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Tunesien: Der Präsident gegen alle

"Wer schützt uns vor der Polizei?": Protestveranstaltung zur Erinnerung an die Revolution (Tunis, Januar 2025)
© Chedly Ben Ibrahim /NurPhoto / Getty Images
In Tunesien wird die Repression unter Präsident Kais Saied immer schärfer. Sie betrifft Migrant*innen und Aktivist*innen, den Journalismus, die Justiz und die politische Opposition.
Aus Tunis von Bertha Klement
Traurig flattern die kleinen Tunesienfahnen im kalten Dezemberwind. Nour* sitzt auf einer Bank in der Avenue Habib Bourguiba, einer der Hauptstraßen von Tunis. Genau hier ging die 33-Jährige während der Revolution in den Jahren 2010/11 gemeinsam mit vielen anderen Menschen ihrer Generation gegen den autokratischen Langzeitherrscher Zine El-Abidine Ben Ali auf die Straße. "Wir träumten davon, dass Tunesien ein demokratisches Land würde, damals schien uns alles möglich", sagt sie über die ersten Jahre nach der Revolution, in denen sich bürgerliche Freiheiten und Menschenrechte konsolidierten.
Bis heute setzt sie sich für politische Freiheitsrechte und Feminismus ein. Aber ihr Engagement wird riskanter, denn seit der Präsidentschaftswahl am 6. Oktober 2024, bei denen Präsident Kais Saied mit einer Wahlbeteiligung von nur 29 Prozent wiedergewählt wurde, hat sich die Repression verschärft, die nach dem Putsch Saieds im Jahr 2021 begann.
Demonstrationen gespalten
Bis zur Wahl konnten noch große Demonstrationen stattfinden. Die Demonstrierenden, die gegen Saied protestierten, kamen zahlreich, waren aber in zwei Gruppen gespalten: Während die einen die Mitwirkung der ehemaligen Regierungspartei Ennahda und ihrer Unterstützer*innen bei der Organisation einiger Demonstrationen guthießen, lehnen viele andere Kritiker*innen Saieds eine Zusammenarbeit mit der Ennahda ab. Sie werfen der Partei Misswirtschaft, Korruption und Kooperation mit islamistischen Gruppen vor. "Ich habe entschieden, an den Demos teilzunehmen, denn wir haben ein wichtigeres Problem, und das heißt Saied. Ob wir mit Ennahda gemeinsam Politik machen müssen, ist eine andere Frage", sagt Nour.
Am Tag nach der Wahl kam es zu einer der letzten großen Demonstrationen, bei der die Teilnehmenden ihre Solidarität mit Gaza und dem Libanon ausdrückten. Die Polizei löste die Kundgebung gewaltsam auf, der Polizeichef schrie: "Das war das letzte Mal, das ihr hier demonstriert habt, ihr verdient eure Freiheit nicht."
Die eigene Meinung im öffentlichen Raum kundzutun, ist seither gefährlich. Besonders hart trifft es LGBTI-Aktivist*innen. Bereits vor der Wahl wurden 27 von ihnen inhaftiert, seither gab es immer wieder Polizeiübergriffe auf queere Aktivist*innen. Dabei kommt auch ein Gesetz zur Anwendung, das einen vage formulierten "Verstoß gegen die Sitten" verbietet. Queere Aktivist*innen erkämpften sich in den vergangenen Jahren einige Freiräume, sie konnten Festivals, Dragshows und Filmabende ausrichten. "Das bunte kulturelle Leben war für mich immer ein Grund, nicht von hier wegzugehen. Aber momentan sieht es so aus, als wollten sie uns auch die letzten Freiräume nehmen", meint Nour.
Politische Teilhabe junger Menschen
Die staatliche Repression trifft auch eine andere Gruppe hart: Aktivist*innen, die humanitäre Hilfe für Migrant*innen leisten. Mindestens 400 Migrant*innen wurden von den Behörden zuletzt an die Landgrenzen Tunesiens verschleppt, auch in Wüstengebiete; ihre Unterstützer*innen wurden inhaftiert. Derzeit sitzen sechs Aktivist*innen in Haft, ihnen wird Korruption oder Geldwäsche vorgeworfen. Korruption und Geldwäsche sind die Standardanschuldigungen, mit denen der Präsident seine Gegner*innen aus Politik, Medien und Zivilgesellschaft überzieht. Schon seinen Staatsstreich im Jahr 2021 begründete er mit grassierender Korruption in Regierung und Parlament.
Inzwischen wurde auch die Zivilgesellschaft zur Zielscheibe. Saied bezeichnet zivilgesellschaftliche Organisationen als "verlängerten Arm ausländischer Kräfte" und erweckt den Eindruck, sie handelten im Interesse Europas oder der USA. Noch am Wahlabend kündigte er an, Tunesien von "diesen Korrupten, Verrätern und Verschwörern zu säubern".
Diskreditiert, bekämpft, verfolgt
Dazu ist ihm jedes Mittel recht: Die Zivilgesellschaft wird öffentlich diskreditiert, politisch bekämpft und juristisch verfolgt. Ein Gesetzentwurf zur Neuregelung des Vereinsrechts, der die Gründung zivilgesellschaftlicher Organisationen erheblich erschwert und die staatliche Überwachung ihrer Arbeit und ihrer Finanzen vorsieht, liegt dem Parlament vor. Banken zahlen internationale Hilfsgelder nicht an NGOs aus. Amnesty International warnte im Jahr 2023, die Unabhängigkeit der Zivilgesellschaft sei bedroht.
Dramatisch ist dies auch deshalb, weil die Zivilgesellschaft vielerorts die einzige Möglichkeit für eine politische Teilhabe junger Menschen ist. "In den ersten Jahren der Revolution setzten wir uns mit vollem Herzen ein und haben auch einiges erreicht", erinnert sich Nour. Junge Aktivist*innen und ihre zivilgesellschaftliche Arbeit verhinderten vor einigen Jahren zum Beispiel eine geplante Amnestie politischer Eliten, die jahre- oder jahrzehntelang mit dem Autokraten Ben Ali zusammengearbeitet hatten.
Die Repression unter Präsident Saied macht selbst vor der Kommission für Wahrheit und Würde nicht Halt, die die Verbrechen unter Ben Ali aufarbeiten soll. Die Kommissionsvorsitzende, die Journalistin und Menschenrechtsanwältin Sihem Bensedrine, saß bis Ende Februar 2025 in Untersuchungshaft und wartet nach einem Hungerstreik auf ihren Prozess. Ihr wird vorgeworfen, Teile eines Berichts gefälscht zu haben. Amnesty setzt sich für ihre Freilassung ein.
Protest gegen sexuelle Belästigung niedergeprügelt
All dies zeigt, wie riskant zivilgesellschaftliches Engagement und freie Meinungsäußerungen in Tunesien geworden sind. Bei der Eröffnung des tunesischen Filmfestivals protestierten im Dezember 2024 Feminist*innen gegen den Festivaldirektor Férid Boughdir, dem sexuelle Belästigung in mehreren Fällen nachgewiesen wurde. Sie wurden von Sicherheitskräften aus dem Saal geprügelt.
Kais Saieds autoritäre Politik trifft nicht nur die Zivilgesellschaft. Längst ist auch das Justizsystem des Landes unter seiner Kontrolle und bereitet den Weg für immer neue Festnahmen und Inhaftierungen. Unzählige Aktivist*innen sind derzeit in Haft, außerdem zwölf Journalist*innen und 36 Politiker*innen. Zu ihnen gehört die Oppositionspolitikerin Abir Moussi, die zu zwei Jahren Haft verurteilt wurde, weil sie versucht hatte, Rechtsmittel gegen Präsdialdekrete einzulegen. Außerdem hatte sie die Absicht, bei der Präsidentschaftswahl gegen Saied zu kandidieren. Amnesty fordert die Behörden auf, die Anklagen gegen Moussi fallenzulassen und setzt sich für ihre Freilassung ein.
"In unseren schlimmsten Träumen hätten wir uns nicht ausmalen können, was jetzt passiert", sagt Nour. "Dass uns irgendwann die Energie fehlte, so ausdauernd wie zu Beginn für unsere Revolution zu kämpfen, spielt sicher eine Rolle. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, denn dieses Land ist unberechenbar."
*Nachname ist der Redaktion bekannt
Bertha Klement ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.