Amnesty Report Polen 16. April 2020

Polen 2019

Szene aus einem Gerichtssaal, eine Gruppe von Frauen sitzen auf mehreren Bänken, daneben ein Mann in Robe

Ein Gericht in Warschau untersucht am 13. Februar 2019, ob eine Gruppe von Frauen bei einer Demonstration verbal und tätlich angegriffen worden war.

Berichtszeitraum: 1. Januar bis 31. Dezember 2019

Die Regierung setzte auch 2019 politische und gesetzliche Reformen um, die die Unabhängigkeit der Justiz untergruben. Zahlreiche Richter_innen, die sich gegen die Reformen aussprachen, wurden mit Disziplinarverfahren bestraft.

Vor Gericht wurden die Rechte von friedlich Protestierenden weiterhin aufrechterhalten; dies galt auch für Personen, die zivilen Ungehorsam ausübten.

Hintergrund

Im Jahr 2019 äußerten sich öffentliche Personen, darunter auch Politiker_innen und Medienvertreter_innen, regelmäßig diskriminierend gegen Minderheiten wie z. B. Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche (LGBTI) und Personen jüdischen Glaubens. Der UN-Ausschuss für die Beseitigung von rassistischer Diskriminierung (CERD) rief die polnische Regierung im September auf, Maßnahmen gegen die extreme Armut zu ergreifen, von der viele Angehörige der Roma betroffen sind. Der Ausschuss forderte zudem, rechtswidrige Zwangsräumungen und den Abriss von Unterkünften der Roma zu beenden.

Im Januar 2019 wurde der Danziger Bürgermeister Pawel Adamowicz auf einer gemeinnützigen Veranstaltung von einem Mann angegriffen und mit einem Messer tödlich verletzt. Der Bürgermeister war bekannt für seine Unterstützung von LGBTI-Rechten und seine Offenheit gegenüber Flüchtlingen und Migrant_innen.

Der polnische Bürgerrechtsbeauftragte Adam Bodnar wurde 2019 mehrmals von Behördenvertreter_innen und den staatlichen Medien ins Visier genommen. Im Februar 2019 leitete ein staatlicher Fernsehsender rechtliche Schritte gegen ihn ein und forderte eine Entschuldigung, nachdem der Bürgerrechtsbeauftragte dem Sender mutmaßliche Hassreden gegen den Danziger Bürgermeister vorgeworfen hatte. Im Mai 2019 urteilte das Gericht, dass Adam Bodnar das Recht habe, den Fernsehsender zu kritisieren.

Die regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) gewann die Parlamentswahlen im Oktober 2019 und behielt ihre Mehrheit in der Sejm, der zweiten Parlamentskammer, verlor jedoch im Senat die Mehrheit der Sitze an die Opposition. Die PiS ist für Reformen verantwortlich, die die Unabhängigkeit der Justiz untergraben. Einige ihrer Mitglieder bedienten sich zunehmend einer minderheitsfeindlichen Rhetorik. 
 

Justizsystem

Im April 2019 leitete die Europäische Kommission wegen der neuen Disziplinarregelung für polnische Richter_innen ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen ein und richtete ein entsprechendes Aufforderungsschreiben an die Regierung. Im Oktober kam die EU-Kommission zu dem Schluss, dass die Antwort der Regierung die aufgeworfenen rechtlichen Bedenken bezüglich der Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit nicht ausräumte, und reichte Klage beim Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) ein. 

Im Juni 2019 urteilte der EuGH, dass das polnische Gesetz über das Oberste Gericht, mit dem ein Drittel der Richter_innen abgesetzt werden sollte, nicht mit EU-Recht vereinbar sei. Der EuGH hatte bereits im Dezember 2018 einstweilige Anordnungen erlassen, mit denen Polen aufgefordert wurde, das Oberste Gericht wieder in die Lage von vor dem Inkrafttreten des angefochtenen Gesetzes zu versetzen.
Ebenfalls im Juni 2019 nahm das Parlament eine Änderung des Strafgesetzbuches an. Damit wurde unter anderem die Verhängung lebenslanger Gefängnisstrafen ohne die Möglichkeit einer Haftentlassung auf Bewährung eingeführt – eine Bestrafung, die gegen die menschenrechtlichen Verpflichtungen Polens verstößt. Nachdem einige strafrechtliche Expert_innen Bedenken geäußert hatten, übergab der Präsident die Gesetzesreform dem polnischen Verfassungsgerichtshof zur Prüfung. Ende 2019 hatte das Gericht noch keine Entscheidung getroffen.

Am 5. November entschied der EuGH, dass das Gesetz, mit dem in Polen das Pensionsalter von Richter_innen an allen Gerichten herabgesetzt werden sollte und das für Männer und Frauen im Justizdienst ein jeweils unterschiedliches Ruhestandsalter festlegte, gegen das EU-Recht verstieß. In einem separaten Fall urteilte der EuGH am 19. November, dass die neue Disziplinarkammer des Obersten Gerichts, deren Angehörige durch den neuen Justizrat gewählt werden, dem Kriterium der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gerecht werden müsse. Laut EuGH sei es nun am Obersten Gericht in Polen, zu klären, ob die Disziplinarkammer als unabhängig zu betrachten sei.
In zwei Fällen richtete der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Anfrage an die polnische Regierung. In beiden Fällen waren polnische Richter_innen der Ansicht, dass im Zuge der Justizreform gegen ihr Recht auf ein faires Verfahren verstoßen wurde. 

Richter_innen und Staatsanwält_innen, die sich für eine unabhängige Justiz stark machten, wurden auch 2019 mit politisch motivierten Disziplinarverfahren überzogen.

Das gesamte Jahr über waren Richter_innen, die sich für die Rechtsstaatlichkeit einsetzten, Verleumdungskampagnen seitens staatlicher Medien und in den Sozialen Medien ausgesetzt. Im August 2019 deckten die Medien eine Verbindung zwischen der Kampagne, die persönliche Angriffe auf Richter_innen orchestrierte, und hochrangigen Beamt_innen des Justizministeriums auf. Infolgedessen trat der stellvertretende Justizminister Łukasz Piebiak noch im August zurück.
 

Recht auf Versammlungsfreiheit

Nach wie vor drohten Personen, die friedlich gegen die Regierung und den Nationalismus protestierten, straf- oder verwaltungsrechtliche Verfahren. In den meisten Fällen bestätigten die Gerichte jedoch die Rechte der Protestierenden auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung. So wurden beispielsweise die Anklagen gegen Protestierende fallengelassen, die über Stahlzäune kletterten, welche 2017 von der Polizei rund um das Parlament errichtet worden waren. In einigen wenigen Fällen wurden Geldstrafen gegen Demonstrierende verhängt, basierend auf einem Gesetz, das sogenannten "zyklischen Versammlungen" Priorität über Gegen- oder Spontandemonstrationen einräumt.

Im Februar 2019 ordnete ein Warschauer Richter an, die Ermittlungen im Fall von 14 Frauen wieder aufzunehmen, die angaben, dass sie im November 2017 auf dem sogenannten "Unabhängigkeitsmarsch" in Warschau bei dem Versuch, ein Banner mit dem Slogan "Stopp Faschismus" zu entrollen, verbal und tätlich angegriffen worden seien. Die Frauen hatten die ursprüngliche Entscheidung der Staatsanwaltschaft, das Verfahren einzustellen, angefochten. In separaten Verfahren hatten sie Rechtsmittel gegen die Geldstrafen eingelegt, zu denen sie wegen "Störung einer rechtmäßigen Versammlung" verurteilt worden waren. Am 24. Oktober hob ein Warschauer Bezirksgericht alle Anklagen gegen die Frauen mit der Begründung auf, sie hätten das Recht, friedlich zu protestieren und ihre Ansichten gegen Faschismus zu äußern. Am 20. Dezember 2019 entschied die Staatsanwaltschaft zum zweiten Mal, die Ermittlungen zu den Vorwürfen der Frauen einzustellen. Die Staatsanwaltschaft machte wie zuvor geltend, dass "kein öffentliches Interesse" bestehe, das weitere Ermittlungen in dem Fall rechtfertige.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Im Mai 2019 wurde die Aktivistin Elżbieta Podlesna festgenommen und mehrere Stunden lang festgehalten, weil man sie beschuldigte, "religiöse Gefühle verletzt" zu haben – ein Straftatbestand, im polnischen Recht mit bis zu zwei Jahren Haft geahndet werden kann. Die Polizei gibt an, Poster bei ihr gefunden zu haben, auf denen die Jungfrau Maria mit einem Heiligenschein in den Farben der LGBTI-Regenbogenfahne abgebildet war. Die Poster waren Ende April in der Stadt Płock im Zentrum von Polen plakatiert worden. Der Fall war Ende 2019 noch anhängig.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen

Das Warschauer Bezirksgericht verbot der Tageszeitung Gazeta Polska, weiterhin Aufkleber mit dem Slogan "LGBT-freie Zone" zu verteilen, nachdem einer der Organisatoren der Pride Parade in Lublin Anzeige erstattet hatte mit der Begründung, dass die Aufkleber ein Angriff auf die Menschenwürde seien. Ungefähr 64 Lokalkommunen in ganz Polen verabschiedeten Resolutionen, in denen sie ihren Widerstand gegenüber "LGBT-Ideologie" zum Ausdruck brachten, um "Familien [und] die Rechte von Katholiken zu verteidigen".

Im Juli 2019 fand in Białystok die erste Pride Parade statt, begleitet von LGBTI-feindlicher Rhetorik seitens der Politik und der Medien. Laut Polizeiangaben wurden etwa 1.000 Teilnehmer_innen von ungefähr 4.000 Gegendemonstrierenden angegriffen, die Feuerwerkskörper, Pflastersteine und Eier warfen, Beleidigungen riefen und einige der Teilnehmer_innen tätlich angriffen. Es wurde kritisiert, dass die Polizei die Teilnehmer_innen nicht ausreichend schützte und der Zugang zum Startpunkt des Umzugs nicht sicher genug war.
 

Antiterrormaßnahmen und Sicherheit

Im Mai 2019 wies das Oberste Verwaltungsgericht eine Beschwerde der Helsinki-Stiftung für Menschenrechte gegen die Klassifizierung von Abschiebungen als Verschlusssache – auch im Fall von Asylsuchenden – ab. Das Gericht urteilte, dass die Behörden den Zugang zu Informationen, auf denen die Entscheidung über eine Abschiebung basiert, verweigern könnten, wenn die Staatssicherheit auf dem Spiel stehe. Somit besteht die Sorge, dass in Abschiebungsfällen, in denen sich die Behörden auf die nationale Sicherheit berufen, das Recht auf verfahrensrechtliche Garantien untergraben werden könnte.

Die strafrechtliche Untersuchung zur Zusammenarbeit Polens mit der CIA und zur Existenz eines geheimen CIA-Gefängnisses auf polnischem Territorium war immer noch nicht abgeschlossen. Die Urteile, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Jahr 2015 in den Verfahren al-Nashiri und Abu Zubaydah gefällt hatte, waren noch nicht vollständig umgesetzt. Im Juni 2019 stellte das Ministerkomitee des Europarats fest, dass es in Polen an konkreten Fortschritten bei den Ermittlungen zu schweren Menschenrechtsverletzungen, darunter Folter und unbestätigte Inhaftierungen, mangele.
 

Flüchtlinge und Asylsuchende

Am Grenzübergang nach Belarus kam es 2019 weiterhin zur Zurückweisung (Push-Backs) von Asylsuchenden. Im September zeigte sich der Ausschuss für die Beseitigung von rassistischer Diskriminierung besorgt über Berichte, dass Asylsuchenden der Zugang nach Polen bzw. der Zugang zum Asylverfahren von Grenzposten verweigert worden sei.

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