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Der Kolonialismus ist nicht vorbei
Hart in der Sache: Der Berliner Aktivist Israel Kaunatjike
© Harriet Wolff
Seine Großmutter arbeitete als Haushaltshilfe bei einem deutschen Siedler, er engagiert sich für die Entschädigung namibischer Herero und Nama, die Opfer deutscher Kolonialverbrechen wurden: Ein Porträt des Berliner Aktivisten Israel Kaunatjike.
Von Harriet Wolff
Zeitzeuge sein. Israel Kaunatjike füllt diesen Begriff mit Leben. Immer wieder besucht der 77-Jährige Schulen und andere Begegnungsorte: "Ich erzähle von mir, von meiner Volksgruppe der Herero, was ich erlebt habe in Namibia zu Zeiten der Apartheid. Ich berichte, was meine Vorfahren erlitten haben." Schon jungen Menschen erklären, warum es so wichtig ist, koloniale, rassistische Strukturen zu kritisieren und positiv zu verändern, "das treibt mich um, das bewegt mich". Kaunatjike, grau meliert, vital, blickt im Gespräch in die Ferne, als würde er einen Punkt in seiner Vergangenheit fixieren.
"Als ich geboren wurde, stand Namibia unter südafrikanischer Herrschaft, es herrschte Apartheid wie im Nachbarland. Rassismus war Gesetz. Mein Großvater war ein deutscher Siedler, er hieß Otto Müller und hatte eine Tochter mit meiner Großmutter, der Herero Maria, die dort als Haushaltshilfe arbeitete." Kaunatjikes Stimme stockt. "Es war sicher keine Liebesgeschichte, durch die meine Mutter Gerhadine entstand." Die Kaunatjikes lebten schließlich mit elf Kindern in einer Blechhütte im Schwarzen Viertel Old Location in Windhoek.
"Wir waren so wütend"
Israels Mutter wurde ebenfalls Haushaltshilfe bei einer deutschen Familie, sein Vater war Automechaniker. "1959 gab es einen Aufstand gegen die Buren in unserer Gegend, diese Kolonialisten ermordeten 13 Menschen." Jener Horror und das Begreifen, "im eigenen Land Untermensch zu sein", politisierten Kaunatjike bereits mit zwölf Jahren. "Wir waren so wütend, das hat mich geprägt – bis heute. Ich kann Unrecht nicht ertragen, ich muss immer aktiv dagegen angehen."
In Deutschland leben derzeit nur rund 50 Herero beziehungsweise Ovaherero, wie sich viele auch nennen. Weitaus größere Diaspora-Gruppen finden sich in den USA, Kanada und Großbritannien. Die aktivste Stimme der Herero/Ovaherero hierzulande ist Kaunatjike, der 1970 nach Westberlin kam und später als politischer Flüchtling anerkannt wurde. Seitdem setzt er sich vehement dafür ein, dass die deutsche Politik die Verantwortung für Verbrechen von Deutschen während des kolonialen Regimes im heutigen Namibia übernimmt – und direkte Entschädigungen an die Nachfahren der Herero/Ovaherero und Nama zahlt.
Historiker*innen beziffern die Zahl der einst getöteten Herero/Ovaherero auf mindestens 65.000 der damals in Namibia lebenden rund 80.000. Auch mehr als 10.000 von insgesamt rund 20.000 Nama kamen bei deutschen Massakern während der Herero/Ovaherero- und Nama-Aufstände zwischen 1904 und 1908 und danach ums Leben. In Konzentrationslagern vor Ort wurden sie zu brutaler Zwangsarbeit gezwungen. Erst seit 2015, 100 Jahre nach dem Ende der Kolonialherrschaft, erkannten deutsche Regierungen die Massaker ihrer Vorfahren als Völkermord an – allerdings nur politisch-moralisch, nicht rechtlich.
Späte Anerkennung des Völkermords
Nach der "Afrika-Konferenz", die Reichskanzler Otto von Bismarck 1884 in Berlin ausgerichtet hatte, hatten sich Vertreter des Deutschen Reichs als "Schutzmacht" in Namibia niedergelassen. Das Land nannte man dreist "Deutsch-Südwestafrika", die lokale indigene Bevölkerung beutete man aus, sehr oft unter sklavenartigen Bedingungen.
Die sogenannte "Gemeinsame Erklärung zwischen Deutschland und Namibia" von 2021, den Versuch eines Versöhnungsabkommens, lehnen die Ovaherero Traditional Authority und die Nama Traditional Leaders wie auch Kaunatjike ab. Ratifiziert ist das Abkommen bis heute weder vom deutschen noch vom namibischen Parlament. "Deutschland gibt sich hier wieder als Kolonialmacht", kritisiert der Aktivist. "Es diktiert, was wir brauchen: Entwicklungshilfe. Aber wir Herero wollen die nicht – wir verlangen Reparationen, für das, was wir verloren haben. Nach mehr als 100 Jahren wären das mit Zinsen nicht die von der Bundesregierung gebotenen 1,1 Milliarden Euro – und die sollen auch noch über 30 Jahre für Entwicklungsprojekte gestreckt werden! Einfach respektlos ist das."
Auch Energieprojekte wie Wasserstoffförderung, die das Bundeswirtschaftsministerium in Namibia plant, sieht der Berliner Herero äußerst kritisch. "Fast allen Gewinn werden die Deutschen kriegen – Globalisierung ist nur ein Ersatzwort für Kolonialismus." Im November sind Wahlen in Namibia: "Es gibt dort Proteste und Widerstand gegen das Abkommen und die Energieprojekte, das macht mir Hoffnung."
Umstrittenes Übereinkommen
Kaunatjike bleibt gelassen, das ist seine Stärke, aber hart in der Sache. "Wir wollen als direkt Betroffene das Abkommen neu verhandeln, basta." Entsprechend reichten Oppositionsparteien und Teile der Herero/Ovaherero- und Nama-Communities im Januar 2023 beim namibischen High Court Klage ein. Die Erklärung der deutschen und namibischen Regierung sei verfassungswidrig. Die Herero/Ovaherero- und Nama-Verhandlungsgruppe, die beim Aushandeln des Abkommens dabei war, habe sich über den Tisch ziehen lassen, die Communities seien nicht angemessen beteiligt gewesen. "Unsere Regierung und staatliche Institutionen sind größtenteils total korrupt, von dem deutschen Geld würden wir nichts sehen", ergänzt Israel Kaunatjike.
Er wurde bereits mit 17 Jahren Mitglied der 1959 gegründeten ersten Befreiungsbewegung Namibias, der SWANU. In seiner Heimat schwebte er ab da in Gefahr. "Illegal ging ich über Botswana und Sambia nach Tansania", das damals bereits unabhängig war. Die tansanische Regierung versuchte, einen afrikanisch geprägten Sozialismus zu verwirklichen. Willkommen waren daher alle, die gegen die Apartheid und den Kolonialismus kämpften. Kaunatjike wurde dann von der SWANU auf den ägyptischen Sinai geschickt. Dort erhielt er sieben Monate lang eine militärische Ausbildung – "es waren krasse Zeiten", meint der dreifache Vater und neunfache Großvater rückblickend. Seit Langem setzt er sich für gewaltfreien Widerstand ein.
Über Polen kam Kaunatjike schließlich nach Westberlin. Erst als Namibia am 21. März 1990 ein von Südafrika unabhängiger Staat wurde, kehrte der inzwischen gelernte Elektromechaniker für einen ersten Heimatbesuch zurück. "Endlich war ich amnestiert. Es war emotional, es hat mich sehr berührt, meine Familie nach 26 Jahren wiederzusehen." Kaunatjikes Mutter Gerhadine starb wenige Jahre später. Ihr Schicksal als Herero und das kollektive Schicksal der Herero/Ovaherero sieht Kaunatjike als Vermächtnis. "Wir haben schon viel bewegt, das hält mich fit. Aber ich brauche in Deutschland dringend Verstärkung für die Sache der Herero."
Harriet Wolff ist Journalistin und Fotografin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.
HINTERGRUND
Namibia hat rund drei Millionen Einwohner*innen auf einer Fläche, die zweieinhalbmal so groß wie Deutschland ist. Weniger als ein Prozent sind weiße, deutschsprachige Siedler*innen, sie besitzen aber immer noch rund 70 Prozent des Bodens. Rund 50 Prozent der Namibier*innen zählen sich zu den Ovambo, sie dominieren die nationale Regierung. Als Herero bzw. Ovaherero betrachten sich heute rund 7,5 Prozent und als Nama etwa 4,8 Prozent der Namibier*innen.