Amnesty Journal 04. September 2020

Keshas Erbe

Eine junge schwarze Frau steht auf einer Treppe und hält blaue und weiße Ballons und die Ausdrucke von Bildern von Menschen in die Höhe.

Ballons als Erinnerung an Kesha und andere: Iman Osama in Bahri in der Nähe von Khartum

Abdelsalam Kesha träumte von einem demokratischen ­Sudan. Dafür ging er auf die Straße. Am 3. Juni 2019 wurde er bei einer Demonstration erschossen. Inzwischen ist er für viele Menschen eine Ikone. Aber seine Familie, ­Freundinnen und Freunde fragen sich: Wofür starb Kesha?

Von Bartholomäus von Laffert

Vorsichtig fährt Iman Osama über die Konturen des Gesichts des jungen Mannes, das an die Wand der Universität Khartum gesprüht worden ist. Das Bild befindet sich dort, wo die Straße Al Imam al Mahdy einen Knick macht und auf die Nilstraße trifft. Vor einem Jahr stand dort eine Barrikade aus Metallstangen und Betonklötzen, um Demonstrierende und Militärs zu trennen, jetzt rauscht ein Militärtruck vorbei.

"Wir hätten zusammen sterben sollen", sagt die junge Frau mit den kurzen, dunklen Locken. Osama hatte Abdelsalam Kesha am 2. Juni 2019 spätabends ein letztes Mal umarmt, bevor sie nach Hause ging. Sieben Stunden später war ihr Freund tot. Ermordet im Alter von 25 Jahren durch zwei Schüsse: einen ins Bein, einen durch die Brust und mitten ins Herz. Er starb am frühen Morgen des 3. Juni in einem Krankenhaus.

Hass auf das System

Im Dezember 2018 begann im Sudan der Aufstand gegen das Regime. Zur Wut über die schlechte ökonomische Situation mischte sich Hass auf das System. Diesmal wollten die Demons­trierenden keine Reformen. Sie wollten den Sturz des Diktators Omar al-Baschir, der das Land seit 30 Jahren beherrschte und gegen den ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs vorlag.

Am 6. April 2019 zogen mehr als eine Million Sudanesinnen und Sudanesen vor das Militärhauptquartier in Khartum. Sie forderten Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und immer wieder: "Madaniyye!" (Zivilregierung). Tausende blieben bis in die Nacht. Sie blockierten die Straßen, errichteten Zelte und Pavillons. Es begann ein riesiges friedliches Sit-in, erzählt Iman ­Osama, so groß, dass man länger als eine Stunde benötigte, um es zu Fuß zu durchqueren. Kesha und Iman saßen in diesen Nächten oft gemeinsam auf den Barrikaden. Am 11. April putschte das Militär und übernahm den Staat, doch die Demonstrierenden blieben. Sie wollten nicht enden wie in Ägypten. Sie wollten ­keine weitere Militärdiktatur. Sie träumten von "Mada­niyye".

Von der Utopie zum Sudan

Amna Bihayr und Abdelsalam Kesha Senior stehen im Zimmer ihres Sohns vor einem kleinen Schrein. Bilder in vergoldeten Rahmen zeigen Kesha als Studenten mit dünnem Schnauzer, als Grundschüler im schwarzen Anzug, als Baby im weißen Strampler.

"Kesha konnte Unrecht nicht ausstehen", sagt die Mutter. Als Kleinkind lauschte er den Gesprächen der kommunistischen Freunde seines Vaters, die von al-Baschir verfolgt wurden. Als Grundschüler protestierte er, weil die Lehrer südsudanesische Mitschüler diskriminierten. Mit 16 wurde er politisch aktiv, sprach vor Schülerversammlungen und wetterte gegen das Regime. Er wurde mehr als 20 Mal festgenommen, aber als Freunde des Vaters anboten, ihm ein Visum fürs Ausland zu beschaffen, lachte er sie aus. Mit Anfang 20 brach er sein Physikstudium ab, um Jura zu studieren. Er schwor sich, al-Baschir eines Tages zur Rechenschaft zu ziehen. "Als Gott die Angst verteilt hat, hat er Kesha vergessen", sagt sein Vater.

Nichts hat sich im Sudan verändert. Nichts, ­außer, dass unsere Kinder tot sind.

Abdelsalam
Keshas Mutter

Seine Freundinnen und Freunde berichten, Kesha habe davon geträumt, dass die Revolutionärinnen und Revolutionäre der Straße den ­Sudan beherrschen, angeführt von den Widerstandskomitees, die sich in den Jahren zuvor überall im Land heimlich gebildet hatten. Kesha wollte aus dieser Utopie im Kleinen etwas für den Sudan im Ganzen machen. Hunderte, die seine Reden beim Sit-in oder im Internet verfolgten, pflichteten ihm bei.

Sicherheitskräfte stürmen Sit-in

Keshas Eltern sahen ihn am 1. Juni 2019 zum letzten Mal. Seine Mutter hatte ihn gebeten, nach fast zwei Monaten wieder mal heimzukommen. Es gab sein Lieblingsessen Nemenya, ein Gericht aus Erdnüssen, Joghurt und Reis. Doch Kesha hatte keinen Appetit. Um halb neun sank er erschöpft auf das Metallbett, das noch immer im Vorraum der Küche steht. Und als er zweieinhalb Stunden später erwachte, hatte er es eilig. Er trat durch die Küchentür nach draußen und brüllte so laut "Madaniyye!", dass sein Vater fluchend erwachte. Dann verschwand Kesha in die Nacht.

Am 3. Juni um fünf Uhr früh stürmten Sicherheitskräfte das Sit-in. Manche trugen die Uniformen der Polizei, manche dunkle Camouflage des Militärs, manche das Beige der Rapid Support Forces, jener Miliz al-Baschirs, die einst unter dem Namen "Janjaweed" agierte und für den Genozid in Darfur verantwortlich gemacht wird. Statt wie die meisten Demonstrierenden zu fliehen, rannte Kesha zu den Barrikaden, um seine Utopie zu retten. Dann trafen ihn Schüsse. Die Sicherheitskräfte töteten an diesem Morgen mindestens 128 Menschen. Sie vergewaltigten mindestens 70 Frauen und Männer. Noch heute werden zahlreiche Menschen vermisst.

General Hamdan Dagalo an der Macht

Seit dem Massaker hat sich der Sudan gewandelt. Über die Veränderungen gibt es verschiedene Erzählungen. Die populärste handelt von der Übergangsregierung aus Experten, Expertinnen und Militärs, die seit mehr als einem Jahr herrscht. Von der Abschaffung einiger Gesetze, die Frauen jahrzehntelang unterdrückten. Vom Verbot der Genitalverstümmelung. Von Pressefreiheit nach 30 Jahren Diktatur. Und von der Ankündigung, al-Baschir an den Internationalen Strafgerichtshof auszuliefern.

Dann sind da Geschichten, die sich die Revolutionärinnen und Revolutionäre erzählen: von progressiven Kräften, die sich bei Verhandlungen vom Militär über den Tisch ziehen ließen. Von einem Land am Geldtropf von Saudi-Arabien und Katar, das seine Kinder nach Libyen schickt, um dort fremder Mächte Krieg auszutragen. Ein Staat, der al-Baschir nicht ausliefern wird, weil dessen enge Vertraute noch in der Regierung sitzen. Und von einem der wichtigsten Männer dieses neuen Staates: General Hamdan Dagalo, genannt Hemetti, Anführer der Rapid Support Forces und Vizepräsident des Sicherheitsrates. Er soll das Massaker am 3. Juni befehligt haben.

Sie können die Schuldigen nicht benennen, weil die Teil der Regierung sind – und auf andere können sie die Verantwortung nicht abschieben, weil sonst die Bevölkerung wieder auf die Straße geht. Also machen sie nichts.

Magdi
al Gizouli
Politikwissenschaftler

Hemetti ist nach Ansicht der Revolutionärinnen und Revolutionäre der Grund dafür, warum es immer noch keine Anklage gibt – trotz Tausenden von Beweisvideos und Dutzenden von Zeugenberichten. Das Komitee, das die Regierung im Ok­tober 2019 berief, um das Massaker aufzuklären, sollte seinen Abschlussbericht im Januar 2020 vorlegen. Aus Januar wurde April und aus April Juni. ­Inzwischen glaubt kaum jemand mehr daran, dass der Bericht erscheinen wird. "Das Komitee steckt in der Zwickmühle", sagt der sudanesische Politikwissenschaftler Magdi al Gizouli. "Sie können die Schuldigen nicht benennen, weil die Teil der Regierung sind – und auf andere können sie die Verantwortung nicht abschieben, weil sonst die Bevölkerung wieder auf die Straße geht. Also machen sie nichts."

Keshas Mutter schreibt ein Jahr nach dem Massaker: "Nichts hat sich im Sudan verändert. Nichts, ­außer, dass unsere Kinder tot sind." Was von Abdelsalam Kesha geblieben ist, sind Bilder an den Hauswänden. Erinnerungen daran, dass ein anderer Sudan möglich ist. An der Fassade der Universität Khartum prangt sein Gesicht neben anderen, die am 3. Juni ermordet wurden. Auf dem Graffiti hat er den Blick zum Himmel gerichtet, den Mund weit aufgerissen, als würde er schreien. Als würde er den Revolutionärinnen und Revolutionären Mut zurufen und die Mächtigen warnen. "Madaniyye!" 

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