Amnesty Journal Griechenland 15. Oktober 2024

Unterlassene Hilfeleistung vor Pylos

Im Sommer 2023 kamen mehr als 500 Flüchtende bei einem Schiffsunglück  vor der griechischen Küste ums Leben. Die Menschenrechtsorganisation Greek Refugee Council reichte im Namen von 53 Überlebenden Klage gegen die Küstenwache ein. Wie geht es nun weiter?

Von Julian Busch

Mehr als ein Jahr nach dem verheerenden Schiffbruch vor Pylos, einer der schwersten Havarien im Mittelmeer, haben die griechischen Behörden den Tod von mehr als 500 Menschen noch immer nicht aufgeklärt. Dabei zeigten die Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Human Rights Watch bereits im Dezember 2023 in einer gemeinsamen Analyse auf, dass die griechische Küstenwache verspätet und zu zögerlich Rettungsmaßnahmen einleitete. Und das, obwohl sie von der Notlage an Bord des Fischkutters "Adriana" wusste und dieser sich eindeutig in der griechischen Seenotrettungszone ­befand.

Die "Adriana" sank in den frühen Morgenstunden des 14. Juni 2023, rund 80 Kilometer südlich der südgriechischen Hafenstadt Pylos. Fünf Tage zuvor war der Kutter aus dem libyschen Tobruk in Richtung Italien aufgebrochen. An Bord befanden sich rund 750 Menschen aus Pakistan, Syrien, Ägypten, Afghanistan und den palästinensischen Gebieten, darunter viele Frauen und Kinder. Nur 104 Menschen überlebten, Hunderte gelten bis heute als vermisst. Das Unglück ereignete sich in einer Region, in der das Mittelmeer zwischen 4.000 und 5.200 Meter tief ist, auch deshalb konnte das Wrack bis heute nicht geborgen werden. 

Bereits 15 Stunden vorher informiert

Lefteris Papagiannakis, Direktor des Greek Refugee Council, einer griechischen Menschenrechtsorganisation, die Geflüchteten in Griechenland Rechtsbeistand leistet, bezeichnet die Aufarbeitung durch die griechischen Behörden bis heute als mangelhaft. "Uns war von Anfang an klar, dass die Küstenwache ihre Pflichten verletzt hat und wir deshalb den Opfern im Nachhinein helfen müssen", sagt Papagiannakis. Die griechische Küsten­wache sei bereits 15 Stunden vor dem Untergang informiert worden, dass sich das Boot in Seenot befinde. Das Greek Refugee Council reichte deshalb bereits im vergangenen Herbst gemeinsam mit einem Netzwerk von fünf weiteren Partnerorganisationen und Anwält*innen im Namen von 53 Überlebenden Klage gegen die Küstenwache ein. "Wir sehen eine ­Verletzung der Pflicht der griechischen Behörden, das Leben der Menschen auf dem Schiff zu schützen und betrachten dies als unterlassene Hilfeleistung." 

Die meisten Überlebenden reisten in andere EU-Länder weiter, doch bei einigen von ihnen, die aus Ägypten stammen, wurde der Asylantrag abgelehnt. Zudem litten viele noch immer an den Folgen des Unglücks, etwa an posttraumatischen Belastungsstörungen, sagt Papagiannakis. "Aufklärung wird bis heute verweigert." Grundlage der Klage sind neben Zeugenaussagen der Überlebenden auch Aussagen von Schiffsführer*innen, die sich zum Zeitpunkt des Unglücks in unmittelbarer Nähe befanden. Den Überlebenden zufolge versuchte die Küstenwache mehrfach, das Boot mit einem Seil abzuschleppen, woraufhin es schlingerte und kenterte. "Wir glauben, dass sie es aus der griechischen Rettungszone bringen wollten", sagt Papagiannakis.

Die griechische Justiz weiß jetzt, dass sie damit nicht mehr so einfach durchkommt.

Lefteris
Papagiannakis
Direktor des Greek Refugee Council

Die Küstenwache widerspricht. Das Schiff sei in internationalen Gewässern getrieben und gesunken, als die Küstenwache etwa 70 Meter entfernt gewesen sei. Aus den Augenzeugenberichten gehe jedoch hervor, wo und wie die Küstenwache die Leine an der "Adriana" befestigt habe, sagt Papagiannakis. Auch ein späterer Untersuchungsbericht der Europäischen Agentur für Grenz- und Küsten­wache Frontex kam zu dem Schluss, dass die Maßnahmen der Küstenwache zur Rettung der Menschen nicht ausreichend gewesen seien. Bis heute sei unklar, warum nur ein einziges Schiff der Küsten­wache zum Unglücksort geschickt wurde, sagt Papagiannakis. Angesichts der vielen Menschen an Bord grenze dies an grobe Fahrlässigkeit. 

Klage hat Aussicht auf Erfolg

Laut Papagiannakis hat die Klage gute Aussichten auf Erfolg. Dabei könnte ein ähnlicher Fall helfen, der sich am 20. Januar 2014 in Griechenland ereignete. ­Damals starben bei einem Bootsunglück elf Afghanen, darunter acht Kinder, als ihr Fischerboot nahe der Insel Farmakonisi sank. Die Überlebenden berichteten später, sie seien von der griechischen ­Küstenwache mit hoher Geschwindigkeit in Richtung Türkei geschleppt worden. Die griechischen Behörden stellten damals die Ermittlungen ein und legten den Fall zu den Akten, doch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nahm den Fall wieder auf und verurteilte die griechische Regierung wegen unterlassener Hilfeleistung. "Die griechische Justiz weiß jetzt, dass sie damit nicht mehr so einfach durchkommt", sagt Papagian­nakis. 

Er ist überzeugt, mit der Klage zumindest ein Mindestmaß an Gerechtigkeit ­erreichen zu können. "Verantwortliche müssen zur Rechenschaft gezogen und das Fehlverhalten muss juristisch aufgeklärt werden", sagt Papagiannakis. Als ­Erfolg sei auch die Einstellung eines Prozesses gegen neun ägyptische Männer zu werten. Die griechische Polizei nahm sie unmittelbar nach dem Unglück fest, sie wurden als mutmaßliche Schmuggler ­angeklagt. Die Behörden ließen die Anklage jedoch fallen, nachdem die Rechtsbeistände, darunter Anwälte des Greek Refugee Council, darlegten, dass sich der Fall in internationalen Gewässern abgespielt habe – innerhalb der griechischen Seenotrettungszone, aber außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des Gerichts in Kalamata.

Pushbacks auf See

Wann im Fall Pylos eine Entscheidung fallen könnte, ist unklar. "Wir können nur abwarten", sagt Papagiannakis. Das Verfahren sei von den Behörden deutlich verzögert worden. Es sei mehr als "bizarr", sagt Papagiannakis, dass die Mobiltelefone der Überlebenden unmittelbar nach der Katastrophe beschlagnahmt wurden, die der Beamten der Küsten­wache aber erst ein knappes Jahr später vorgelegt wurden, um sie für die Ermittlungen auszuwerten. 

Unmittelbar nach der Havarie vor ­Pylos gab es zwar einen Stopp der sogenannten Pushbacks an den griechischen Seegrenzen, also des Abwehrens von Flüchtlingsbooten oder des Zurückschiebens in internationale Gewässer. Inzwischen gehörten Pushbacks auf See aber wieder zur Normalität, sagt Papagiannakis. Immer wieder seien in den vergan­genen Monaten Boote gewaltsam daran gehindert worden, in griechische Gewässer einzulaufen.

Ein erfolgreiches Urteil zugunsten der Überlebenden könnte als juristische Grundlage für weitere Prozesse dienen. "Wir bringen noch viele weitere Fälle vor Gericht", sagt Papagiannakis. Allein in diesem Sommer würden 35 Fälle vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verhandelt. Denn Pylos sei kein Einzelfall. Solange die Küstenwache weiter Boote mit Menschen auf der Flucht ­gewaltsam aus griechischen Gewässern zurückdränge, sei es nur eine Frage der Zeit, bis abermals ein Unglück passiere. Die Realität an den griechischen Außengrenzen sei unmenschlich, sagt Papagiannakis. "Deshalb machen wir mit unserer Arbeit weiter."

Julian Busch ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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