Amnesty Journal 19. Dezember 2022

Hinsehen ist Pflicht

Zwei Männer stehen auf einem Balkon am Geländer und unterhalten sich, blicken nach unten, dort die Straße, Strapenlaternen sind eingeschaltet, gegenüber die Front eines mehrstöckigen Hauses.

"Alle Kurden sind im Krieg, manche wissen es bloß nicht": Szene aus dem Film "Stille Post"

Regisseur Florian Hoffmann widmet seinen Spielfilm "Stille Post" den Dokumentarist*innen von Menschenrechtsverletzungen.

Von Jürgen Kiontke

Die Journalistin Leyla (Kristin Suckow) arbeitet in einer Nachrichtenagentur und soll ihre erste investigative TV-Story drehen. Ein Thema findet sich schnell: Ihr Lebenspartner Khalil (Hadi Khanjanpour) ist Kurde. Und gerade ist die türkische Armee nach einem Anschlag ins kurdische Gebiet um die Stadt Cizre eingerückt. Der Mittelsmann Hamid (Aziz Çapkurt) spielt Khalil Videomaterial zu, das angeblich von Khalils Schwester stammt, die für die kurdischen Truppen kämpft.

Angeblich. Denn nach Khalils Wissen wurde die Schwester zusammen mit seinen Eltern in früheren Kämpfen getötet. Nun aber zeigt sich: Das Verschwinden seiner Angehörigen könnte auch zur Tarnung vorgetäuscht gewesen sein.

Leylas Nachrichtenagentur ist zunächst nicht überzeugt von der Geschichte ("Kurden? Selena Gomez hat Vorrang!"). Im Jahr 2016, in dem der Film spielt, ist Cizre kein großes Medienthema. Es gibt kaum Berichte darüber, dass die türkische Armee zivile Siedlungen bombardiert und Menschen ohne Grund inhaftiert. Khalil empfindet das als Skandal und peppt das unspektakuläre Filmmaterial gemeinsam mit Leyla per Tonspur auf. Tags drauf läuft es tatsächlich in der "Tagesschau". Aber Leyla und Khalil empfinden sich nun als Kriegsteilnehmer*innen.

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Florian Hoffmanns Spielfilm "Stille Post" handelt zunächst davon, wie Sensationen produziert werden. Auf einer tieferen Ebene geht es aber auch darum, ob man sich aus Kriegshandlungen überhaupt heraushalten kann. Der Lehrer Khalil, der seit vielen Jahren in Deutschland lebt und arbeitet, hatte mit seiner kurdischen Vergangenheit abgeschlossen, bis eine Exilgruppe seine private Verbindung in die Medienwelt entdeckte. "Alle Kurden sind im Krieg, manche wissen es bloß nicht", sagt Hamid. Khalils Koordinatensystem gerät ins Rutschen, und auch Leyla erlebt eine Belastungsprobe, was die Einstellung zu ihrem Beruf betrifft.

Kaum Berichte über Cizre

Der komplex konstruierte Film beruht auf wahren Begebenheiten. Regisseur Hoffmann reiste 2016 selbst nach Cizre, sprach mit traumatisierten Einwoh­ner*in­nen und brachte heimlich aufgenommene Handyvideos außer Landes, die Angriffe und Menschenrechtsverletzungen während der Ausgangssperre belegten. Mit Unterstützung von Amnesty International leitete er das Material an die Vereinten Nationen weiter. Amnesty hatte zu Beginn des Krieges Ende 2015 die Verantwortlichen der türkischen Armee aufgefordert, die Grundversorgung der Bevölkerung sicherzustellen, Gesetze und Menschenrechtsstandards einzuhalten sowie unabhängige Beobachter zuzulassen. Weil dies nicht geschah, wurde die dokumentarische Arbeit privater Kameraleute umso wichtiger.

In deutschen Medien wurde kaum über die Stadt Cizre berichtet, die 79 Tage lang besetzt war. Er habe sich gefragt, warum über manche Kriege berichtet werde und über andere nicht, erklärte Hoffmann. Sein Film sei Videoaktivist*innen gewidmet, die Kriege dokumentierten, die in den regulären Medien nicht auftauchten. "Stille Post" solle "Köpfe öffnen", sagte der Regisseur, der mit diesem Beitrag sein Studium an der Filmakademie abschloss. Der Film gewann bereits bei verschiedenen Festivals Auszeichnungen für Drehbuch und Schauspielerleistung. Hier startet ein politisch bewusster Filmkünstler mit sehenswertem Kino durch.

"Stille Post". D 2021. Regie: Florian Hoffmann, Darsteller: Hadi Khanjanpour, Kristin Suckow. ­Kinostart: 15. Dezember 2022. Weitere Informationen zum Film.

Jürgen Kiontke ist freier Autor, Journalist und Filmkritiker. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

WEITERE FILMTIPPS

Jesus aus dem Lager

von Jürgen Kiontke

Der 19-jährige Edward aus Ghana lebt in einem Flüchtlingslager nahe des italienischen Dorfs Siculiana. Anfang Mai wird dort bei einer Prozession eine schwarze Jesusfigur umhergetragen. Die jahrhundertealte Tradition spricht Edward an. Wer sollte den Brauch besser verkörpern als er – ein junger schwarzer Mann?

"Black Jesus" heißt der Film, in dem Regisseur Luc Lucchesi, der selbst aus dem sizilianischen Ort stammt, diese ­Geschichte erzählt (siehe auch Amnesty Journal 03/2021). Die Bevölkerung von Siculiana muss sich bei den Dreharbeiten ihren eigenen Vorurteilen stellen: Nicht alle kommen damit klar, dass nun ein "realer Jesus" vor ihnen steht. Aber bald ist er ihnen lieber als die Holzfigur.

"Black Jesus" stellt gekonnt politische und kulturelle Grenzen infrage. Er überzeugte auch die Langfilm-Jury des Deutschen Menschenrechts-Filmpreises um die Kritiker*innen Anke Leweke und Simon Hauck und gewann in diesem Jahr den ersten Preis. Vier Gremien sichteten 385 Produktionen und bewerteten 39 ­nominierte Arbeiten unter anderem nach ihrer thematischen Relevanz. In der Sparte Kurzfilm gewann "Der lange Weg der Sinti und Roma" von Adrian ­Oeser, in der Kategorie Magazin der TV-Beitrag "Europas Schattenarmee: Pushbacks an der kroatisch-bosnischen ­Grenze".

Amnesty International und weitere ­zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich für die Achtung und Wahrung der Menschenrechte einsetzen, veranstalteten den Wettbewerb alle zwei Jahre. Er ­belege, "dass der Schutz der Menschenrechte und das Eintreten für sie im ­wahrsten Sinn des Wortes lebenswichtig ist", sagte Klaus Ploth vom Veranstalterkreis. Die Filmemacher*innen zeigten Mut und Beharrlichkeit in ihren Recherchen und den unbedingten Willen, Zeitzeugen des Weltgeschehens zu sein. Wie jedes Mal ­gehen die Filme auf Tour. Sie sind in mehreren Städten bei einer "Langen Nacht des Menschenrechtsfilms" zu sehen.

Mehr unter: www.menschenrechts-filmpreis.de

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