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"Viele verleugnen ihre Herkunft"

Antiziganismus ist in Deutschland weit verbreitet. Rassistische Stereotype gegen Sinti*zze und Rom*nja bestehen fort, sagt Mehmet Daimagüler. Der Menschenrechtsanwalt ist seit Mai der erste Antiziganismusbeauftragte der Bundesregierung. Hier erzählt er, was er auf diesem Posten vorhat.
Interview: Hannah El-Hitami
Was sind die Besonderheiten des Antiziganismus im Vergleich zu anderen Formen des Rassismus?
Wir haben beim Antiziganismus das Problem, dass das eine Form des gesellschaftlich akzeptierten Rassismus ist und deswegen bestritten wird, dass es überhaupt Rassismus ist. Aber eine Mehrheit kann die Mitte des Landes abbilden und trotzdem extremistisch sein. Für andere Formen des Rassismus gibt es inzwischen eine bestimmte öffentliche Aufmerksamkeit. Bestimmte krass antisemitische Bilder und Worte zum Beispiel können heute immerhin in der demokratischen Mitte nicht mehr einfach so verwendet werden. Das ist beim Antiziganismus anders. Die Pflege und die Konservierung des Bildes vom Kriminellen, der der Gesellschaft schadet, ist nach wie vor eine große Gefahr.
Woher kommt dieses Bild?
Das hat mit einer Ursünde unserer Gesellschaftsordnung nach dem Krieg zu tun. Deutschland hat einen Völkermord an den Sinti und Roma begangen, in dem eine halbe Million Menschen ums Leben gekommen sind. Nach dem Krieg haben die Täter es geschafft, das Narrativ zu bestimmen und eine Täter-Opfer-Umkehr vorzunehmen. Sie behaupteten, dass Sinti und Roma nicht aus rassistischen, sondern aus kriminalpräventiven Gründen in die Lager gekommen seien und sogar, dass Sinti und Roma in Auschwitz an der eigenen mangelnden Hygiene gestorben seien. Das negative Bild von Sinti und Roma musste gezeichnet und aufrechterhalten werden, damit man sich selbst als unschuldig verkaufen konnte. Die Gaskammern wurden also stillgelegt, aber die Verfolgung ging weiter. Die Ethnifizierung sozialer Probleme ist ein Mittel der politischen Propaganda, das auch heute noch existiert. Dieses Bild vom kriminellen Sinto oder Rom begegnet uns im Diskurs um vermeintliche Einbrecherbanden aus Osteuropa.
In welchen Situationen werden Sinti*zze und Rom*nja heute vor allem diskriminiert?
Staatsapparat, Polizei und Justiz sind Schwerpunkte. Ich habe als Anwalt in den vergangenen Jahren immer wieder Menschen aus der Community der Sinti und Roma vertreten: häufig Menschen, die Opfer von Hasskriminalität wurden, oft auch von Polizeigewalt. Ein anderes großes Thema sind Sozialbehörden. Man schafft dort künstliche Barrieren, um den Menschen Zugang zu Dienstleistungen zu verwehren, die allen zustehen. Wir haben im Schulbereich eine massive Benachteiligung von Migranten: Kinder werden einfach so als nicht lernfähig klassifiziert und auf Förderschulen abgeschoben. Davon sind Sinti und Roma besonders betroffen. Der ganze Bereich der öffentlichen Hand ist extrem rassismusanfällig. Das setzt sich in der Privatwirtschaft fort. Ich hatte als Anwalt einen Mandanten, der Betriebsrat in einer großen Firma war und dort als Sinto "geoutet" wurde. Daraufhin wurde er massiv von Kolleginnen und Kollegen gemobbt, und das wurde von der Geschäftsleitung nicht nur gedeckt, sondern auch gefördert.
Sie sagen, er wurde als Sinto "geoutet". Das heißt, viele Sinti*zze und Rom*nja wollen lieber nicht, dass jemand von ihrer Herkunft weiß?
Sehr viele verleugnen oder verheimlichen öffentlich ihre Herkunft, aus der gut begründeten Furcht vor rassistischen Stereotypen. Ich stelle mir das furchtbar vor, wenn man etwa seinen Kindern erklären muss, dass sie in der Schule nicht verraten sollen, dass man zu Hause eine andere Sprache spricht oder andere Feste feiert. Die Verleugnung eines wichtigen Teils des eigenen Seins führt zu psychischem Dauerstress. Viele Kinder wachsen mit einem angegriffenen und schwankenden Selbstwertgefühl auf. Als einzige positive Entwicklung sehe ich, dass viele aus der Community sich das nicht mehr gefallen lassen. Vor allem junge Leute treten mit einer gewissen Radikalität auf, die ich nicht nur verständlich finde, sondern begrüße.
Sie haben von einer Expert*innenkommission Handlungsempfehlungen bekommen und sollen die Arbeit nun ressortübergreifend koordinieren. Was ist inhaltlich geplant?
Die Kommission fordert beispielsweise die Einrichtung einer Wahrheitskommission, die von der Community selbst gesteuert werden soll. Wir müssen uns genau anschauen, welche historischen Entscheidungen, die wir heute als antiziganistisch ansehen, welche Folgen für das heutige Leben haben. Zum Beispiel haben manche Kommunen sich nach dem Krieg geweigert, den überlebenden Sinti und Roma aus den Lagern Ausweispapiere zu geben, obwohl es Deutsche waren. Die Kinder und Enkel dieser Menschen leben als Ausländer und Staatenlose hier. Diese Menschen sollten die Staatsbürgerschaft wiederbekommen. Wir müssen über Kontingentlösungen nachdenken: Überlebende des Holocaust und deren Nachkommen sollen das Recht bekommen, nach Deutschland einzureisen. Und die Balkanstaaten dürfen nicht länger als sichere Herkunftsstaaten für Roma gelten. Man muss nur einen Blick auf die niedrige Lebenserwartung dieser Menschen werfen. Spätestens dann ist klar, dass Rassismus wirklich tötet. Wir können uns nicht so verhalten, als hätten wir damit nichts zu tun, und uns sogar noch an der Hetze gegen diese Menschen beteiligen.
Aktuell treffe ich möglichst viele Vertreterinnen und Vertreter der Community, und zwar ein breites Spektrum: von traditionellen Institutionen wie dem Zentralrat bis hin zur Organisation Queer Roma, um sicherzustellen, dass die Empfehlungen der Kommission gespiegelt werden in den Bedürfnissen der Community selbst.
Auch in der Ukraine leben viele Rom*nja. Es zeichnet sich bereits ab, dass diese bei der Flucht schlechter behandelt werden als andere Flüchtende. Was beobachten Sie?
Der Eindruck, den viele haben, dass wir zwischen erwünschten und unerwünschten Flüchtlingen unterscheiden, stimmt. In mehreren deutschen Städten wurden Roma an den Bahnhöfen abgewiesen oder bekamen keinen Zugang zu Hilfsangeboten. In München kamen 10.000 Geflüchtete privat unter, die vorher in Sammelunterkünften waren. Aber unter diesen privat Untergebrachten sind fast gar keine Roma. Überdurchschnittlich viele von ihnen sind unter prekären Bedingungen in Sammelunterkünften untergebracht. Aber auch in der Ukraine werden Roma schon benachteiligt: Sie bekommen teilweise keine Ausweispapiere und können daher das Land nicht verlassen. In Erstaufnahmeländern wie Polen werden sie direkt weitergeschickt. Mitmenschlichkeit und Solidarität, die sich nur auf bestimmte Geflüchtete beschränken, mit denen man sich identifizieren kann, sind keine Mitmenschlichkeit und keine Solidarität. Sie sind lediglich Ausdruck eines egozentrischen Weltbilds. Wir müssen uns als Gesellschaft und als Staat stark machen für die Unterstützung von Geflüchteten. Punkt. Sobald wir sagen, die einen sind uns näher, begeben wir uns in ein Feld, wo letztlich genau die Weltbilder reproduziert werden, die diese Menschen zur Flucht gezwungen haben.
Hannah El-Hitami ist freie Journalistin und lebt in Berlin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.
ZUR PERSON
Rechtsanwalt, 54, bekannt wurde er vor allem als Anwalt der Nebenklage im NSU-Prozess. Als Lehrbeauftragter der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin unterrichtete er Polizeibeamt*innen in Grund- und Menschenrechten. Außerdem hat er mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt 2021 "Das rechte Recht: Die deutsche Justiz und ihre Auseinandersetzung mit alten und neuen Nazis".