Amnesty Journal Deutschland 20. Juni 2022

Zehn Kilometer Rechte

Drei Männer stehen auf einem Trampelpfad, rechts von ihnen eine altertümliche Mauer, hinter ihnen ein Torbogen. Zwei Männer tragen Schutzwesten mit der Aufschrift "Amnesty", ein älterer Mann ganz rechts hält eine Gehstütze und lächelt.

Hegen und pflegen den Menschenrechtspfad: Michael Bokemeyer (l.) und andere.

Zwischen Eiben zum Russengrab: Unterwegs auf dem Plesse-Menschenrechtspfad der Amnesty-Gruppen Göttingen/Bovenden.

Von Nina Apin

Malerisch thront die Plesse, eine Burgruine aus dem 11. Jahrhundert, über dem Leinetal. Einige junge Leute sonnen sich auf den Mauerresten, ein Biker genießt die Aussicht. Michael Bokemeyer hat für das Panorama wenig Zeit. Strammen Schrittes läuft der 82-Jährige zum überdachten Wanderschild und kontrolliert den Startpunkt des Amnesty-Menschenrechtspfads Göttingen/Bovenden: Der Flyerkasten ist noch gut gefüllt, doch jemand hat den Amnesty-Aufkleber unter der Wanderkarte abgekratzt. Jetzt wissen nur Eingeweihte, dass die nächsten zehn Kilometer durch den Pleßforst den Menschenrechten gewidmet sind. 16 weiße Infotafeln informieren am Wegesrand über die 30 Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte samt Präambel.

"Neuer Aufkleber, müssen wir dran denken", erinnert Bokemeyer seinen gleichaltrigen Freund Ulrich Braun. Ein herabgestürzter Ast hat das Schild zu ­Artikel 3 und 4 (Recht auf Leben und ­Freiheit/Verbot der Sklaverei und des Sklavenhandels) beschädigt, aber es ist noch lesbar. In wenigen Tagen wird eine Berufsschulklasse zu einer von Amnesty ­geführten Tour erwartet – die beiden ­Aktivisten machen daher noch schnell ­einen Inspektionsrundgang.

Naherholung mit Sinn

Die Idee, ein Naherholungsangebot mit Sinngehalt zu schaffen, entstand 2010: "Die Bovender Gruppe wurde 1974 gegründet, von meiner Frau Uta bei uns zu Hause", erzählt Michael Bokemeyer, der früher Stadtplaner in Göttingen war. Die zwölf Gruppenmitglieder widmeten sich zunächst der Betreuung politischer Gefangener. Mit Erfolg: Der marokkanische Gewerkschafter Abdellali el Hajji wurde 1989 freigelassen, und die Bokemeyers haben noch heute Kontakt zu ihm.

Altersbedingt schrumpfte die Gruppe jedoch im Lauf der Zeit. Auf der Suche nach jüngeren Engagierten entstand die Idee, einen Menschenrechtspfad einzurichten. Gemeinsam mit zwei Göttinger Amnesty-Gruppen und dem Forstamt wurde der Plesse-Pfad konzipiert und 2010 eingeweiht. Beim Festakt gab es eine Treckerparade und Musik. 16 Schilderpaten, vom Pastor bis zur Schulleiterin, hielten Kurzvorträge zu "ihren" Artikeln. Zum zehnjährigen Jubiläum des Pfads im Jahr 2020 wurde außerdem eine "Baumreihe gegen das Vergessen" eingeweiht. Bedrohte Arten wie Elsbeere und Speierling mahnen seitdem zwischen Bovenden und dem Startpunkt des Pfads vor dem Verschwinden von Bäumen und Menschen.

Die Menschenrechte gelten für jeden – auch im Krieg.

Michael
Bokemeyer
Amnesty-Gruppe Göttingen/Bovenden

Der Menschenrechtspfad wird vor allem von Schulklassen und lokalen Vereinen genutzt, aber auch von den Bewohner_innen einer nahegelegenen Flüchtlingsunterkunft, die ihre Picknickdecken im Wald ausbreiten.

Michael Bokemeyer macht noch auf ein silbernes Kreuz auf einem Baumstumpf aufmerksam. Davor befindet sich ein von bemoosten Steinen umfasstes Rechteck. Es handle sich um das Grab ­eines russischen Kriegsgefangenen, der im Jahr 1920 dort Suizid begangen habe, erklärt Bokemeyer. Er war bei den Vorbereitungen zum zehnjährigen Jubiläum des Menschenrechtspfads im Gemeindearchiv auf das Grab gestoßen. Damals wurde es von einer Familie im Ort gepflegt, inzwischen kümmert sich Amnesty darum.

Dass das "Russengrab" in unmittel­barer Nähe des Schilds mit Artikel 13 (Recht auf Heimat) und Artikel 14 (Recht auf Asyl) steht, findet Ulrich Braun besonders passend. "Die Menschenrechte gelten für jeden – auch im Krieg." Das ­haben offenbar noch nicht alle begriffen. Das Schild wurde bereits dreimal gestohlen, bzw. zerstört.

Mehr unter: www.­amnesty-bovenden-goettingen.de/aktionen

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