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Aus den Regalen, aus dem Sinn
Immer öfter werden Bücher aus US-amerikanischen Schulbüchereien und Bibliotheken verbannt. Viele davon befassen sich mit Rassismus, LGBTI-Themen – oder stammen von nicht weißen Autor*innen.
Von Tobias Oellig
Am 6. Januar 2022 erlebten die USA mit dem Sturm auf das Kapitol das Crescendo einer gesellschaftlichen Spaltung, die Donald Trump über Jahre hinweg orchestriert hatte. Massen seiner Anhänger*innen marodierten im Kapitol und feierten ihre Zerstörungswut als Triumph über all jene, die sie verachteten: den Staat im Allgemeinen, die damalige demokratische Sprecherin des Repräsentantenhauses Nancy Pelosi im Besonderen und vor allem jene, die ihnen angeblich die Wahl "gestohlen" hatten. Die Bilanz: Mehrere getötete Menschen, verwüstete Büros und Bilder einer schwer beschädigten Demokratie, die um die Welt gingen. Ein zerrissenes Land.
An jenem Tag saß eine junge Schwarze Frau an ihrem Schreibtisch, sah die Bilder der Gewalt und ließ die Eindrücke dieses dunklen Tages in die letzten Zeilen eines Gedichts fließen. Zwei Wochen später, als Joe Biden zum Präsidenten der Vereinigten Staaten vereidigt wurde, betrat Amanda Gorman die Bühne und begegnete dem Hass, der ihrem Land so tiefe Wunden gerissen hatte, mit Poesie.
Wir treten das Erbe eines Landes
und einer Zeit an,
da ein kleines, dünnes Schwarzes Mädchen,
Nachfahrin von Sklavinnen,
Kind einer
alleinerziehenden Mutter,
davon träumen kann, Präsidentin
zu werden, und
nun hier, heute, für einen Präsidenten vorträgt.
Amanda Gorman, The Hill We Climb
Sie beschrieb Amerika als "nicht gebrochen, sondern einfach unvollendet", beschwor mit ihren Versen ein Land der Vielfalt, machte Mut und Hoffnung. Kaum fünf Minuten dauerte ihre Rezitation von "The Hill We Climb"; rund 700 Wörter, ein poetisches Angebot, die Waffen ruhen zu lassen und den ewigen American Dream gemeinsam zu erneuern. Eine hoffnungsvolle Vision.
Gedicht verboten
In Florida wurde "The Hill We Climb" kürzlich für Grundschüler*innen verboten. Eine Mutter hatte beantragt, den Gedichtband aus der Schulbibliothek zu entfernen, weil er "keinen erzieherischen Wert" habe. "Er erzeugt Verwirrung und indoktriniert Schüler", so die Beschwerde im Antrag. Gelesen hatte sie das Buch nicht, als Autorin von "The Hill We Climb" gab die Mutter irrtümlich die Talkshow-Moderatorin Oprah Winfrey an.
Amanda Gorman reagierte entsetzt; die Schulbehörde konterte, das Gedicht sei nicht verboten, der Zugang sei lediglich auf ältere Jahrgangsstufen begrenzt worden. Die Initiative "Florida Freedom to Read Project" (FFRP) kritisierte, ein Kompromiss, der den Zugang für einige Schüler*innen einschränke, sei "immer noch Zensur".
Laut dem amerikanischen Büchereiverband American Library Association (ALA) erleben die USA derzeit eine Welle von Bücherverbannungen. Seit 1990 sammelt die ALA Daten zu sogenannten "challenged books" – Büchern, deren Zensur entweder verlangt wurde oder tatsächlich erfolgte. 2022 gab es laut ALA so viele Zensurversuche in Schulen und öffentlichen Büchereien wie noch nie seit Beginn der Zählung. Mehr als 2.500 Einzeltitel wurden zensiert und damit 38 Prozent mehr als im Vorjahr. Vermutlich sind die Zahlen noch viel höher, Expert*innen gehen davon aus, dass viele Bücher stillschweigend entfernt werden.
"Letztlich sind Versuche, Bücher zu verbieten, Versuche, Autoren zum Schweigen zu bringen, die großen Mut aufgebracht haben, ihre Geschichten zu erzählen", kommentierte ALA-Präsidentin Lessa Kanani’opua Pelayo-Lozada den Trend. Auffällig sei, dass es sich bei den Zensurversuchen häufig um Werke handelt, die sich mit Geschichte, Rassismus oder Sexualität befassten. Im Fokus stünden nicht zuletzt Bücher, die LGBTI-Themen behandelten, Fragen rund um Race, Ethnie und Hautfarbe thematisierten oder von nicht weißen Autor*innen stammten.
"Moms for Liberty": Protestieren und zensieren
Der Roman "The Bluest Eye" von Nobelpreisträgerin Toni Morrison, in dem die Schwarze Hauptfigur vergewaltigt wird: aus Schulbüchereien verbannt. Die Graphic Novel "Maus" von Art Spiegelman, eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust, die den Pulitzer-Preis gewann: verboten, weil darin gezeichnete Brüste zu sehen sind. "Gender Queer" von Maia Kobabe, eine Graphic Novel, in der ein Teenager seine Geschlechteridentität sucht: verboten. "Stamped: Racism, Antiracism, and You", ein Sachbuch über die Geschichte von Rassismus und Sklaverei: verboten.
In den Zensuranträgen finden sich Stichworte wie "Gender-Ideologie-Propaganda", "transsexuelles Material", "Übernahme einer Trans-Ideologie, die einen Angriff auf Mädchen/Frauen darstellt", "sexuelles Fehlverhalten", "Drogen-/Alkoholkonsum", "LGBTQ-Inhalte", "polizeifeindlich", "rassistisch", "obszön".
"In den vergangenen 10 bis 13 Jahren sind die LGBTI-Bücher sexuell sehr anschaulich geworden", sagte Jennifer Pippin, Gründerin der rechtsgerichteten Initiative "Moms for Liberty", der Washington Post. Ihre Besorgnis sei keine Homophobie, betonte sie, es gehe ihr nur um den "sexuell expliziten" Charakter der Texte.
Adrian Daub, Professor an der Universität von Stanford, schreibt in einem Essay über Buchzensur: "Obwohl der Stein des Anstoßes oft vordergründig einfach die Erwähnung von Sex ist, handelt es sich dabei häufig um ein Feigenblatt für Unbehagen, was Fragen von Race, Ethnie und alternativer Sexualität betrifft." Neu sei das nicht: "Die Aufstellung der ALA legt zwar nahe, dass derzeit eine neue Welle der Panik und der Verbote anrollt, befeuert vom Backlash gegen Black Lives Matter und einer neuen Homophobie", so Daub. "Man muss die nachvollziehbare Angst vor solchen Zensurversuchen allerdings zusammendenken mit der Tatsache, dass solche Versuche in den USA Tradition haben und dass sie häufig vor Gericht scheitern."
Verbannung per Gesetz
Häufig aber auch nicht: Dafür sorgt zum Beispiel Ron DeSantis, Gouverneur von Florida, wo selbst in weiterführenden Schulen nicht mehr über Geschlechtsidentität gesprochen werden darf. Auch die kritische Auseinandersetzung mit systemischem Rassismus ist in den Schulen des Bundesstaats mittlerweile untersagt. De Santis macht Politik mit der Angst besorgter Eltern und hat ihnen die Macht über Bildungsfragen gegeben. Per Gesetz.
"Wir finden es wichtig, dass Bildung sich auf das Wesentliche konzertiert. Deshalb haben wir kritische Race-Theorie für alle Jahrgangsstufen verboten", so der Gouverneur. "Wir benutzen Ihre Steuergelder nicht, um Ihren Kindern beizubringen, unser Land zu hassen. Wir haben auch sichergestellt, dass Eltern die Lehrinhalte prüfen können, sodass sie wissen, was ihre Kinder lernen und Einspruch erheben können." Eine einfache und fromme Welt verspricht Ron DeSantis, Florida soll die Blaupause für das ganze Land werden, vermeintlich "Andere" haben darin keinen Platz.
Neunzig Prozent der Zensuranträge, die 2022 eingingen, kamen von organisierten Gruppen. Einige enthielten Listen mit hundert oder mehr Büchern. Die Schriftstellervereinigung PEN America hält die zunehmenden Zensurversuche für eine organisierte Kampagne – und für zutiefst undemokratisch: "Es handelt sich nicht um isolierte Anfechtungen von Eltern in verschiedenen Gemeinden, sondern um organisierte Bemühungen von Interessengruppen und staatlichen Politikern mit dem Ziel, den Zugang zu bestimmten Geschichten, Perspektiven und Informationen zu beschränken." Laut einer Analyse der Washington Post wurde ein Großteil der Zensuranträge von lediglich elf Personen gestellt.
Landesweiter Widerstand
Das Klima in diesem Kulturkampf wird immer rauer. "Viele Bibliotheksmitarbeiter*innen sind mit Drohungen konfrontiert, die ihren Arbeitsplatz oder ihre persönliche Sicherheit betreffen. In einigen Fällen wurde ihnen sogar eine strafrechtliche Verfolgung angedroht, nur weil sie Jugendlichen Bücher zur Verfügung stellen, die diese lesen wollen", berichtet Lessa Kanani’opua Pelayo-Lozada im aktuellen ALA-Report.
Doch regt sich auch Widerstand: So unterzeichnete der Gouverneur von Illinois, Jay Pritzker, kürzlich ein Gesetz, das öffentlichen Büchereien Zensur aufgrund "parteipolitischer oder dogmatischer" Vorbehalte untersagt. Bei Verstößen droht der Entzug staatlicher Mittel. In Missouri verklagten Schüler*innen die Behörde, die die Biografie des queeren Schwarzen Aktivisten George M. Johnson "All Boys Aren’t Blue" aus allen Schulbibliotheken entfernen ließ. Es ist eines der am häufigsten verbotenen Bücher in den USA. An der New Yorker Brooklyn Library starteten Bibliothekar*innen die Initiative "Books Unbanned", die es Kindern und Jugendlichen landesweit ermöglicht, verbotene Titel kostenlos als E-Books lesen zu können.
Der Verlag von Amanda Gorman hat inzwischen gemeinsam mit PEN America Klage gegen die Schulbehörde von Escambia County (Florida) eingereicht. "Es wird immer wieder behauptet, es gehe darum, unsere Kinder vor Ideen zu schützen, die für sie zu fortgeschritten sind", kommentierte Amanda Gorman die Klage. "Aber wenn man sich die Mehrheit der Bücher ansieht, die tatsächlich verboten wurden, geht es eher darum, ein Bücherregal zu schaffen, das nicht alle Facetten der Vielfältigkeit Amerikas abbildet. Es ist, als würde man sagen: 'Sie sind fehl am Platz, wenn Sie Afroamerikaner sind. Sie sind fehl am Platz, wenn Sie schwul sind. Sie sind fehl am Platz, wenn Sie ein Einwanderer sind."
Tobias Oellig ist freier Reporter. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.