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Kultur am Boden

Leben im Freien und im Zelt: Unterkunft der Raute
© Martin Zinggl
Zwischen staatlichen Zuwendungen und nomadischer Freiheit: Die letzten nicht sesshaften Indigenen Nepals wenden sich immer mehr von ihren Traditionen ab.
Aus Bestada, Birendranagar und Kathmandu von Martin Zinggl (Text und Fotos)
Ein Talkessel im Westen Nepals. Tiefe Schluchten, durch die sich ein Fluss schlängelt, an den Hängen krallen sich Laub- und Nadelbäume fest. Direkt am Straßenrand, in der Nähe der 1.500 Einwohner-Gemeinde Bestada, fällt ein Mann in Seelenruhe einen 100 Jahre alten Salbaum – Nepals wertvollstes Holz.
Surya Narayans Körper ist Zeugnis eines jahrzehntelangen Überlebenskampfes: Arme und Beine sind übersät mit Narben, die Haut gleicht gegerbtem Leder, seine Hände sind rau wie Schleifpapier, die langen Fingernägel spröde. Er trägt zerschlissene Sandalen, aus denen verhornte Fersen hervorschauen, mit Blut und Erde verschmierte Leinentücher und darüber einen roten Umhang, der ihn als Oberhaupt von Südasiens letzten nomadischen Jäger*innen und Sammler*innen kennzeichnet: den Raute. Da sich ihr Lebensraum auf Nepals Wälder beschränkt, die sie seit Jahrhunderten durchstreifen, nennen sie sich selbst ban ko raja, Könige des Waldes.
144 Menschen, 46 Zelte, dazwischen Feuerstellen
Kaum liegt der Stamm am Boden, hackt Surya Narayan Äste, Zweige und Krone ab, hievt den nackten Stumpf auf seine Schulter. Der Mittvierziger läuft flott. Auf der Fahrbahn kleben zerquetschte Schlangen, am Straßenrand trocknen Chilischoten. An einer Abzweigung schaut eine Menschentraube aus Bewohner*innen Bestadas durch ein Dickicht aus Bäumen, Stauden und Sträuchern hangabwärts in das Lager der Raute: 144 Menschen, 46 Zelte, einige Ziegen und Hühner, dazwischen Feuerstellen, aus denen Rauch aufsteigt. "Könige des Waldes", sagt einer der Beobachter. "Wilde", brummt ein anderer. "Schnorrer", ruft ein Dritter. Ein paar Kinder werfen Steine den Hang hinunter.
Unter den Schaulustigen ist auch Dinesh Thapa, ein 32-jähriger Bauer, der unfreiwillig für den derzeitigen Lebensraum der Raute sorgt: Eines seiner Reisfelder, umgeben von dichtem Wald, dient ihnen als Lager – ohne seine Billigung. "Vor drei Tagen waren sie plötzlich da, und nun traue ich mich nicht mehr auf mein eigenes Land", sagt er. Thapa weiß, dass die Nomad*innen erst weiterziehen werden, wenn ein Mitglied der Gruppe stirbt oder die Ressourcen, die ihnen der Wald gibt, nicht mehr ausreichen – das kann bis zu drei Monate dauern.

Fällen auch wertvolle Salbäume: Junge Raute bei der Arbeit im Wald
© Martin Zinggl
Danach werden sie ihm ein verwüstetes Stück Land zurücklassen, das Jahre braucht, um sich zu erholen, zerschunden wie eine Festivalwiese, auf der wochenlang gelebt wurde, auf der Müll und Exkremente von rund 150 Menschen zurückbleiben, in deren näherer Umgebung alle Bäume abgeschlagen wurden, um zu wohnen, zu heizen und zu kochen. Eine staatliche Entschädigung wird es für den Bauern nicht geben. "Die Raute dürfen machen, was sie wollen, weil sie gefährdet sind. Gesetzlose, die das Gesetz beschützt", sagt Thapa. "Wir bekommen nichts von der Regierung, sie bekommen alles. Das ist keine Gleichberechtigung." Für Thapa und die anderen Bewohner*innen in der ärmsten Provinz in einem der ärmsten Länder der Welt bedeutet jede Rupie mehr wieder einen Tag Leben.
Konflikte mit den Ansässigen
Als Surya Narayan samt Baumstamm an den neugierigen Zaungästen vorbeikommt, prasseln Fragen auf ihn ein. "Warum ziehst du dir keine Hosen an wie alle anderen?" "Wieso suchst du dir keine Arbeit?" "Warum zerstört ihr unser kostbares Holz?" "Wann zieht ihr endlich weiter?" Surya Narayan, dessen Name übersetzt "Sonnengott" bedeutet, bleibt die Antworten schuldig. Stattdessen lädt er seine Last ab. "Ich will mich nicht ansiedeln", sagt er. "Meine Kinder werden niemals sesshaft werden." Die Männer murmeln, einer lässt sich nicht abwimmeln: "Wir sind stolz auf euch, weil ihr Nepals letzte Nomaden seid. Wir haben alle mal im Wald gelebt, aber es ist Zeit, dass auch ihr euch entwickelt." Surya Narayan blickt zu Boden. In der Defensive fällt es dem Raute schwer, königliche Haltung zu bewahren.
"Habt ihr gefragt, ob ihr auf diesem Land sein dürft?" Das Oberhaupt der Raute hat die Hände hinter dem Rücken gefaltet. "Warum sollten wir?", fragt er zurück mit der gleichgültigen Arroganz jener Menschen, die schon oft herausgefordert wurden. Aus seiner Sicht ist die Situation klar: Als Volk königlicher Abstammung haben die Raute jedes Recht der Welt, so will es die Legende der Ahnen, die von Generation zu Generation weitergetragen wird. Aber die Wissenschaft ist sich über ihre Herkunft uneins, es existiert keine dokumentierte Geschichte der Nomad*innen. In der ersten schriftlichen Erwähnung aus dem 6. Jahrhundert werden sie als Nachkommen einer Gruppe "barbarischer" Waldbewohner*innen aus dem Himalaja bezeichnet – in krassem Gegensatz zur Eigenwahrnehmung der Gemeinschaft, die ihren royalen Status betont. In Grundzügen folgt ihr Glaube dem Hinduismus, und sie ordnen sich selbst – nach den Brahmanen, den obersten Gelehrten – als zweithöchste Kaste im nepalesischen Kastensystem ein.
Ein Leben in Freiheit?
Erhobenen Hauptes trippelt Surya Narayan in das Lager, wo es nach Rauch, nassem Laub und fermentiertem Reis riecht. Vereinzelt tritt er auf Verpackungen von Kartoffelchips, Schokolade und Instant-Nudeln. Dazwischen Zigarettenstummel, leere Päckchen Kautabak und zertretene Plastikflaschen: Karnali Deluxe, steht darauf geschrieben, Extra Dry, 300 Milliliter, 17,12 Prozent Alkohol. Frauen holen Wasser oder sitzen auf dem Boden und schaben Gras ab, entfernen Wurzeln aus der Erde, um den Untergrund zu glätten, auf dem die Zelte errichtet wurden. Kinder spielen Fangen mit einer Ziege. Am Waldrand fällen einige Männer Bäume, andere hacken Holz, weitere schnitzen Schüsseln und Truhen daraus. Ein neues Zelt entsteht: Surya Narayans Pfeiler wird in ein Loch im Boden gerammt, Querverstrebungen werden verlegt, Planen und Tücher darüber gespannt.

Raute beim Einkauf im Dorf
© Martin Zinggl
In Flüssen schwimmen, von Quellen trinken, jagen und fischen, Beeren, Wurzeln, Pilze und Honig essen, als Gemeinschaft durch Wälder pirschen. Ein Leben in Freiheit und im Einklang mit der Natur – so oder so ähnlich klingen Klischees über den Alltag der Nomad*innen. Doch die Raute leben in keinem Klischee. Knochenarbeit, Krankheiten und Konflikte prägen ihr Dasein, das sich beständig am Existenzminimum abspielt, sie sind Wald, Wetter und Wildtieren ausgesetzt. Ihr größter Gegner heißt jedoch Zivilisation.
Finanzspritzen, Nahrungsmittel- und Sachspenden der nepalesischen Regierung und etlicher Nichtregierungsorganisationen manövrierten die Raute in eine Abhängigkeit, aus der sie nicht mehr herausfinden. Zunehmender Austausch mit der Außenwelt brachte die Indigenen in Kontakt mit Geld, Alkohol, Tabak und Industrienahrung – Verlockungen, denen viele verfielen. Seitdem jagen sie seltener, haben verlernt, sich selbst zu versorgen, sind süchtig nach dem nächsten Rausch, und ihre Mobilität hat sich verringert. Nepals Regierung schiebt die Nomad*innen in Richtung Sesshaftigkeit, möchte die Gemeinschaft assimilieren und Staatsbürger*innen aus ihnen machen, vorgeblich, um ihnen das Leben zu erleichtern und um ihre Kultur vor dem Untergang zu schützen. Dagegen wehren sich die Raute und halten trotz aller Einflüsse an ihrem Nomadentum fest.
Personalausweise feierlich überreicht
Früher oder später wird sie dasselbe Schicksal ereilen wie nahezu alle Jäger- und Sammlergesellschaften in den vergangenen 10.000 Jahren zuvor: die Sesshaftigkeit. Glaubt man der nepalesischen Regierung, dauert es vermutlich keine zehn Jahre, bis sich die Raute endgültig ansiedeln werden. Das behauptet zumindest Anita Gyawali, Leiterin der "Raute-Task-Force" in der Provinzhauptstadt Birendranagar. Die 36-jährige Beamtin soll dafür sorgen, dass dieser Prozess geregelt abläuft. Gyawali ist überzeugt: "Ohne Hilfe von außen sind die Raute nicht mehr überlebensfähig. Ihre Kultur ist nicht mehr ursprünglich, aber sie können auch noch nicht mit den neuen Einflüssen umgehen. Früher oder später werden sie von sich aus um Unterstützung bei der Ansiedlung bitten. Oder sie trinken sich zu Tode."
Um die Raute und ihre Kultur vor dem Untergang zu schützen und um ihnen das Leben zu erleichtern, sollen alle 144 Männer, Frauen und Kinder in den nepalesischen Staat integriert werden. Der erste Schritt in diese Richtung waren Personalausweise, die den Raute vor wenigen Jahren zeremoniell überreicht wurden. Nur wenige Wochen später waren alle Karten weggeworfen oder verbrannt – die Nomad*innen wollten ihre Identität nicht auf einem Stück Papier sehen. Doch in der Datenbank des zuständigen Ministeriums sind alle Mitglieder der Gruppe weiterhin abrufbar.
Warum verfällt eine Kultur, die den Großteil der Menschheitsgeschichte überlebt hat, innerhalb weniger Jahrzehnte? Eine mögliche Erklärung findet man in der drei Tage entfernten Hauptstadt Kathmandu in einer fünfstöckigen Villa. Das knallgelbe Bauwerk mit Säulen, Balkonen, Stuck und Vordächern beheimatet die NFDIN (National Foundation for Development of Indigenous Nationalities), ein staatliches Organ, das sich um die Anliegen der Indigenen und der Minderheiten in Nepal kümmert. "Wir wollten nur Gutes tun", sagt Divash Rai, der 46-jährige Projektleiter von NFDIN, "doch damit haben wir das Gegenteil erreicht."
Der Beamte spielt auf das Jahr 2008 an, als die Regierung begann, zehn gefährdete Minderheiten in Nepal finanziell zu unterstützen, darunter die Raute. Eine Initiative zur Rettung von Menschen, die gar nicht gerettet werden wollten. Das war der Anfang vom Ende. Divash Rai war vor Jahren das letzte Mal zu Besuch bei den Raute, von ihrer Lebensrealität hat er keine Vorstellung. "Wir haben die Raute nicht gefragt, was sie wirklich brauchen und wollen, sondern für sie entschieden", räumt er ein.
An diesem Umgang mit den Nomad*innen hat sich bis heute nichts geändert: Der Bürgermeister von Bestada hat eine Spendenaktion initiiert und lässt es sich nicht nehmen, die Geschenke persönlich im Lager der Raute zu übergeben. Vor den Augen der Nomad*innen und neugieriger Dorfbewohner*innen spielt sich eine Komödie ab wie auf einer Theaterbühne: Raute-Kinder flitzen den bewaldeten Hang hinunter in das Lager. Auf ihren Köpfen zusammengerollte Isomatten, die künftig als Schlafunterlage dienen sollen, damit die Raute nicht auf dem nackten Erdboden nächtigen – wie sie es schon seit Jahrhunderten zu tun pflegen. Ein weiteres Präsent, nach dem die Raute niemals gefragt haben. Vor dem Zelt des Anführers Surya Narayan werfen die Kinder die Last ab, um wieder zur Straße hochzueilen und neue Matten zu holen.
Stolzer Bürgermeister auf Social Media
Während sich die grauen Schaumstoffrollen türmen, zerrt ein Helfer des Bürgermeisters zwei Ziegen an einer Leine bergab. Die Kinder springen um ihn herum und schimpfen über die Qualität der Gabe, da eine der beiden Ziegen eine faustdicke Eiterbeule am Hals hat. "Wie eklig!", schreien sie. Beschämt hebt der Helfer ein Stück Stoff vom Waldboden auf und drückt der Ziege das Geschwür aus. Das Tier windet sich, die Kinder staunen, der Helfer wirft das volle Tuch weg und präsentiert die Ziege. "Die essen wir sicher nicht", entgegnen die Kinder und laufen davon. Der Helfer reicht der Vizebürgermeisterin die Leine mit den beiden Ziegen, sie übergibt an den Bürgermeister, und dieser händigt sie feierlich dem Anführer der Raute aus. "Zwei Ziegen für 46 Familien, das reicht nicht!", brummt Surya Narayan.

Ziegen als Geschenk: Abgesandte des Dorfes Bestada und einige Raute
© Martin Zinggl
Der Bürgermeister ignoriert ihn und lächelt in die gezückten Handykameras der Anwesenden. Es entstehen viele Fotos, die später auf Facebook gepostet werden. Auf einem der Fotos sind zu sehen: ein stolzer Bürgermeister, seine zufriedene Vertreterin, 96 Isomatten, zwei verwirrte Ziegen, die sich losreißen wollen, und drei verloren dreinblickende Raute. 93 Likes gibt es dafür.
Wenig später im Zelt von Surya Narayan. Während der Gastgeber Reiswein trinkt, fischt er einen Gegenstand aus seinem Beutel: eine goldene Armbanduhr. Ungeschickt streift er das Schmuckstück über sein Handgelenk, es schlackert an seinem Arm. "Ein Geschenk vom Bürgermeister", sagt Surya Narayan. Wie alle Raute kann auch das Oberhaupt die Uhr nicht lesen. Zeit ist etwas, unter dem sich die Nomad*innen nichts vorstellen können, darum gibt es in ihrer Sprache kein Wort dafür. Vergangenheit und Zukunft sind in ihrer Welt irrelevant, "gestern" und "morgen" existieren nicht.
Was zählt, ist die Gegenwart, und in dieser straucheln die Raute. "Natürlich macht mich das Umherziehen müde", sagt Surya Narayan. "Aber wenn wir müde sind, schlafen wir einfach, und dann geht’s weiter." Er grinst und lässt die Armbanduhr wieder in seinem Beutel verschwinden.
Martin Zinggl ist freier Reporter und Autor. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.