Amnesty Journal Deutschland 05. Februar 2018

Schüler zweiter Klasse

Zeichnung einer aufgeschlagenen Zeitschrift

Für Kinder von Flüchtlingen gilt die Schulpflicht nicht in ­allen Bundesländern. Damit verstößt Deutschland gegen die UN-Kinderrechtskonvention.

Von Michaela Ludwig

Julian Hoxha schaut auf die Einkaufsliste. "Kartoffeln, Brot, Tee", liest er ab und schiebt dabei schüchtern seine Mütze nach hinten. Der Zehnjährige steht vor einem Holztisch, darauf Milchtüten, eine Ravioli-Dose, ein leeres Kartoffelnetz und ein Karton Cornflakes. "Du musst sagen, was du haben möchtest", sagt die Lehrerin, die mit zehn weiteren Schülern in einem Halbkreis hinter dem arrangierten Lebensmittelladen sitzt. "Ich möchte Kartoffeln", sagt Julian.

Einkaufen und Bezahlen sind heute Thema im Deutschunterricht für die 9- bis 15-Jährigen aus der Zentralen Unterbringungseinrichtung (ZUE) des Landes Nordrhein-Westfalen in Oerlinghausen bei Detmold. Knapp 50 Kinder im schulpflichtigen Alter leben in den Gebäuden der ehemaligen Fachklinik. Aufgeteilt in zwei Gruppen lernen sie in einer Baracke auf dem eingezäunten Gelände eine Stunde Deutsch am Tag, unabhängig von ihren Vorkenntnissen. Heute übt die Lehrerin beim Thema Bezahlen auch das Kopfrechnen. Mehr Fächer haben die Kinder nicht.

"Das ist kein richtiger Unterricht", sagt Ardian Hoxha mit erregter Stimme. "Unsere Kinder müssen endlich auf eine ordentliche Schule gehen." Der Mittvierziger und seine Frau Adelina sitzen nebenan im Büro der Asylverfahrensberaterin Svenja Haberecht von der Flüchtlingshilfe Lippe. Vor zweieinhalb Jahren ist das Ehepaar mit seinen drei Kindern aus dem Kosovo nach Deutschland gekommen. Etwa zeitgleich wurde der Balkanstaat zum "sicheren Herkunftsland" erklärt und ihr Asyl­antrag abgelehnt. Während sie auf die Entscheidung über den Folgeantrag warten, wohnte die Familie in diversen Flüchtlingsunterkünften. "Julian war im Kosovo in der zweiten Klasse", sagt der Familienvater. "Jetzt ist er zehn Jahre alt, und ich habe Angst, dass er das wenige, was er kann, auch noch verlernt."

Vier Mitarbeiter des Vereins Flüchtlingshilfe Lippe beraten in der ZUE Oerlinghausen knapp 200 Bewohner, die vor allem vom Westbalkan stammen. Einige Familien, wie die Hoxhas, sind seit mehr als zwei Jahren im Land. Die durchschnittliche Verweildauer in solchen Erstaufnahmeeinrichtungen beträgt laut der zuständigen Bezirksregierung Detmold 8,8 Monate. "Wir unterstützen die Menschen bei Klageverfahren, bei der Beantragung von Krankenscheinen und medizinischen Dokumenten", erläutert die Beraterin Svenja Haberecht. "Beim Schulbesuch können wir jedoch nicht weiterhelfen." Der Deutschunterricht für Julian und die anderen Kinder in der Einrichtung sei ein freiwilliges und zusätzliches Angebot des Heimbetreibers.

Anspruch auf einen Schulplatz haben die Kinder aus der ZUE Oerlinghausen nicht, obwohl hierzulande die allgemeine Schulpflicht sowie die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen und damit das Recht auf Bildung gelten. Sie sind kein Einzelfall: In Nordrhein-Westfalen, aber auch in Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt unterliegen Kinder und Jugendliche in den Erstaufnahmeeinrichtungen des Bundeslandes laut der jeweiligen Landesverfassung nicht der Schulpflicht. Diese setzt erst ein, wenn sie mit ihren Familien in die Kommunen verteilt worden sind.

In anderen Bundesländern werden die Kinder erst nach drei oder sechs Monaten Aufenthalt in Deutschland schulpflichtig. Einzig in Berlin, Hamburg, dem Saarland, Sachsen und Schleswig-Holstein gilt die Schulpflicht für geflüchtete Kinder sofort.

Wie viele Kinder aktuell nicht beschult werden, darüber gibt es keine offiziellen Zahlen. Tobias Klaus vom Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (B-UMF) schätzt, dass sich zuletzt mehr als 10.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland in Erstaufnahmeeinrichtungen befanden, die nicht beschult wurden oder lediglich Sprachunterricht erhielten. Dabei stützt er sich auf die Ergebnisse der Studie "Kindheit im Wartezustand" des Kinderhilfswerkes Unicef. In einer nichtrepräsentativen Umfrage unter den Mitarbeitenden von Erstaufnahmeeinrichtungen gab jeder zweite an, dass lediglich interne Klassen oder Sprachkurse angeboten werden. In jeder fünften Einrichtung werden die Jungen und Mädchen überhaupt nicht beschult.

Das Problem ist das seit 2015 geltende Asylbeschleunigungsgesetz. Damit wurde die maximale Verweildauer der Geflüchteten in Landeserstaufnahmeeinrichtungen bundesweit von drei auf sechs Monate verdoppelt. Laut der Unicef-Umfrage ist auch ein noch längerer Aufenthalt nicht ungewöhnlich. So gaben 22 Prozent der Befragten an, dass sich die Zeitspanne auf bis zu ein Jahr ausdehnen könne. Kinder und Jugendliche aus sicheren Herkunftsländern, zu denen alle Westbalkanstaaten zählen, können seit Inkrafttreten des Asylpakets II im Februar 2016 sogar auf unbegrenzte Zeit in den Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht werden – bis sie freiwillig ausreisen oder abgeschoben werden.

"Diese Kinder werden teils gar keiner Kommune mehr zugewiesen und erlangen damit in Bundesländern mit entsprechenden Regelungen keine Schulpflicht", sagt Kinderrechtsexperte Dominik Bär vom Deutschen Institut für Menschenrechte. Tobias Klaus vom B-UMF wertet das Vorgehen als "Diskriminierung und Verstoß gegen internationale, europäische und verfassungsrechtliche Vorgaben". Dessen ungeachtet hat die Bundesregierung durch das Gesetz "zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht" den Weg freigeräumt, dass nun zusätzlich auch Familien "ohne Bleibeperspektive" dauerhaft in den Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht werden.

In der bayerischen Spezialeinrichtung für Flüchtlinge in Manching bei Ingolstadt wehrt sich eine Familie nun gegen die Rückstufung ihrer zwei Kinder in die einrichtungsinterne Klasse. Die Kinder hatten zuvor drei Jahre eine Regelschule besucht und sprechen gut Deutsch. "Es ist nicht zu begründen, warum sie zurück in eine Übergangsklasse gehen müssen, in der der Spracherwerb im Vordergrund steht", sagt auch die Ausländer- und Asylrechtsanwältin Katharina Camerer. Der Schulbesuch wurde jedoch nur vorübergehend gestattet – bis im September 2016 ein neuer Absatz des bayerischen Integrationsgesetzes in Kraft trat. Er schreibt fest, dass Kinder, die sich in den besonderen Aufnahmeeinrichtungen aufhalten müssen, ausdrücklich nicht in Regelschulen, sondern in "besonderen", dort "eingerichteten Klassen und Unterrichtsgruppen" beschult werden.

Für Katharina Camerer verstößt auch diese Regelung gegen die UN-Kinderrechtskonvention. "Das Recht auf Bildung ist nur sichergestellt, wenn die Kinder gemäß ihren Vorkenntnissen und sprachlichen Fähigkeiten unterrichtet werden", sagt die ­Juristin. Sollte die Behörde den Besuch der Regelschule wieder verbieten, will sie den Eltern helfen, auf rechtlichem Wege dagegen vorzugehen. 

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