Amnesty Journal 22. Februar 2022

Ein Tropfen Glück

Ein Flyer illustriert den Schriftzug "A Drop Of Luck" und das Seitenprofil einer Frau mit langen Haaren, die ihre rechte Hand hochhält und dabei Daumen und Zeigefinger zusammenpresst.

"A Drop of Luck": Das Musikprojekt der Anthropollgin Kornelia Binicewicz schlägt Brücken zwischen der Türkei und Israel.

Arabesk wird in der Türkei ebenso wie in Israel gehört. Was den Fans in beiden Ländern nicht bewusst sein dürfte: Die Künstler_innen der orientalisch anmutenden Popmusik beeinflussen sich gegenseitig – über politische und kulturelle Differenzen hinweg.

Von Ulrich Gutmair

Endlich durfte Orhan Gencebay im türkischen Fernsehen singen. Fans in der ganzen Türkei waren 1979 begeistert, eine neue Ära hatte begonnen. Zwar waren seine Schallplatten in der Türkei seit den frühen 1970er Jahren sehr erfolgreich. Aber den Beamten der staatlichen Zensurbehörden und den Verantwortlichen in Radio und Fernsehen war die Musik des hervorragend ausgebildeten Spielers der Langhalslaute Bağlama bis dahin suspekt gewesen. Er wurde der Arabesk-Szene zugeordnet. Dieser Genre-Mix aus arabischer Musik, türkischer Folklore und westlichem Pop, der vor allem in den ­Armenvierteln der großen Städte gehört wurde, war offiziell verpönt.

Versuch der kulturellen Diplomatie

1984 veröffentlichte Gencebay das ­Album "Dil Yarası", das millionenfach verkauft wurde. Auch die vielen Händler_innen im zentralen Busbahnhof von Tel Aviv im armen Süden der Stadt, wo viele jüdische Einwander_innen aus arabischen Ländern lebten, hatten die Kassette von Gencebay im Angebot. Ähnlich wie die Arabesk Gencebays wurde die Musik der Misrachim, wie die orientalischen Jüdinnen und Juden von der Mehrheitsgesellschaft genannt werden, im israelischen Rundfunk nicht gespielt. Man hörte sie auf Hochzeiten, Familienfesten und in Tanzclubs. Gencebays Lied "Dil Yarası" wurde bald darauf von einer israelischen Interpretin adaptiert. Die junge, aus einer marokkanischen Familie stammende Sängerin Zehava Ben nahm das Stück mit einem neuen hebräischen Text auf und nannte es "Tipat Mazal" (Ein Tropfen Glück).

In Anlehnung daran gab die polnische Plattensammlerin und Kuratorin Kornelia Binicewicz ihrem im Internet dokumentierten Projekt, das sich mit dem ­Musiktransfer zwischen der Türkei und Israel befasst, den Titel "A Drop of Luck". Die Anthropologin zeigt, wie die Musik Orte und Gesellschaften miteinander verbindet, deren Regierungen seit Jahrzehnten ein überwiegend krisenhaftes Verhältnis zueinander haben. Vor diesem Hintergrund ist Binicewicz’ mit Mitteln aus dem israelischen Kulturetat gesponsertes Projekt zugleich ein Versuch der kulturellen Diplomatie: Es will Gemeinsamkeiten aufzeigen, wo sonst Trennendes im Vordergrund steht.

Binicewicz, die seit 2015 in Istanbul lebt, präsentiert auf ihrer Website ladies­onrecords.com die Ergebnisse ihrer langjährigen Tätigkeit als Sammlerin und Forscherin auf Englisch, Türkisch und Hebräisch. Auch ein Podcast zum Thema und eine Kompilation mit Adaptionen von türkischen und israelischen Sängerinnen kann man dort hören.

Distanz zu den arabischen Traditionen

Der Austausch der beiden Musikkulturen ging in beide Richtungen: 1987 etwa wurde Ofra Hazas "Im Nin’alu" zu einem weltweiten Hit. Der Liedtext basiert auf einem liturgischen Gedicht jemenitischer Juden. Ein Jahr später veröffentlichte Zerrin Özer eine türkische Version des Stücks unter dem Titel "Hani Yeminin?", zu dem nun auch junge Türk_innen tanzten.

Den Hörer_innen der Adaptionen war oft weder bewusst, woher die Lieder stammten, noch dass Arabesk und die Musik der Misrachim ein ähnliches Schick­sal teilten: Es war die Musik von ­Bevölkerungsgruppen, die lange Zeit aus der offiziellen Kultur ausgeschlossen ­waren.

Ofra Hazas »Im Nin’alu« auf YouTube

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Binicewicz weist darauf hin, dass es weitere verblüffende Ähnlichkeiten zwischen türkischer und israelischer Popmusik gibt. Sie wird hier wie dort vor allem in Nachtclubs, Tavernen und Casinos ­gespielt, wo man isst, Musik hört und Bauchtänzerinnen zuschaut. Ähnlich ist auch die Intention, die seit den 1960er Jahren hinter dieser populären Musik steht: "Seit der Gründung beider Staaten war Musik ein Werkzeug, um eine Idee der Nation zu schaffen, zu verteidigen und das Land zu einen."

In beiden Ländern versuchte man, gemäß der Vorstellungen der Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk und David Ben-Gurion, eine jeweils neue nationale Musik zu propagieren: Musik sollte den Geist des Landes ausdrücken und seinen Charakter formen. Beide Länder verstanden sich als dem Westen zugewandte oder gar zugehörige moderne Staaten. Beide versuchten, sich von den arabischen Traditionen der Nachbarländer zu distanzieren.

Eine junge Frau mit blondierten Haaren sitzt auf einem Stuhl und durchblättert verschiedene papierne Schriftstücke, die auf ihrem Schoß liegen.

Die Anthropologin Kornelia Binicewicz beschäftigt sich mit dem Musiktransfer zwischen der Türkei und Israel.

Die von den türkischen Kulturpolitikern und Behörden geförderte Musik war tendenziell eher westlich orientiert und stand den eigenen Traditionen skeptisch gegenüber, weil deren arabischer und persischer Einfluss unüberhörbar war. Zur als westlich identifizierten und in der Türkei befürworteten Popmusik gehörten indes auch Lieder von israelischen Sänger_innen wie Yaffa Yarkoni, Ilanit oder Aris San. Sie wurden mit türkischen Texten von Stars wie Gönül Turgut, Nilüfer, Ayten Alpman oder Şenay interpretiert.

Syrisches Radio in der Türkei

Doch die Reichweite von Radio Ankara und seinem offiziösen Musikprogramm war lange beschränkt, während das syrische Radio vielerorts in der Türkei empfangen werden konnte. Durch diesen Einfluss entwickelte sich in den Armenvierteln der expandierenden Metropole Istanbul, wo viele vom Land zugezogene Menschen lebten, das Genre Arabesk.

In diesen informellen Vierteln, den "Gecekondular", vermischten sich Traditionen der türkischen Folklore mit den arabischen Klängen aus dem Radio zu ­einer Musik der Massen. Sie wurde auf dem billigen und leicht zu vertreibenden Medium der Kassette verbreitet und brachte bald ihre eigenen Stars hervor. In Israel war es ähnlich. Dort verunglimpften die meist aus europäischen Ländern stammenden Eliten den Sound der orientalischen Jüd_innen als "Musik aus dem Busbahnhof" oder als "Kassettenmusik". Denn auch dort war seit der Staatsgründung an einer neuen natio­nalen Musik gearbeitet worden, die sich an westlichen Mustern orientierte. Sie sollte die biblische Geschichte verkörpern und damit den Anspruch des modernen israelischen Staats auf das Land untermauern.

Für offene Ohren und mehr Verständnis

Seit 1948 wanderten aber auch Hunderttausende Jüdinnen und Juden aus arabischen Ländern wie dem Irak, Jemen, Tunesien oder Marokko ein. Sie sprachen und sangen Arabisch, während der neue Staat auf der Idee einer hebräischen Kultur basierte. Die arabische Sprache und Musik wurden im jungen Israel jedoch an den Rand gedrängt. Jüdinnen und Juden aus arabischen Ländern hörten die von ihnen geliebten Lieder nur in den Radioprogrammen der Nachbarländer und sahen ihre Stars im ägyptischen Fernsehen. Viele in Marokko, Tunesien oder anderswo berühmte jüdische Sänger_innen traten in Israel nicht mehr auf.

In den 1970er Jahren wurde in den Clubs im Süden von Tel Aviv, in Jaffa, Jerusalem oder Bat Jam zu griechischer und türkischer Musik getanzt, die als mediterrane, levantinische und damit legitime Musik galt. Bald begann eine neue Generation von Interpret_innen aus Israel erst griechische, türkische und bald auch hebräische Lieder aufzunehmen.

Die politische Komponente einer Kultur von unten, die Kornelia Binicewicz in der Arabesk und der Musik der arabischen Jüdinnen und Juden entdeckte, fand ihr Echo auch in den politischen Entwicklungen beider Länder: Die von den linken europäischen Eliten in Israel an den Rand gedrängten Jüdinnen und Juden aus arabischen Ländern verhalfen 1977 Menachem Begins rechter ­Regierung zum Wahlsieg. Der Sound der Arabesk wiederum traf in den 1980er Jahren bei der türkischen Zensur auf mildere Ohren. Die Behörden waren nun darauf bedacht, die türkischen Traditionen nicht durch allzu moderne, westliche Einflüsse zu verwässern.

Es steht zu hoffen, dass Kornelia Binicewicz’ Arbeit wie die von ihr gesammelte Musik auf offene Ohren stößt und in einer weiterhin angespannten Lage zwischen beiden Ländern zu mehr Verständnis ­beiträgt.

Weitere Infos: www.ladiesonrecords.com/a-drop-of-luck.

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