Amnesty Journal 31. Oktober 2024

Mit der Blase leben

Eine Buchseite aus einer Graphic Novel, in der im Comic-Stil eine Frau mit Brille abgebildet ist, die in ein abgeschnittenes Kabel wie in ein Mikrofon spricht: "Was habt ihr mit meinem Vater gemacht!!??"

Szene aus "Der Große Reset": Gegen die Macht der Algorithmen kann die Tochter mit Argumenten nichts ausrichten.

Ika Sperlings Vater driftete in rechtsextreme Kreise ab. Ihr Buch "Der Große Reset" erzählt davon, wie Radikalisierung eine Familie zerstören kann.

Von Nina Apin

Der Vater verliert durchsichtige Flüssigkeit, während er vom bevorstehenden Bürgerkrieg in Europa spricht: Bald machten die Supermärkte dicht, der Strom werde abgedreht. Dann aber werde er außer Landes sein. Seine Arbeitsstelle habe er bereits gekündigt, das Haus sei so gut wie verkauft … Plitsch, ein Tropfen landet auf dem Frühstücksteller der Tochter, die versucht, mit zaghaften Sprechblasen den Wortkaskaden des Vaters etwas entgegenzusetzen. Nur was? Sie verlässt die Küche, während der Vater tropfend vor der Spülmaschine steht.

"Natürlich war mein Vater keine mit Wasser gefüllte Blase", sagt die Illustratorin Ika Sperling lakonisch, während sie in einem Hamburger Museumscafé in ihrem Tee rührt, "aber der Rest kommt ungefähr hin". Sperling verlor ihren Vater an Verschwörungserzählungen. "Es war ein schleichender Prozess", erinnert sie sich.

"Während der Pandemie eskalierte es"

Bereits 2014 fing der Vater an, Narrativen zu folgen, die von der AfD und ihrer Umgebung verbreitet wurden. Zuerst war zu Hause plötzlich die Flüchtlingspolitik der Regierung ein Thema, auf die der Vater einen Großteil der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und auch seiner persönlichen Probleme zurückführte. Er verbrachte immer mehr Zeit auf YouTube, versorgte sich im Internet mit "alternativen Fakten". "Während der Coronapan­demie eskalierte es dann derart, dass ich kaum noch mit ihm reden konnte", so ­beschreibt es Sperling. Um Streit zu vermeiden, wurden immer mehr Themen im Gespräch ausgespart, was sie und ihre ­Familie viel Kraft kostete – und letztlich vergebens war.

Ika Sperlings Vater durchlief eine klassische Radikalisierung. Laut einer Studie der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz aus dem Februar 2022 sind Menschen mit extremen politischen Einstellungen besonders anfällig für Verschwörungsmythen. Die Coronapandemie? Eine Erfindung der Eliten, um Bürger*innen mit fragwürdigen Impfstoffen zu kontrollieren. Der Ukrainekrieg? Auch nur erfunden, um Menschen ins Land zu schleusen und eine Ökodiktatur zu errichten. Sperlings Vater glaubte tatsächlich, davor fliehen zu müssen. Er bereitete sein Exil in Paraguay vor, ein Land, in das während der Coronapandemie rund 2.500 Deutsche auswanderten, um Masken- und Impfpflicht zu umgehen. Das südamerikanische Land hat eine große deutschsprachige Community, niedrige Steuern und Bodenpreise und einen schwachen Staat, was es zum Sehnsuchtsziel der Szenen der Querdenker und Reichsbürger machte.

Sperlings Vater ist inzwischen verstorben, ob in Paraguay oder in Deutschland, darüber möchte sie nicht sprechen. Um ihre Familie zu schützen und wohl auch, weil es noch weh tut. Die 28-Jährige, deren buntes Outfit – Regenbogenpulli, grüner Trenchcoat, auffällige Schleifen im Haar – im Gegensatz steht zu ihrer trockenen Art, redet lieber über ihr Buch. Das liegt vor ihr auf dem Tisch und heißt "Der Große Reset". "The Great Reset" hieß ursprünglich ein Konzept des Weltwirtschaftsforums in Davos für eine nachhaltigere Wirtschaft und Gesellschaft nach der Coronapandemie. In Verschwörungskreisen bezeichnet der Ausdruck die angeblichen Pläne einer "Elite", eine neue Weltordnung zu ihren Gunsten zu errichten.

Eine Familie in Auflösung

Ika Sperling, die in Hamburg an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Illustration studiert hat, machte die Erlebnisse mit ihrem Vater zum Thema ihrer Abschlussarbeit. Auf 176 mit Aquarell kolorierten Seiten zeichnete sie sich alles von der Seele: Das Schweigen zu Hause, die Tiraden des Vaters, die zunehmende Isolierung der Familie im Ort. Die Handlung spielt sich an einem Wochenende ab, an dem die Studentin Ika ihre Familie in "Bad Kaffheim" besucht. Dort ist alles in Auflösung: Die jüngere Schwester Bella verschanzt sich in ihrem Zimmer, die Mutter hält an der Illusion fest, man sei eine intakte Familie – während der Vater hinter ihrem Rücken die Scheidung und den Hausverkauf vorbereitet.

Die Person verschwimmt langsam vor deinen Augen, du kannst nichts machen.

Die Farben im Buch sind zart, es überwiegen Blautöne. Ursprünglich war die Flüssigkeitsblase ein Platzhalter, weil sie nicht wusste, wie sie ihren Vater zeichnen sollte, erzählt Ika Sperling. Doch dann habe die Wasserthematik bestens zu der Erfahrung gepasst, einen geliebten Menschen an die Welt der Verschwörungen zu verlieren. "Die Person verschwimmt und verrinnt langsam vor deinen Augen, du kannst sie nicht festhalten", sagt sie leise. Und sie erzählt, wie sie als 16-Jährige anfangs noch versuchte, mit Fakten und Argumenten in langen Diskussionen dagegenzuhalten. Aber "gegen die Flut von YouTube- und Telegram-Videos, die er konsumierte, kam ich einfach nicht an." Im Buch schneidet die Protagonistin alle Internetkabel durch und schreit: "Was habt ihr mit meinem Vater gemacht?"

Es habe schon vor dem Internet Verschwörungsmythen gegeben, sagt Ika Sperling, und eine Netzzensur könne keiner wollen. Sie sei selbst viel online unterwegs. Da sie als Legasthenikerin nicht gern lange Texte lese, informiere sie sich über YouTube-Clips und Podcasts – "aber nur aus vertrauenswürdigen Quellen". Dennoch hält sie es für ein Riesenproblem, dass Online-Netzwerke große Mengen an Desinformationen in Sekundenschnelle über den ganzen Globus verbreiten: Ein lokales Hirngespinst wie der "QAnon"-Mythos von kindertötenden "Eliten", im US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 aus dem Lager um Donald Trump gegen die demokratische Kandidatin Hillary Clinton lanciert, findet inzwischen auch in Deutschland Anhänger*innen.

Gefährliche Erzählungen

Während die Algorithmen immer extremere Inhalte ausspielen, nehmen Desinformationskampagnen zu und Angriffe auf Journalist*innen häufen sich. "Deshalb mag ich das Wort 'Schwurbler' nicht", erklärt Sperling. Sich mit diesem abwertenden Begriff für Menschen, die wirres Zeug reden, über Verschwörungsgläubige zu erheben, sei nicht hilfreich. Zudem sei der Begriff verharmlosend: "Solche Erzählungen stellen eine konkrete Gefahr dar. Die macht sich in häufigeren Angriffen auf Asylunterkünfte, Politiker*innen und queere Menschen bemerkbar, aber auch durch die Leugnung des Klimawandels."

Was hilft? Ika Sperling lacht ihr trockenes Lachen und zieht die Schultern hoch: "Wenn ich kleine Comiczeichnerin das wüsste!" Ihr Buch sei kein Ratgeber, aber vielleicht ein Trost für Angehörige in einer ähnlichen Situation. Als sie nicht weiterwusste, wandte sie sich an eine Sektenberatung. Dort gab man ihr den Tipp, ihre Energie statt in aufreibende persönliche Konfrontationen lieber in zivilgesellschaftliche Arbeit zu stecken. Seither engagiert sich Sperling bei einer Selbsthilfegruppe und organisiert Diskussionsveranstaltungen.

Deswegen gerät sie mitunter selbst in den Fokus wilder Spekulationen. "Es gab skurrile Vorwürfe wie den, dass ich eine verwöhnte Göre sei, die mit Papas Geld studiert. Ja, schön wäre es gewesen!" In Wirklichkeit jobbte sie in einer WG für behinderte Menschen und arbeitete nachts an ihrem Buch. Die Mühe hat sich gelohnt. Für "Der Große Reset" hat Sperling den Hamburger Literaturpreis in der Kategorie "Comic" bekommen. Und sie hat ein Stück Selbstbestimmung zurückgewonnen: "Am Ende habe ich aus etwas Schlimmem, das mir passierte, etwas gemacht, das ich selbst erzählen kann".

Ika Sperling: Der Große Reset. ­Reprodukt, Berlin 2024, 176 Seiten, 24 Euro.

Nina Apin ist freie Journalistin und Autorin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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