Amnesty Journal Pakistan 04. Juni 2018

Das Dorf der befreiten Sklaven

Ein Mann in einem blauen Overall hockt auf dem Boden, er hält einen Ziegelstein in der Hand, vor ihm sind Steine zum Trocknen ausgelegt

Aussteiger. Sodho Oad in einer Ziegelei in Azad Nagar, Februar 2018.

In Pakistan leben immer noch Millionen Menschen in ­Leibeigenschaft. Nur wenigen gelingt der Ausstieg aus der Versklavung.

Von Andrzej Rybak (Text und Fotos)

Es war Liebe auf den ersten Blick. Als Ali Bux seiner Nusrat das erste Mal begegnete, wusste er, dass er sein Leben mit ihr verbringen will. Doch seine Familie war arm, er hatte weder Land noch das Brautgeld. Verzweifelt suchte Ali Bux nach einer ­Lösung.

Da bot ihm ein mächtiger Landbesitzer aus dem südpakistanischen Sanghar ein Darlehen über 15.000 Rupien an, damals fast 300 US-Dollar. Nach der Hochzeit könne Bux die Schuld auf seinem Hof abarbeiten, sagte der Patron. Der Bauer stimmte ­sofort zu, nahm das Geld und heiratete. Kurz danach begannen die Eheleute, gemeinsam das Darlehen abzustottern. Es war der Anfang eines jahrelangen Leidenswegs.

Wer denkt, die Sklaverei gehöre in die Geschichtsbücher, irrt. In Pakistan werden nach Schätzungen der australischen Menschenrechtsorganisation Walk Free Foundation mehr als zwei Millionen Menschen wie Leibeigene gehalten. Lokale Vereinigungen gehen gar von vier Millionen Sklaven aus, die täglich zur Arbeit auf dem Feld oder in den Ziegeleien gezwungen werden. Nur in Indien und China gibt es noch mehr Leibeigene. Ihr Schicksal ist überall das Gleiche: Sie dürfen den Wohnort nicht verlassen und können von ihren "Besitzern" wie Vieh verkauft werden. Männer werden geschlagen, Frauen sexuell belästigt und vergewaltigt. Es trifft auch Kinder: Wenn ihre Eltern sterben, haften sie sogar für deren Schulden.

Familie Bux erging es ähnlich. "Wir haben vom Morgen­grauen bis in die Nacht geschuftet, zwölf bis 14 Stunden am Tag", sagt Ali Bux, ein schmaler Mann mit weißem Haar und Vollbart. "Ich habe die Felder gepflügt, Bewässerungskanäle ­gegraben und die Ernte eingefahren. Nusrat versorgte die Tiere, brachte die Saat aus, jätete das Unkraut. Aber: Unsere Schuld wurde nicht kleiner." Der Trick des Patrons: Familie Bux musste für ihre einfache Hütte auf dem Hof eine hohe Miete zahlen. Auch für das tägliche Essen – Brot und Chilis mit Buttermilch – berechnete ihr der Zamindar, wie Großgrundbesitzer in Pakis­tan genannt werden, einen stolzen Preis.

Zwei Dutzend Familien lebten wie Leibeigene auf dem Land des Zamindars. Seine Aufseher zwangen sie früh morgens auf die Felder, selbst als sie krank waren. Wer nicht gehorchte, wurde geschlagen. Sie bewachten das Dorf und hinderten die Bauern daran, das Land zu verlassen. "Wir waren alle Sklaven", sagt Nusrat Bux. Der Großgrundbesitzer entschied sogar, mit wem die Bauern ihre Töchter verheiraten durften.

Eine Frau mit blauem Kopftuch und ein Mann in weißem Gewand blicken lächelnd in die Kamera

Arm, aber frei. Nusrat und Ali Bux sowie Bachando Machi in Azad Nagar, Februar 2018.

Offiziell ist Leibeigentum in Pakistan unter Strafe verboten. Doch Politik, Justiz und Polizei decken die Sklavenhalter, die oft zu den reichsten Familien des Landes gehören. Seit 1992 gibt es in Pakistan ein Gesetz gegen Zwangsarbeit, im Alltag hat es jedoch nicht viel verändert. "Wir müssen jedes Mal gegen die Sklavenhalter vor Gericht klagen", schimpft Ghulam Hyder. "Erst wenn wir mit dem Urteil kommen, lassen die Großgrundbesitzer ihre Leibeigenen gehen."

Hyder leitet die Green Development Rural Organisation (GDRO), eine Nichtregierungsorganisation, die ursprünglich ­gegründet wurde, um in der Provinz Sindh modernes Landwirtschaften mit Wassermanagement, Dünger und Pestiziden einzuführen. Hyder war immer wieder überrascht, wie oft er mit dem Problem der Leibeigenschaft konfrontiert wurde. "Wir konnten unsere Augen nicht verschließen und so tun, als passiere nichts", sagt der Agrarexperte, der irgendwann zum Menschenrechtler wurde. "Jetzt kämpfen wir und vertreten die ehemaligen Sklaven vor Gericht."

Die Landbesitzer sind aber gut vernetzt. Sie gehören zur ­Elite, ihre Angehörigen bekleiden oft wichtige Staatsämter. Auch wenn sie nach einem Gerichtsbeschluss ihre Sklaven freilassen müssen, wird kaum einer wegen Freiheitsberaubung ­verurteilt. "Es ist ein Kampf gegen Windmühlen", sagt Hyder. "Wir befreien einige Menschen, die Großgrundbesitzer versklaven neue, die wir ein paar Monate oder Jahre später wieder befreien. Weil die Schuldigen nicht bestraft werden, dreht sich das Rad endlos weiter."

Ganze 14 Jahre schufteten Ali und seine Frau Nusrat Bux auf dem Hof. Sie brachte in dieser Zeit drei Kinder zur Welt. Bis kurz vor der Entbindung musste sie auf dem Feld schuften. Eines Tages erzählte ein Reisender ihnen von einem Dorf, in dem entflohene Sklaven in Sicherheit lebten. Ein paar Wochen dachten sie nach. Dann, im Schutz der Nacht, wagten sie die Flucht. "Wir haben ­unser ganzes Hab und Gut auf dem Hof gelassen, um keinen ­Verdacht zu erwecken", sagt Bux. "Zwei Tage marschierten wir ohne Rast, bis wir in Azad Nagar ankamen. Dann waren wir frei."

Seit zehn Jahren lebt Bux mit seiner Familie in Azad Nagar, was auf Hindi "Dorf der Freien" bedeutet. Äußerlich unterscheidet es sich kaum von anderen in der Provinz Sindh im Südosten des Landes. Ein sandiger Fußweg führt von einem Gemeindehaus durch das Dorf. Links und rechts stehen kleine Häuser aus Ziegel, Zweigen und Lehm. Frauen schleppen Wasser von einem Brunnen, neben den Häusern grasen Ziegen und Kühe.

"Wir sind arm, aber glücklich", sagt Nusrat. "Hier kann uns niemand etwas befehlen, wir können tun, was uns gefällt." ­Familie Bux verdingt sich als Tagelöhner auf den Höfen der ­Umgebung, ihr ältester Sohn ist inzwischen 16 und arbeitet als Schneider in der Provinzhauptstadt Karatschi. Ihr früherer ­Zamindar schickte einmal seine Schergen, um die Bauern zurückzuholen. Doch die Bewohner blockierten die Dorfzufahrt und ließen die Sklavenjäger nicht hinein.

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Den Großgrundbesitzern ein Dorn im Auge. Ghulam Hyder.

In den ländlichen Gebieten Pakistans herrschen bis heute feudale Verhältnisse. Fast das gesamte landwirtschaftlich nutzbare Land gehört Großgrundbesitzern und wird meist von landlosen Bauern beackert, die in armseligen Dörfern auf dem Land ihrer Herren leben. Die Bauern sind der Gnade des Großgrundbesitzers ausgeliefert: Er entscheidet über ihre Entlohnung – und über ihre Bewegungsfreiheit. Besonders anfällig für Ausbeutung sind die Angehörigen religiöser Minderheiten: Hindus, Christen und Schiiten, die auf der sozialen Leiter ganz unten ­stehen und meist zu den Ärmsten der Armen gehören. "Diese Leute wagen es nur selten, ihrem Feudalherren zu widersprechen", sagt Hyder.

In Azad Nagar leben heute fast 200 Familien ehemaliger Leibeigener, vor allem Hindus, aber auch einige Muslime. Die meisten verdanken ihre Freiheit der GDRO. Nur wenige Leib­eigene wagen die Flucht – auch um ihre beim Zamindar zurückgebliebenen Angehörigen nicht zu gefährden.

Das Dorf gibt es erst seit 2007, es wurde auf Land errichtet, das die GRDO mit Spenden der Menschenrechtsorganisation ­Action Aid International erworben hatte. Den Einwohnern stehen etwa 39 Hektar zu Verfügung, ein Teil des Landes wird gemeinsam kultiviert. Die meisten arbeiten als Tagelöhner auf ­Höfen in der Umgebung oder in den umliegenden Ziegeleien. "Die Leute sind frei zu tun, was sie wollen", sagt Hyder. "Manche gehen nach einigen Monaten weg, wenn sie woanders bes­sere Jobs finden."

Viele bleiben für immer. In Azad Nagar gibt es eine kleine Grundschule, die von der Bildungsstiftung der Provinz unterhalten wird. Mädchen und Jungs lernen lesen, schreiben, rechnen – und sogar ein bisschen Englisch. "Manche Familien wollen nicht weg, weil ihre Kinder hier eine Ausbildung bekommen", sagt Hyder. "Wir organisieren auch Kurse, damit die Leute einen Beruf erlernen können: Als Schneider oder Schlosser haben sie bessere Chancen, einen Job zu finden."

Bachando Machi ist nun schon zum zweiten Mal in Azad ­Nagar. Der Mann ist etwa 60, so genau weiß er es nicht. Sein ganzes Leben hat er in Ziegeleien gearbeitet. Dort schleppte er die tonhaltige Erde, mischte sie mit Wasser, knetete sie und formte Ziegel daraus. 14 Stunden pro Tag, von der Morgendämmerung bis in die Nacht, etwa 1.000 Ziegel pro Tag.

Ein Mann steht mit einer Ziege vor einer kleinen Steinhütte

Bachando Machi in Azad Nagar, Februar 2018.

Vor zehn Jahren verlor er zum ersten Mal seine Freiheit. Er habe Geld von einem Ziegeleibesitzer geliehen, an die Summe kann er sich angeblich nicht mehr erinnern. "Drei Jahre habe ich mit meiner Frau und fünf Kindern für ihn geschuftet", sagt Machi. "Wir schliefen auf dem Lehmboden in einem winzigen fensterlosen Raum, hatten keine Möbel und kein fließendes Wasser. Das Leben war eine Hölle." Natürlich kassierte der ­Ziegeleibesitzer trotzdem eine hohe Miete.

Nach ihrer Befreiung durch die GRDO lebte Familie Machi mehrere Jahre in Azad Nagar. Aber es war schwer, einen gut ­bezahlten Job in der Umgebung zu finden. "Wir gingen in die weiter nördlich gelegene Stadt Hala, um in einer Ziegelei zu arbeiten", sagt Machi. Dort wurde sein Sohn krank und brauchte dringend Medikamente. Der Vater sah keinen anderen Ausweg, als sich wieder Geld von dem Ziegeleibesitzer zu leihen. Und alles begann von vorn. "Der Zamindar trickste beim Ziegelzählen, zahlte wenig Lohn und berechnete hohe Zinsen auf das Darlehen", schimpft Machi. "Ein Jahr hielt er uns fest, erst vor einer Woche kamen wir frei."

Der alte Mann hat keine Angst vor harter Arbeit. "Ich werde auch hier hart schuften müssen, um meine Familie zu ernähren", sagt er. "Aber ich arbeite auf eigene Rechnung. Und: Ich kann mich frei bewegen und das verdiente Geld ausgeben, ­wofür ich will. Als Leibeigener bist du immer der Verlierer."

Die Green Rural Development Organisation ist in der Millionenstadt Hyderabad zu Hause. Sie wird finanziell von der norwegischen Menschenrechtsstiftung, von der US-Hilfsorganisation Care und der Internationalen Arbeitsorganisation ILO unterstützt. Außer Azad Nagar hat sie noch zwei weitere Dörfer für ehemalige Leibeigene in der Provinz Sindh gegründet. Für Großgrundbesitzer ist die GRDO Feind Nummer eins. "Unsere Aktivisten werden immer wieder angegriffen", schimpft der Menschenrechtler Hyder. "Auch ich erhielt bereits Morddrohungen." Aus Rache lassen die Zamindars manchmal auch gegen die befreiten Sklaven unter falschen Vorwand ermitteln. "Die Polizei ist korrupt", sagt Hyder. "Man zitiert falsche Zeugen, die den Leibeigenen Diebstahl vorwerfen."

Wie skrupellos die Sklavenhalter in Pakistan sind, hat auch Fatima Ghulam erfahren müssen. Schergen eines Ziegeleibesitzers bei Lahore im Nordosten des Landes zerschossen ihr und ihrem Bruder die Knie, weil sie sich für die Rechte der Leibei­genen in seiner Ziegelei einsetzte. Damals war sie 22 Jahre alt. Heute ist Fatima Ghulam 49 – und kämpft weiter gegen die ­Sklavenhalter in der Provinz Punjab. Sie hat bislang mehr als 80.000 versklavte Arbeiter vor Gericht freigeboxt.

Die Frau, die nach dem örtlichem Brauch immer eine Dupatta, einen großen Schal über Kopf und Schulter trägt, wird oft mit Harriet Tubman verglichen. Die ehemalige Sklavin hatte Mitte des 19. Jahrhunderts vielen schwarzen Sklaven in den USA zur Flucht nach Kanada verholfen. Schon 1990 gründete Fatima Ghulam die Front zur Befreiung von Zwangsarbeit.

Eine Frau mit weißem Kopftuch blickt ernst in die Kamera

Fatima Ghulam im Februar 2018.

Fatima Ghulam wünscht sich mehr internationalen Druck auf die Regierung. "Die EU könnte Importerleichterungen für pakistanische Produkte mit der Einhaltung von internationalen Konventionen verknüpfen", sagt sie. "Das dürfte unserer Regierung mehr Ansporn geben, die Sklaverei zu beenden."

Immerhin: Um die Finanzierung ihres Vereins muss sie sich keine Sorgen mehr machen. 2015 veröffentlichte ein US-Fotograf ihre Geschichte im Internet. Daraufhin spendeten rund 75.000 Menschen innerhalb weniger Tage mehr als 2,3 Millionen Dollar. Mit dem Geld errichtet sie nun ein großes "Freiheitszentrum" in Lahore. Befreite Zwangsarbeiter sollen dort psychologischen Beistand bekommen und einen Beruf erlernen.

Doch die Bauarbeiten kommen nur langsam voran. "Die Ziegeleibesitzer nutzen ihren Einfluss, um den Bau des Zentrums zu behindern", sagt Ghulam. Alles dauere länger als ­normal: die Baugenehmigung, der Anschluss von Strom oder Wasser. Einige pakistanische Zeitungen haben ihr deshalb ­bereits die Veruntreuung der Millionenspenden vorgeworfen. "Früher oder später werden wir es schaffen", sagt die Frau, die an ihre Mission glaubt. "Ich will etwas hinterlassen, das mich überlebt."

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