Amnesty Journal Ungarn 30. März 2021

In allen Feindschubladen

Ein Mann mit kurzem schwarzen Haar und schwarzem Bart sitzt rittlings auf einem Stuhl und legt seine Arme über die Lehne; er trägt Jeans, T-Shirt, Hosenträger und Lederschuhe.

Im System von Viktor Orbán wird gegen viele Unliebsame gehetzt – vor allem gegen Kritikerinnen, Roma und homosexuelle Menschen. Der Soziologe Desző Máté ist alles zugleich. Sein Leben in Ungarn ist eine ständige Gratwanderung.

Von Keno Verseck

Es regnet in Strömen an diesem kalten Tag im Spätherbst. Der kleine Junge kauert frierend im Hauseingang eines Hofes, zusammen mit seiner etwas älteren Gefährtin. Sie haben Hunger. Aber bei diesem Wetter die Mülltonnen nach Essbarem zu durchsuchen, kommt nicht infrage. Die beiden sitzen da und fühlen sich verloren. Plötzlich geht im Hof ein Fenster auf. Jemand wirft ein Stück altes Brot heraus. Sofort stürzen sich einige Hunde darauf. Auch die Kinder springen auf. Sie treten die Hunde weg und ergattern das Brot. Es ist alt und angeschimmelt, hat im Dreck gelegen, und die Hunde haben es angebissen. Aber der Hunger der Kinder ist so groß, dass sie das Brot essen.

Wenn Dezső Máté heute von diesen Augenblicken erzählt, stockt er immer wieder. Die Szenen sind ihm sehr nah und kommen ihm doch unwirklich vor. Er war dieser neunjährige Junge, der auf den Straßen der südungarischen Stadt Kaposvár lebte. Die Mutter tot, der Vater irgendwo in Kneipen unterwegs. Er, der kleine Junge, verzweifelt über das Straßenleben, aber ohne eine Vorstellung davon, wie es anders werden könnte.

Heute lebt Máté in einer schön eingerichteten Wohnung. Er kleidet sich geschmackvoll. Er hat studiert und ist glücklich mit seinem Lebensgefährten verheiratet. Er hungert und friert nicht mehr. Um seine Erinnerungen nicht zu düster wirken zu lassen, sagt er im Gespräch: "Es gab auch gute Momente damals. Einmal habe ich in einer Mülltonne eine Tüte voller Schokoladen­nikoläuse gefunden. Ich war glücklich."

Máté stammt aus einer armen Roma-Familie und lebt heute in Budapest. Der 36-Jährige wuchs in den postkommunistischen Chaosjahren nach 1989 auf. Er lernte erst als Jugendlicher richtig lesen und schreiben. Als junger Mann entdeckte er seine Homosexualität. Heute ist er Soziologe und engagiert sich für die Rechte von Minderheiten. Damit zählt er in Viktor Orbáns Ungarn zu den Feinden der staatlichen Ordnung. Sein Name stand auf einer der berüchtigten Listen, mit denen eine Orbán nahe­stehende Zeitung 2018 sogenannte Heimatverräterinnen und Heimatverräter benannte: Politiker und Bürgerrechtlerinnen, Journalistinnen und Akademiker.

Die Geschichte von Máté ist einzigartig. Und doch steht sie exemplarisch für das Schicksal von Roma und Romnja sowie ­armen Menschen im postkommunistischen Ungarn, ebenso wie für das Leben nicht heterosexueller Menschen im System Orbáns. Es ist eine Geschichte, die viele Entwicklungen in Ungarn in den vergangenen Jahrzehnten auf drastische, aber auch erstaunliche Weise in einer einzigen Person bündelt.

Die Schule als sicherer Ort

Dezső Máté wurde in zerrütteten Familienverhältnissen geboren. Sein Vater hatte keinen festen Wohnsitz und führte eine Existenz als Lebemann und Kleinkrimineller, häufig saß er im Gefängnis. Seine Mutter starb, als er sechs war, nach ihrem Tod lebte er in Kaposvár jahrelang auf der Straße, während Ungarn eine katastrophale Wirtschaftskrise erlebte. Hunderttausende wurden arbeitslos, Roma und Romnja fast immer als erste. Ob Kinder unter fürsorglichen Bedingungen lebten und die Schule besuchten, interessierte den Staat damals nicht.

Als er elf war, entdeckte ihn ein älterer Bruder zufällig auf der Straße und brachte ihn bei einem Onkel in einem nahe­gelegenen Dorf unter. Máté begann, regelmäßig zur Schule zu gehen. Um der Armut und den gewalttätigen Streitigkeiten in der Familie seines Onkel zu entfliehen, verbrachte er viel Zeit in der Schule: "Ich habe gelesen und gelernt, nicht weil ich es unbedingt wollte, sondern weil es in der Schule warm war, Essen gab und ich meine Ruhe hatte", erzählt Máté.

Später, als Jugendlicher ermutigte ihn seine Ungarisch- und Literaturlehrerin, weiter zu lernen, Abitur zu machen und zu studieren. Die beiden sprechen noch heute regelmäßig miteinander, Máté ist ihr sehr dankbar.

Nach dem Abitur studierte er Romologie und Kommunikationswissenschaften, dann Filmkunst und -theorie. Sein erstes Diplom erhielt Máté 2007. Anschließend bewarb er sich um ein Erasmusstipendium für Sozialwissenschaften – ohne zu ahnen, dass auch das ein Wendepunkt in seinem Leben werden würde. Er bekam das Stipendium und ging an die Universität Eindhoven in den Niederlanden. Dort lernte er seinen späteren Ehemann kennen, einen Studenten aus Polen. "Wir waren damals beide verlobt", erzählt Deszö, "und wir haben gemeinsam festgestellt, dass wir in einer Ehe mit unseren Frauen nur in Lüge leben würden. Wir haben uns entschieden, das nicht zu tun."

Die beiden leben seit dem Ende ihres Stipendiums überwiegend in Budapest. Im Jahr 2015 heirateten sie in Dänemark, denn weder in Ungarn noch in Polen sind gleichgeschlechtliche Ehen erlaubt. Mátés Ehemann will öffentlich nicht in Erscheinung treten. Dennoch hat sich das Paar entschieden, privat nicht alles zu verstecken – manchmal gehen die beiden händehaltend auf der Straße. "Es gibt immer wieder dumme Kommentare, aber dann pöbele ich einfach zurück", sagt Máté.

Langer Weg der Selbstannahme

Es klingt lapidar. Trotzdem ist das Leben in Ungarn für Máté eine ständige Gratwanderung. Versteckter Antiziganismus, etwa Andeutungen, dass Roma und Romnja arbeitsscheu seien, gehört zum verbalen Repertoire von Ungarns Premier. Weitverbreitete Romafeindlichkeit wird so von oben legitimiert. Oft erkenne er an Gesten im Alltag, dass Leute in ihm einen Dieb sähen, erzählt Máté, etwa wenn sie bei seinem Anblick ihre Taschen umklammerten oder sich in Bus und Bahn von ihm wegsetzten.

Homofeindlichkeit wiederum ist Teil von Regierungskampagnen, die immer aggressiver werden. Im vergangenen Herbst verglich Orbán Homosexuelle mit Pädophilen. Wenige Wochen später ließ seine Regierung das Verbot gleichgeschlechtlicher Ehen und ein Adoptionsverbot für gleichgeschlechtliche Paare indirekt in der Verfassung verankern.

In der Familie und im Freundes- und Bekanntenkreis bekommt Dezső Máté oft zu spüren, dass er zwischen allen Stühlen sitzt. "Unter Roma sind Schwule meistens verpönt, und in meiner Familie hoffen sie immer noch, dass ich eines Tages eine Frau heirate", erzählt er. "Umgekehrt gibt es in der LGBTI-Gemeinde eine gewisse elitäre Einstellung und auch Vorurteile gegenüber Roma. Ich persönlich fühle mich inzwischen gut als Rom und Schwuler, aber der Weg dahin war für mich sehr lang und sehr schwer."

Dickfellig gegen Anfeindungen

Ungarn verlassen will Máté nicht, jedenfalls nicht aus politischen Gründen. Er hat gerade seine Doktorarbeit in Soziologie fertig geschrieben und wird sie Ende März verteidigen. Er ist stolz darauf, dass er dann der ­erste Rom mit Doktortitel in Ungarn sein wird, dessen ­Doktorvater selbst Rom ist – der ehemalige Ombudsmann für Menschenrechte, Ernö Kallai.

Máté hat eine dickfellige Art entwickelt, mit den Anfein­dungen als Rom und Schwuler in Ungarn umzugehen. Als er ­unlängst zusammen mit seinem Ehemann in einem Drogeriemarkt einkaufte, wurde er von einem Security-Angestellten ­verfolgt, der ihn offenbar verdächtigte, als Rom werde er dort stehlen. "Er trat an mich heran, um mich zu kontrollieren, da habe ich einfach meinen Mann geküsst", erzählt Máté lachend. "Der Security-Mann war verwirrt und verzog sich schweigend. So habe ich dem Roma- und Schwulenhass gleichermaßen ein Schnippchen geschlagen."

Keno Verseck ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

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