffneten Kräfte der "Libyschen Morgenröte" vertrieben die Sintan-Brigaden aus der Hauptstadt und brachten staatliche Einrichtungen unter ihre Kontrolle. Aufgrund der Kampfhandlungen wurde die Lage immer unsicherer. Nach Angriffen auf Diplomaten und Mitarbeiter internationaler Organisationen stellten ausländische Botschaften, internationale Organisationen und die Vereinten Nationen, deren Unterstützungsmission in Libyen (United Nations Support Mission in Libya – UNSMIL) im März 2014 vom UN-Sicherheitsrat verlängert worden war, ihre Arbeit in Tripolis ein und brachten ihre Mitarbeiter in Sicherheit.
Regierungsgebäude und öffentliche Plätze wurden das ganze Jahr über bombardiert oder anderweitig angegriffen.
Nachdem Milizen der "Libyschen Morgenröte" Tripolis erobert hatten, riefen sie den abgelösten Allgemeinen Nationalkongress erneut zusammen, der eine Gegenregierung "zur Rettung der Nation" unter einem neuen Ministerpräsidenten ausrief. Diese Regierung behauptete, sie habe die Kontrolle über die meisten staatlichen Einrichtungen im Westen des Landes – im Gegensatz zu der in Tobruk ansässigen Regierung.
Am 6. November 2014 erklärte der Oberste Gerichtshof die Wahlen zum Abgeordnetenhaus für ungültig. Die in Tobruk ansässige Regierung, die von den Vereinten Nationen und dem überwiegenden Teil der internationalen Gemeinschaft anerkannt worden war, wies dieses Urteil zurück und erklärte, die Richter seien von bewaffneten Kräften der "Libyschen Morgenröte" bedroht worden. Es gab weiterhin bewaffnete Zusammenstöße zwischen rivalisierenden Stämmen in Sabha und Obari im Südwesten Libyens. Diese führten zu einer Verschlechterung der humanitären Lage.
Bewaffnete islamistische Gruppen kontrollierten die im Osten gelegene Stadt Derna. Sie setzten dort eine strenge Auslegung des islamischen Rechts (Scharia) durch und verübten schwere Menschenrechtsverstöße. Im Oktober erklärte die bewaffnete Gruppe Rat (Shura) der Jugend des Islam aus Derna ihre Verbundenheit mit der bewaffneten Gruppe Islamischer Staat (IS) in Syrien und im Irak.
Interner bewaffneter Konflikt
Die Konfliktparteien im Osten und Westen Libyens führten 2014 wahllose Angriffe durch, bei denen Hunderte Zivilpersonen ums Leben kamen und zivile Gebäude und Einrichtungen beschädigt wurden. Dabei wurden u.a. Krankenhäuser, Wohnungen, Moscheen, Geschäfte, landwirtschaftliche Betriebe, Kraftwerke, Flughäfen, Straßen und ein großes Treibstofflager getroffen. Bei den Angriffen kamen Artilleriegeschosse, Mörsergranaten, "Grad"-Raketen und Luftabwehrgeschütze zum Einsatz, die von Wohngebieten aus abgefeuert wurden und auf Wohngebiete zielten.
Von Einheiten der Operation "Würde" verübte Luftschläge in Bengasi, Derna, Tripolis, Zuara, Bir al-Ghanem und Misrata zielten teils auf Wohngebiete ab und führten Berichten zufolge zur Zerstörung ziviler Gebäude. Außerdem sollen Zivilpersonen verletzt und getötet worden sein. Sintan-Brigaden sollen rund um den Internationalen Flughafen von Tripolis Antipersonen-Minen eingesetzt haben.
Beim Angriff des Milizenbündnisses "Libysche Morgenröte" auf Sintan-Brigaden, die den Internationalen Flughafen von Tripolis verteidigten, wurden nach offiziellen Angaben mehrere Gebäude und Flugzeuge beschädigt. Im Dezember 2014 wurde ein großer Erdöltank im Hafen von al-Sider von einer Rakete getroffen, woraufhin dieser in Flammen aufging und etwa 1,8 Mio. Barrel Rohöl verbrannten.
Bis auf wenige Ausnahmen nahmen Milizen, Armeeeinheiten und bewaffnete Gruppen keinerlei Rücksicht auf Zivilpersonen, Gebäude und Infrastruktur und trafen keine Vorkehrungen, um Opfer in der Zivilbevölkerung und Sachschäden zu vermeiden oder wenigstens auf ein Minimum zu beschränken. Schwere Kämpfe in Wohngebieten verhinderten die medizinische Versorgung kranker Menschen. Vor allem in Warschafana und Bengasi mussten Patienten aus Krankenhäusern evakuiert werden. Im ganzen Land kam es zu Engpässen bei der Versorgung mit Benzin, Strom, Lebensmitteln und Medikamenten.
In Warschafana und Tripolis griffen Milizen der "Libyschen Morgenröte" Zivilpersonen aufgrund ihrer Herkunft oder politischen Haltung an, indem sie deren Häuser und Eigentum plünderten und in Brand setzten. Bewaffnete Gruppen verwehrten humanitären Hilfsorganisationen den Zutritt in die Stadt Obari und behinderten die Evakuierung von Verletzten aus der Stadt Kikla.
Nach Schätzungen des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) wurden von Mitte Mai bis Mitte November 2014 fast 395000 Menschen aufgrund der Kämpfe zu Flüchtlingen im eigenen Land. Die Einwohner der Stadt Tawargha, die seit 2011 auf der Flucht waren, wurden erneut vertrieben und von Milizen angegriffen. Viele suchten in städtischen Parkanlagen und Parkhäusern Zuflucht.
Bewaffnete Kräfte aller Konfliktparteien verschleppten Menschen als Vergeltungsmaßnahme und hielten Zivilpersonen lediglich aufgrund ihrer Herkunft oder vermeintlichen politischen Zugehörigkeit fest – oft als Geiseln, um einen Gefangenenaustausch zu erreichen. Sowohl die Milizen der "Libyschen Morgenröte" als auch bewaffnete Gruppen mit Verbindungen zur Sintan-Warschafana-Koalition folterten und misshandelten gefangen genommene Kämpfer und Zivilpersonen, die sie entführt hatten. Dabei setzten sie Elektroschocks ein, zwangen die Inhaftierten, in schmerzhaften Positionen zu verharren, und verweigerten ihnen Nahrung, Wasser und angemessene Waschgelegenheiten.
Alle Konfliktparteien richteten gefangen genommene Kämpfer in Schnellverfahren hin. In Bengasi kam es zu Entführungen von Zivilpersonen und summarischen Hinrichtungen wie z.B. Enthauptungen gefangener Soldaten und mutmaßlicher Sympathisanten der Operation "Würde" durch Kämpfer, die dem Revolutionären Rat von Bengasi nahestanden. Der Operation "Würde" nahestehende Gruppen verbrannten und zerstörten unzählige Häuser und anderes Eigentum mutmaßlicher Islamisten und von aufgrund ihrer politischen Haltung inhaftierten Zivilpersonen. Sie waren für Folter und andere Misshandlungen verantwortlich und führten summarische Hinrichtungen durch.
Rechtswidrige Tötungen
Hunderte Personen, darunter Angehörige der Sicherheitskräfte, Staatsbedienstete, Religionsführer, Aktivisten, Journalisten, Richter und Staatsanwälte wurden 2014 in Bengasi, Derna und Sirte Opfer politisch motivierter Anschläge, die dem Vernehmen nach von bewaffneten islamistischen Gruppen verübt wurden. Kein Verantwortlicher wurde dafür zur Rechenschaft gezogen. Im Juni erschossen Unbekannte in Sirte einen Mitarbeiter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz.
Im Juni 2014 wurde die Menschenrechtsanwältin und Aktivistin Salwa Bughaighis in ihrer Wohnung erschossen. Zuvor hatte sie in einem Interview gesagt, bewaffnete Gruppen würden die Parlamentswahlen untergraben. Im Juli töteten Unbekannte in der Stadt Derna die ehemalige Abgeordnete des Nationalkongresses Fariha Barkawi. Der 19. September 2014 wurde als "Schwarzer Freitag" bekannt, weil Unbekannte mindestens zehn Menschen töteten, darunter zwei jugendliche Aktivisten.
Die bewaffnete Gruppe Rat (Shura) der Jugend des Islam, die Derna kontrollierte, setzte dort einen Islamischen Gerichtshof ein. Die Gruppe war für zwei Tötungen verantwortlich, die einer öffentlichen Hinrichtung glichen, und nahm öffentliche Auspeitschungen vor. Im August wurde ein Ägypter, dem man Diebstahl und Mord zur Last gelegt hatte, in einem Sportstadion in Derna erschossen. Im November wurden drei entführte Aktivisten in Derna enthauptet. Dem Vernehmen nach war eine bewaffnete islamistische Gruppe dafür verantwortlich. Im Dezember 2014 veröffentlichte der Islamische Gerichtshof eine Warnung an alle aktiven und ehemaligen Mitarbeiter des Innen-, des Justiz- und des Verteidigungsministeriums.
Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit
Der Allgemeine Nationalkongress schränkte die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit empfindlich ein. Das im Januar 2014 verabschiedete Dekret 5/2014 verbot Satelliten-Fernsehsendern die Ausstrahlung von Meinungsäußerungen, die sich "gegen die Revolution vom 17. Februar richten". Das Dekret 13/2014 ermächtigte die Behörden, die Zahlung von Stipendien an Studierende und von Gehältern an Staatsbedienstete im Ausland einzustellen, wenn die Betroffenen sich an "Handlungen beteiligten, die der Revolution vom 17. Februar schaden können".
Mit Gesetz 5/2014 wurde der Paragraph 195 des Strafgesetzbuchs abgeändert. Seit der Reform macht sich strafbar, wer Staatsbedienstete, das Staatswappen oder die Flagge "beleidigt" oder Handlungen begeht, die als "Angriff auf die Revolution vom 17. Februar" aufgefasst werden können.
Im Januar 2014 verurteilte ein Gericht einen Ingenieur zu drei Jahren Gefängnis, weil er sich im Juni 2011 in London an einer Protestaktion gegen das Eingreifen der NATO in den libyschen Konflikt beteiligt hatte und weil er falsche Informationen über Libyen verbreitet haben soll.
Im November wurde der Zeitungsredakteur Amara al-Khattabi wegen Beleidigung von Staatsbediensteten zu fünf Jahren Gefängnis und einer hohen Geldstrafe verurteilt. Er erhielt ein Berufsverbot, und für die Dauer seiner Haft wurden ihm die bürgerlichen Rechte aberkannt.
Die Milizen verstärkten ihre Angriffe auf die Medien. Zahlreiche Journalisten wurden Opfer von Entführungen, tätlichen Angriffen, Misshandlungen, willkürlichen Inhaftierungen, Drohungen und Mordanschlägen. Mindestens vier Journalisten wurden getötet, darunter der Zeitungsredakteur Muftah Abu Zeid. Er wurde im Mai in Bengasi von unbekannten Tätern erschossen. Im August zerstörten bewaffnete Kräfte der "Libyschen Morgenröte" die Gebäude der Fernsehsender Al-Assema und Libya International und setzten sie in Brand.
Zahlreiche Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und Aktivisten flohen wegen der Bedrohung durch die Milizen ins Ausland. Berichten zufolge durchsuchten bewaffnete Kräfte der "Libyschen Morgenröte" im September 2014 die Büros der Nationalen Menschenrechtskommission und bemächtigten sich des Archivs, in dem Beschwerden von Einzelpersonen aufbewahrt wurden. Es bestand Anlass zur Sorge, dass den Opfern von Menschenrechtsverstößen, die sich an die Kommission gewandt hatten, Vergeltungsaktionen drohen könnten.
Im November wurde der Nationalrat für Menschen- und Bürgerrechte aufgelöst. Mitglieder des Gremiums waren dem Vernehmen nach von der "Libyschen Morgenröte" eingeschüchtert worden.
Justizwesen
Das Justizwesen war 2014 weiterhin durch Gewalt und Rechtlosigkeit lahmgelegt, was dazu führte, dass Menschenrechtsverstößen kaum nachgegangen wurde. Im März stellten Gerichte in Derna, Bengasi und Sirte ihre Arbeit vorübergehend ein, nachdem Richter und Staatsanwälte bedroht und tätlich angegriffen worden waren. Das Justizministerium übte lediglich eine formale Kontrolle über viele der Haftzentren aus, in denen mutmaßliche Anhänger von Mu’ammar al-Gaddafi festgehalten wurden.
Laut dem Gesetz zur Übergangsjustiz sollten Personen, die im Zusammenhang mit den Ereignissen im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, innerhalb einer bestimmten Frist angeklagt oder freigelassen werden. Obwohl der Allgemeine Nationalkongress diese Frist bis zum 2. April 2014 verlängert hatte, wurde sie nicht eingehalten. Bis März 2014 waren lediglich 10% der 6200 Häftlinge, die in Gefängnissen des Justizministeriums einsaßen, vor Gericht gestellt worden. Hunderte Menschen waren weiterhin ohne Anklageerhebung oder Gerichtsverfahren unter miserablen Bedingungen inhaftiert. Anordnungen, Häftlinge freizulassen, wurden auf Druck der Milizen oft nicht befolgt.
Aufgrund der bewaffneten Auseinandersetzungen verzögerte sich die Bearbeitung von Fällen mutmaßlicher Gaddafi-Anhänger, die seit 2011 inhaftiert waren. Granatenbeschuss verhinderte den Transport von Angeklagten vom Gefängnis zum Gericht. In mehreren Städten durften Angehörige Häftlinge zeitweise nicht besuchen. Dies bot Anlass zur Sorge, die Inhaftierten könnten gefoltert oder misshandelt werden.
Im März 2014 begann der Prozess gegen 37 Personen, die während der Regierungszeit Mu’ammar al-Gaddafis hochrangige Posten bekleidet hatten. Es gab schwerwiegende Bedenken im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit des Verfahrens, da die Verteidiger keinen vollständigen Zugang zu Beweismitteln erhielten, nicht genügend Zeit zur Vorbereitung hatten und eingeschüchtert wurden.
Der Hauptangeklagte Saif al-Islam al-Gaddafi, einer der Söhne Mu’ammar al-Gaddafis, wohnte dem Verfahren per Videoübertragung bei, da er von Milizen in Sintan in Gewahrsam gehalten wurde. Es bestanden somit Zweifel, ob das Gericht seiner überhaupt habhaft werden konnte. Der Prozess fand im al-Hadba-Gefängnis in Tripolis statt. Die zuständigen Behörden verwehrten einigen unabhängigen Prozessbeobachtern den Zutritt, darunter Amnesty International.
Im libyschen Fernsehen wurde die Videoaufzeichnung eines "Geständnisses" von Saadi al-Gaddafi, einem weiteren Sohn Mu’ammar al-Gaddafis, ausgestrahlt. Er saß im al-Hadba-Gefängnis ein, nachdem Niger ihn an Libyen ausgeliefert hatte. Die Behörden verhörten Saadi al-Gaddafi, ohne dass er Zugang zu einem Rechtsbeistand hatte. Vertreter von UNSMIL, Amnesty International und anderen Organisationen wurden daran gehindert, den Angeklagten zu besuchen, obwohl die Staatsanwaltschaft die Besuche genehmigt hatte.
In Zawiya, einer Stadt westlich von Tripolis, waren zahlreiche Anhänger Gaddafis bis zu 18 Monate über den Zeitpunkt hinaus inhaftiert, zu dem sie hätten freigelassen werden müssen. Der Grund hierfür lag darin, dass die Zeit, die sie in willkürlicher Haft von Milizen verbracht hatten, im Urteil nicht berücksichtigt worden war. Folter und andere Misshandlungen waren sowohl in staatlichen Gefängnissen als auch in Hafteinrichtungen der Milizen an der Tagesordnung. Es gab weiterhin Berichte über Todesfälle in Gewahrsam, die durch Folter bedingt waren.
Straflosigkeit
Die Behörden unternahmen keine größeren Anstrengungen, um mutmaßliche Kriegsverbrechen und schwerwiegende Menschenrechtsverstöße, die während des bewaffneten Konflikts 2011 verübt worden waren, zu untersuchen. Auch Menschenrechtsverletzungen aus der Regierungszeit Mu’ammar al-Gaddafis, wie z.B. die Tötung von mehr als 1200 Häftlingen im Abu-Salim-Gefängnis im Jahr 1996, wurden weiterhin nicht aufgearbeitet.
Den Behörden gelang es nicht, sicherzustellen, dass die Milizen Saif al-Islam al-Gaddafi an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGh) in Den Haag auszuliefern, vor dem er sich wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten sollte. Im Mai 2014 bestätigte die Berufungskammer des IStGh, dass Libyen rechtlich verpflichtet sei, Saif al-Islam al-Gaddafi an den IStGh zu überstellen.
Im Fall des ehemaligen Geheimdienstchefs Abdallah al-Senussi, dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen werden, entschied die IStGh-Berufungskammer im Juli, das Verfahren gegen ihn könne auch in Libyen stattfinden. Doch bestanden weiterhin schwerwiegende Bedenken, ob Abdallah al-Senussi in Libyen ein faires Gerichtsverfahren erhalten würde, einschließlich des Zugangs zu einem Rechtsbeistand seiner Wahl.
Die Chefanklägerin des IStGh eröffnete ein zweites Verfahren und begann mit dem Sammeln von Beweismaterial gegen Verdächtige, die im Ausland leben. Dies geschah auf Grundlage einer Übereinkunft mit der libyschen Regierung aus dem Jahr 2013 bezüglich der strafrechtlichen Verfolgung von Personen, die während der Regierungszeit von Mu’ammar al-Gaddafi hochrangige Posten innehatten.
Im November 2014 äußerte sich die Chefanklägerin besorgt darüber, dass in Libyen "Verbrechen verübt werden, die in die Zuständigkeit des IStGh fallen". Sie leitete jedoch keine Ermittlungen zu den Verbrechen ein, die von Milizen begangen wurden.
Die im August 2014 vom UN-Sicherheitsrat verabschiedete Resolution 2174 weitete die Sanktionen gegen bestimmte Personen und Institutionen in Libyen aus. Sie gelten nun auch für diejenigen, die für Verletzungen internationaler Menschenrechtsnormen und des humanitären Völkerrechts sowie für Menschenrechtsverstöße verantwortlich sind, indem sie diese "planten, leiteten oder verübten".
Frauenrechte
Frauen wurden nach wie vor durch die Gesetzgebung sowie im täglichen Leben diskriminiert und waren nur unzureichend gegen geschlechtsspezifische Gewalt geschützt. Berichte über sexuelle Belästigungen nahmen 2014 zu. Es wurde ein Dekret erlassen, das für die Opfer sexueller Gewalt durch Staatsbedienstete unter der Regierung von Mu’ammar al-Gaddafi und während des bewaffneten Konflikts im Jahr 2011 Entschädigungszahlungen vorsah. Es wurde jedoch so gut wie nicht umgesetzt.
Kandidatinnen für die Verfassunggebende Versammlung stießen bei der Durchführung ihres Wahlkampfs und bei der Eintragung in die Wahllisten auf Schwierigkeiten.
Menschenrechtsaktivistinnen wurden eingeschüchtert und in einigen Fällen von Milizen tätlich angegriffen. Unverschleierte Frauen liefen Gefahr, an Kontrollpunkten angehalten, belästigt und bedroht zu werden. In der Gegend von Sabha wurden Berichten zufolge mehrere Frauen von männlichen Verwandten aus Gründen der "Familienehre" getötet.
Rechte von Flüchtlingen und Migranten
Tausende Migranten ohne Einreisedokumente, Asylsuchende und Flüchtlinge wurden 2014 auf unbestimmte Zeit wegen Verstößen gegen die Einreisebestimmungen inhaftiert. Sie waren zuvor entweder auf See abgefangen oder bei Personenkontrollen festgenommen worden.
Sowohl in den Haftzentren, die dem Innenministerium unterstanden, als auch in denen, die von Milizen geführt wurden, liefen sie Gefahr, aufgrund ihrer Religion oder aus anderen Gründen gefoltert und anderweitig misshandelt zu werden. Viele hatten Zwangsarbeit zu leisten. Frauen mussten zudringliche Leibesvisitationen durch männliches Wachpersonal über sich ergehen lassen.
Ausländische Staatsangehörige, vor allem koptische Christen aus Ägypten, wurden aufgrund ihres religiösen Glaubens entführt, misshandelt und rechtswidrig getötet. Im Februar wurden sieben koptische Arbeitsmigranten aus Ägypten in Bengasi entführt und erschossen. Die Täter stammten dem Vernehmen nach aus den Reihen von Ansar al-Sharia.
Die Behörden unterzogen ausländische Staatsangehörige weiterhin einem obligatorischen Gesundheitstest, bevor sie ihnen Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen erteilten. Diejenigen, bei denen Infektionen wie Hepatitis B oder C festgestellt wurden oder die HIV-positiv waren, kamen in Abschiebehaft.
Ausländische Staatsangehörige wurden häufig entführt und misshandelt, um Lösegeld zu erpressen. Viele wurden Opfer von Menschenhandel durch Schlepper, nachdem sie ohne gültige Einreisepapiere nach Libyen gelangt waren.
Die Eskalation der Gewalt veranlasste rund 130000 Flüchtlinge und Migranten, darunter auch Flüchtlinge aus Syrien, zu dem Versuch, in nicht seetüchtigen und völlig überfüllten Fischerbooten nach Italien überzusetzen. Viele Flüchtlinge waren vor ihrer Abreise wochenlang von Schleppern in Häuser gesperrt, ausgebeutet, genötigt und misshandelt worden.
Die Schlepper zwangen Flüchtlinge aus Ländern südlich der Sahara, sich unter Deck in überhitzten Maschinenräumen ohne Wasser oder Frischluftzufuhr aufzuhalten. Etliche Flüchtlinge erstickten oder starben an Rauchvergiftungen.
Der UNHCR berichtete Mitte November 2014, in den umkämpften Gebieten Libyens würden 14000 registrierte Flüchtlinge und Asylsuchende festsitzen.
Diskriminierung von religiösen und ethnischen Minderheiten
Die Angriffe auf religiöse Heiligtümer der Sufis gingen 2014 weiter. Die Behörden boten der Gemeinschaft der Sufis keinen ausreichenden Schutz und leiteten auch keine Untersuchungen der Vorfälle ein. In Tripolis, Brak al-Shatti, Derna und Awjila wurden Gräber von Sufis zerstört. Im Juli entführten Unbekannte in Tripolis den Sufi-Imam Tarek Abbas. Er wurde im Dezember wieder freigelassen.
Libysche Atheisten und Agnostiker wurden von Milizen bedroht und unter Druck gesetzt, wenn sie sich in sozialen Netzwerken äußerten.
Die ethnischen Minderheiten der Tabu und der Tuareg hatten weiterhin Schwierigkeiten, Familienstammbücher zu erhalten. Ohne diese Dokumente hatten sie nur begrenzten Zugang zu Gesundheitsfürsorge, Bildungswesen und politischer Mitbestimmung.
Todesstrafe
Die Todesstrafe blieb weiterhin für eine Reihe von Verbrechen in Kraft, es gab jedoch keine gerichtlich angeordneten Hinrichtungen.