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Von Freunden und Feinden

Heißt nun Bogen der Freiheit des ukrainischen Volkes: Monument und Besucher*innen in Kyjiw, Sommer 2023
© Laetitia Vancon /The New York Times / Redux / laif
In der Ukraine würden viele Menschen spätestens seit der russischen Invasion 2022 die sowjetischen Denkmäler im öffentlichen Raum gern entfernen. Radiert das Land damit Teile der eigenen Geschichte aus?
Von Antonio Prokscha
Zwei Monate nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine lag auf einem Hügel in Kyjiw ein abgetrennter Kopf. Er war Teil einer acht Meter hohen Bronzefigur, die einen ukrainischen und einen russischen Arbeiter zeigte, die gemeinsam einen sowjetischen Freundschaftsorden in die Höhe hielten. Die Statue stand unter dem imposanten "Bogen der Völkerfreundschaft", der 1982 zum 60. Jahrestag der Sowjetunion eingeweiht worden war.
Kyjiws Bürgermeister Vitali Klitschko stand neben dem abgeschlagenen Kopf und sagte zu Journalist*innen: "Man tötet seinen Bruder nicht. Man vergewaltigt nicht seine Schwester. Man zerstört nicht das Land seines Freundes. Deshalb haben wir heute dieses Denkmal abgebaut, das einst als Zeichen der Freundschaft zwischen der Ukraine und Russland errichtet wurde." Klitschko erklärte, der Titanbogen bleibe bestehen, werde aber in "Bogen der Freiheit des ukrainischen Volkes" umbenannt. Daraufhin hob ein Kran die gesamte Statue aus ihrer Verankerung. Als sie allmählich auf den Boden sank, jubelte eine Menschenmenge "Slavyi Ukraini" – "Ruhm der Ukraine".
Neue, unabhängige Identität schaffen
Die Aktion ist Teil einer seit Jahren zu beobachtenden Entwicklung, das sowjetische Erbe in der Ukraine abzubauen, um Platz für eine neue, unabhängige Identität zu schaffen. Die Zerstörung sowjetischer Denkmäler und die Umbenennung von Straßen wurden Teil der politischen PR. Was einst die sowjetische Einheit verherrlichte, steht heute für den Kampf der Ukraine, die sich von ihrer Vergangenheit unter russischer Vorherrschaft lösen will.
Bereits während der Maidan-Proteste 2013 war die Zerstörung der Lenin-Statue auf dem zentralen Platz von Kyjiw ein Schlüsselmoment. Nach der russischen Annexion der Krim 2014 verabschiedete das ukrainische Parlament Gesetze der "Entkommunisierung", um Straßennamen ändern und sowjetische Denkmäler entfernen zu können. Die russische Invasion 2022 verlieh diesem Vorhaben eine neue Dringlichkeit.
Währenddessen betreibt die russische Regierung in den besetzten ukrainischen Gebieten das Gegenteil, indem sie Statuen und Symbole aus der Sowjetzeit restauriert. Russische Soldat*innen zerstörten zudem Gedenkstätten wie das Holodomor-Denkmal in Mariupol, das an Millionen Ukrainer*innen erinnerte, die während einer Hungersnot unter Stalin starben. All das macht deutlich: Die Ukraine kämpft nicht nur um territoriale Souveränität, sondern auch um die Deutungshoheit über ihre Geschichte.
Schon immer ein emotionales Thema
"Die sowjetische Vergangenheit war für Menschen in der Ukraine schon immer ein emotionales und sensibles Thema", erklärt die ukrainische Kuratorin und Historikerin Yevheniia Moliar. "Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion begann die propagandistische Bedeutung der sowjetischen Bauten zu verblassen. Als ich aufwuchs, war der Freiheitsbogen nur ein Denkmal unter vielen und einer unserer Lieblingsorte, an dem wir uns mit Freund*innen trafen oder einfach nur spazieren gingen."
Doch der Krieg habe die Denkmäler wieder politisiert. "Die russische Propaganda gab diesen Denkmälern ihr politisches Potenzial zurück", sagt Moliar. Die Historikerin arbeitete in einer Kommission, die im Auftrag des ukrainischen Kulturministeriums sowjetische Denkmäler katalogisierte und Empfehlungen zum Umgang mit ihnen abgab. Die Kommission plädierte für den Erhalt der Denkmäler als kulturelles Erbe der Ukraine. Solche Vorschläge stießen jedoch auf großen Widerstand, erklärt Moliar: "Leider wurden einige unserer Empfehlungen ignoriert. Die einzigen Stimmen, die gehört werden, sind die, die für Abriss und Zerstörung plädieren."
In der Ukraine werde das sowjetische Erbe oft als russisches Erbe betrachtet, doch sei sowjetisch nicht gleichbedeutend mit russisch, sagt Moliar: "Die russische Propaganda behauptet, Russland stünde für eine russische Geschichte der Ukraine. Viele dieser Denkmäler wurden jedoch von ukrainischen Künstler*innen geschaffen." Wer dieses Kulturerbe auf russische Kultur reduziere, tappe in die Falle der Propaganda: "Die Auslöschung dieser Symbole könnte bedeuten, dass ein Teil unserer kulturellen Identität verloren geht." Für Moliar besteht die Herausforderung darin, dieses Erbe als ukrainisch anzuerkennen und gleichzeitig die Propaganda und Manipulation zu erkennen, die damit einhergehen: "Es ist schwer, über den Erhalt dieser Denkmäler zu sprechen, wenn sie mit dem Aggressor in Verbindung gebracht werden."
"Ein symbolischer Sieg"
In Kriegszeiten hat die Entfernung sowjetischer Denkmäler zusätzliche Bedeutung. Während sich die Ukraine gegen die russische Aggression wehrt, wird die Zerstörung dieser Symbole zu einem Akt der Rebellion gegen die imperialistischen Ambitionen des Kreml, sagt Moliar: "Der Abriss sowjetischer Statuen ist nicht nur die Beseitigung eines Stücks Geschichte. Es ist ein symbolischer Sieg. Sie zu zerstören, hat fast einen magischen Charakter. Man will damit seinen Feind zu Fall bringen."
Die Herausforderung der "Entkommunisierung" bestehe jedoch darin, auch mal ein Ende zu finden: "Es ist leicht, damit anzufangen, aber fast unmöglich, sie abzuschließen", sagt Moliar. Die Sowjetzeit sei ein integraler Bestandteil der Geschichte des Landes und der modernen ukrainischen Identität. Die Spuren der Sowjetzeit finden sich nicht nur in Denkmälern und in der Architektur, sondern auch in der Stadtplanung, in Landschaften oder sogar in persönlichen Dingen wie Haushaltsgegenständen und Fotoalben. Trotz der Bemühungen, das Land von seiner sowjetischen Vergangenheit zu säubern, prägen diese Überbleibsel weiterhin den Alltag und die Kultur in einer Weise, die sich nicht vollständig auflösen lässt.
Neuinterpretation nur im Museum?
Einige zeitgenössische ukrainische Künstler*innen haben deshalb damit begonnen, die sowjetischen Denkmäler neu zu interpretieren. So plakatierte der Künstler Volodymyr Kuznetsov schon 2018 einen Riss auf den Bogen in Kyjiw und nannte sein Werk "Riss der Freundschaft". Auch Museen können dazu beitragen, die Mechanismen der Propaganda aufzuarbeiten und eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu ermöglichen. Vielleicht sind sie derzeit sogar die einzigen Orte, um sowjetische Denkmäler zu erhalten.
"Vor ein paar Jahren ging es darum, Wege für den kulturellen Erhalt sowjetischer Denkmäler zu finden. Aber durch den Krieg hat sich alles verändert", sagt Moliar. Die Einrichtung eines Museums zum sowjetischen Erbe sei eine Alternative. Bisher gebe es so etwas nur vereinzelt. "Es ist entscheidend, dass die Ukrainer*innen die Propagandamechanismen verstehen, die ihre Geschichtswahrnehmung beeinflusst haben", erklärt sie. "Wenn wir lernen, die Vergangenheit als komplexes Gewebe zu sehen, statt sie in einem binären Narrativ festzuschreiben, werden sowjetische Denkmäler nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen."
Die Diskussion über den Freiheitsbogen geht unterdessen weiter. Der vollständige Abbau des Bauwerks wurde erwogen, zuletzt jedoch aufgegeben. Nach Angaben der Kyjiwer Stadtverwaltung wird die Bedeutung des Bogens derzeit "überdacht". Der Platz soll ein neues Konzept erhalten.
Antonio Prokscha ist Pressereferent bei Amnesty in Österreich.