Amnesty Journal 22. September 2017

Den Atlantik vor Augen

Zeichnung einer aufgeschlagenen Zeitschrift

Spanien zahlt Mauretanien viel Geld dafür, die Migration Richtung Kanaren zu kontrollieren. Die ehemaligen Sklaven, die Hratins, profitieren davon nicht.

Von Alexander Bühler, Nouakchott

Am Badestrand Nouakchotts zeigt die Jeunesse Dorée Mauretaniens, was sie kann. In schweren Geländewagen liefern sich die jungen Männer Wettrennen mit Fahrern von Quadbikes, mit heulenden Motoren pflügen die dicken Reifen durch den Sandstrand. Ihre Freunde beobachten das Spektakel begeistert, laut dröhnt Musik.

Zehn Kilometer weiter südlich, am Fischereistrand der Hauptstadt des westafrikanischen Landes, rieseln Fischschuppen in den Sand, eine Mauretanierin macht ihre Ware verkaufsfertig. Um sie herum Hunderte Menschen. Manche ziehen bunt bemalte Fischerboote an Land, andere bringen wagenradgroße Körbe zu Booten, die noch im Wasser liegen, und wieder andere torkeln mit gefüllten Körben voller Fisch zurück zu ihren Lagern. Eine pittoresk anmutende Szene, wären da nicht die vielen Polizisten, die misstrauisch die Fischer beobachten.

Die meisten der Arbeiter sind Senegalesen, angestellt von mauretanischen Bootsbesitzern, die ihnen einen kargen Lohn zahlen. Die Stimmung ist angespannt, immer wieder kommt es zu Streitereien. Denn viele Senegalesen sind hier, im Norden ­ihrer Heimat gestrandet, obwohl sie eigentlich weiter wollten. Doch der Weg nach Europa ist versperrt, dafür haben die spanische Regierung und die Europäische Union mit zahlreichen Verträgen gesorgt. Eine für viele westafrikanische Ausreisewillige wenig erfreuliche Lehre aus der Vergangenheit: Nachdem auf dem Höhepunkt der spanischen Migrantenkrise 2007 mehr als 31.000 Menschen an den Küsten der Kanarischen Inseln gelandet waren, begann Madrid auf eine Politik der Abschottung zu setzen. Die meisten Meeresmigranten hatten von senegalesischen oder mauretanischen Häfen abgelegt.

Die Bilder, die in anderen Teilen Europas erst 2015 über die Fernseher und Screens von Mobiltelefonen flackerten, waren deshalb in Spanien nicht neu: Tausende von Migranten, die nach einer gefährlichen Meeresüberfahrt an der Küste landeten, Leichen Ertrunkener, die an die Strände gespült wurden. Weil Spaniens frühere Kolonien in Nordafrika, Ceuta und Melilla, schon früher zu Festungen ausgebaut worden waren, erschienen die ­Kanareninseln wie das letzte Schlupfloch zur EU.

Doch bereits 2012 kamen nur 43 Migranten dort an. Die aus Sicht der EU erfolgreiche Migrationspolitik bedeutete für viele Senegalesen, dass sie in Mauretanien oft schlecht bezahlte Arbeiten als Haushaltshilfen annehmen mussten – in Städten wie Rosso, Nouakchott oder Nouadhibou. Einst war der Hafen des Atlantikorts Ausgangspunkt für die lange und gefährliche Reise Richtung Kanaren: Vier oder fünf Tage dauerte der Trip auf den sechs Meter langen Piroggen.

Doch damit ist es nun vorbei. Heute liegt in Nouadhibou der größte Schiffsfriedhof der Welt – und die maritime Müllhalde der EU. Reeder, denen die Abwrackung ihrer Schiffe zu teuer ist, ließen sie hierher schleppen, wo Wind und Wasser sie langsam ­zerfressen. Spanien zahlt Mauretanien viel Geld dafür, die Migration zu kontrollieren. Allein zwischen 2007 und 2011 flossen 150 Millionen Euro in Löhne für mauretanische Polizisten und Schiffe, die vor der Küste patrouillieren. Die dreißig Meter langen Kähne, die ebenfalls aus den Geldern aus Madrid bezahlt sind, werden von der spanischen Guardia Civil betrieben oder von deren westafrikanischen Kollegen. Auch für Hubschrauber und ein Radar-Überwachungssystem kam die spanische Regierung auf. Hinzu kommen Abschiebezentren und Rückführungsabkommen: Allein 2015 wurden mehr als 6.500 Flüchtlinge aus Spanien nach Mauretanien zurückgeschickt.

Diese Maßnahmen haben dazu geführt, dass die mauretanische Gesellschaft nach innen hin immer konservativer geworden ist. Denn im Interesse ihrer Migrationspolitik übersieht die EU, dass die mauretanischen Eliten der Bidans nach Belieben schalten und walten können – ihnen fließt das meiste Geld zu, obwohl sie nur dreißig Prozent der Bevölkerung stellen. Damit verhindert die Machtclique um Präsident Mohamed Ould Abdel Aziz nicht nur, dass Flüchtlinge aus den Nachbarländern in die EU reisen, sondern schottet auch die 3,5 Millionen Mauretanier von Veränderung und Modernisierung ab. Ein Trend, der während der großen Sahel-Dürre zwischen 1970 und 1990 begann. Die berberischen Nomaden verloren ­damals ihren Reichtum und mussten sich in den Städten ansiedeln. Die Sklaven, die sie sich nun nicht mehr leisten konnten, entließen sie. Doch die Macht, die sie vorher über sie gehabt ­hatten, blieb in ihrer Hand.

"Meine Eltern waren Sklaven, meine Großeltern waren Sklaven. Bis heute hält meine Familie Verbindungen zu unseren ehemaligen Herren."

Hamady
Lehbouss

Längst müsste er mit seiner Erfahrung und in seinem ­Alter Schuldirektor sein, so der Lehrer und Antisklaverei-Aktivist verbittert. Doch seine Herkunft als Hratin, als Nachkomme von Sklaven, verhindere das. Nicht einmal die Wohnung wechseln könne er ohne die Genehmigung seines ehemaligen Herrn.

Zugleich sorgen Gelder aus Saudi-Arabien für eine stärkere Islamisierung. Auf der staubigen Matte in ihrem kleinen Zelt blickt Mbarka Essatim stumm auf den Fernseher, wo ein islamischer Prediger seine Botschaften versendet. Reglos liegt ihr jüngster Sohn auf ihrem Schoß und lässt sich von ihr stillen. Ihre vier anderen Kinder spielen draußen im Sand des Quartier Arafat der Hauptstadt Nouakchott, wo viele Hratins leben. Wasser gibt es nur von einem Händler, der Staat investiert nichts.

Die Wüste fängt gleich hinter den Häusern und den Zelten an, pirscht sich immer weiter an die Vergessenen heran. Mbarka Essatim spricht mit leiser Stimme, als würde die Vergangenheit sie quälen: "Ich habe gearbeitet, soweit ich zurückdenken kann", sagt sie über ihre früheren Herren. "Wenn sie in die Wüste aufbrachen, ging ich mit. Ich habe alle Putzarbeiten für sie gemacht. Alles." Kurz vor der Pubertät sei sie das erste Mal vergewaltigt worden, und danach immer wieder, ehe sie sich von der Sippe ihrer Herren lossagte.

Und auch jene, die sich gegen die Herrschaft des von der EU umworbenen Präsidenten Abdel Aziz stellen, stehen am Rande der Gesellschaft – oder sitzen im Gefängnis. Menschen wie Mohammed Mkhaitir, der zum Tode verurteilt wurde, weil er einen Blogeintrag verfasste, in dem er die Meinung vieler junger Leute ausdrückte: Er kritisierte den Koran für die positive Darstellung der Sklaverei. In den Augen der Gerichte und der Islamisten machte er sich damit der Blasphemie schuldig, worauf in der ­Islamischen Republik Mauretanien das höchste Strafmaß steht. Doch weil das Todesurteil vom obersten Gericht des Landes wegen Verfahrensfehlern zurück an die unteren Gerichte gegeben wurde, gehen Hunderte seit Februar Freitag für Freitag gegen die Ungerechtigkeit des mauretanischen Justizsystems auf die Straße – zum Gefängnis in der Hafenstadt Nouabdhibou.

Sie protestieren dagegen, dass Mohammed Mkhaitir immer noch nicht hingerichtet wurde, obwohl sein Todesurteil seit Jahren feststeht. Dass es ihm bei seiner Kritik nicht um den Islam, sondern um die Sklaverei ging, fällt dabei unter den Tisch. Ebenso wie die Tatsache, dass die Migrationspolitik der EU den Stillstand im Land fördert.

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