Amnesty Journal Deutschland 29. August 2025

Fikret Yakaboylu: Der Sound der Begegnung

Ein türkischer Mann mittleren Alters steht hinter einem Tresen in einer Kneipe. Auf dem Tresen Flaschen und Tassen. Er trägt ein T-Shirt, aufgeknöpftes Hemd, darüber eine Strickjacke, Brille und eine Mütze. Hinter ihm an der Wand sind zahlreiche Geldscheine aufgehängt.

Geld, Musik und Gäste aus aller Welt: Fikret Yakaboylu in seinem Kulturcafé Neruda (Augsburg, 2025)

Fikret Yakaboylu schafft im Augsburger Kulturcafé Neruda unter anderem mit dem "Jam der Kulturen" Momente der Begegnung. Nach dem Militärputsch in der Türkei in den 1980er Jahren kam der Künstler nach Deutschland.

Von Vanessa Barisch (Text und Foto)

Fikret Yakaboylu macht es sich auf seinem Stammplatz neben dem Tresen bequem. Normalerweise kommt er nicht viel zum Sitzen in seinem gut besuchten Lokal, aber es ist 16 Uhr, das Neruda öffnet erst in zwei Stunden. Bei einem Wein spricht der Mann mit der runden Metallbrille und der Mütze auf dem Kopf von seiner Flucht aus der Türkei, der ersten Zeit in Deutschland sowie den Anfängen als Künstler und Kulturvermittler in Augsburg. 

Der mittlerweile 68-Jährige floh als Jugendlicher aus dem anatolischen Eskişehir nach Deutschland. Grund dafür war der Militärputsch 1980. "Ich gehörte zu den Glücklichen, die es gerade noch außer Landes schafften, denn viele meiner politisch aktiven Freunde landeten im Gefängnis und waren Folter ausgesetzt", erzählt Yakaboylu. Weil er in Freiburg eine Schwester hatte, kam er nach Deutschland und konnte ein Zimmer in einem Studierendenwohnheim beziehen. 

Fünf Jahre Ausreiseverbot

"Das Ankommen war für Geflüchtete damals viel unkomplizierter als heute", erklärt er. Arbeitsverbote oder Wohnsitzauflagen gab es nicht. Dennoch kehrte er nach neun Monaten in die Türkei zurück, weil ihm der Entzug der türkischen Staatsbürgerschaft drohte. Mittlerweile hatte die Lage sich dort tatsächlich entspannt, wohl auf Druck der Europäischen Union, wie er vermutet. Fünf Jahre Ausreiseverbot musste er dennoch in Kauf nehmen. "Nachdem es viele Kulturorte und Gruppen nicht mehr gab, wie meine ehemalige Theatergruppe, ging ich für ein Architekturstudium an die Schwarzmeerküste und widmete mich ganz der Kunst", erinnert sich Yakaboylu. 1994 kehrte er schließlich nach Deutschland zurück – der Liebe wegen. Nach einer Zeit in Stuttgart folgte der Umzug nach Augsburg, wo er bis heute lebt. Für Yakaboylu steht inzwischen fest: "Das ist jetzt meine Heimat, ich bin seit 35 Jahren hier, weitaus länger als ich in der Türkei gelebt habe. Hier ist auch alles, was mir am ­Herzen liegt."

Afghanisches Lied beim Bier

In Augsburg prägt Fikret Yakaboylu seither das kulturelle Leben, wobei ihm interkultureller Austausch besonders wichtig ist. Unter dieser Prämisse betreibt er auch das Kulturcafé Neruda, eine meist ziemlich volle kleine Kneipe, die liebevoll mit Kunstwerken von Fikret Yakaboylu und anderen Augsburger Künstler*innen dekoriert ist. Das Neruda sei "ein Ort der Begegnung für Künstler und ein Ort der Vielfalt, wo alle willkommen sind", sagt er. Markenzeichen des Cafés ist der "Jam der Kulturen", eine Art offene Bühne, die alle Menschen einlädt, Musik aus ihrem Land mit den Gästen zu teilen. Bei einem Feierabendbier kommt man so unverhofft zum Beispiel in den Genuss eines afghanischen Liedes.

Die Idee, das Neruda zu gründen, kam Yakaboylu bei einer Kunstaktion zum Weltwassertag 2011, als er ein 200 Meter langes Bild malen sollte. "Ich ging von Ateliers zu Bars und anderen Orten, um das Bild gemeinsam mit anderen Augsburger Künstler*innen zu gestalten. Am Ende war das Bild sogar 500 Meter lang", berichtet er stolz. Mit "Wasserzeichen des Friedens" symbolisierte es die Botschaft eines friedlichen interkulturellen Zusammenlebens, ein Thema, das für die Stadt Augsburg wegen des dort unterzeichneten Religionsfriedens von 1555 zwischen Katholik*innen und Protestant*innen bis heute zentral ist. Gemeinsam trugen Augsburger*innen am Weltwassertag das Bild durch die Stadt. "Bei dieser Aktion merkte ich, wie groß das Bedürfnis der Künstler nach Zusammenarbeit war, es fehlte nur an einem Treffpunkt. Deshalb habe ich vor 14 Jahren das Neruda eröffnet", erklärt Fikret Yakaboylu mit einem Lächeln.

"Döner mit Sauerkraut"

Er fühlt sich besonders von den Dichtern Nâzim Hikmet, Bertolt Brecht und Pablo Neruda inspiriert, die Kunst und Kultur auch in ihrer politischen Dimension sehen. Doch eine Brecht-Bar gab es in dessen Geburtsstadt Augsburg bereits. "Der türkische Dichter Nâzim Hikmet ist mein Lieblingsdichter, aber ich wollte nicht, dass die Leute denken: 'Schon wieder ein türkisches Café.' Es sollte ein Ort für Leute von überall her sein. Deshalb bot sich Neruda mit seinem melodischen Namen an". 

Fikret Yakaboylu ist außerdem Teil einer Theatergruppe, die "Döner mit Sauerkraut" heißt. Jedes Jahr schreibt er für sie ein neues Theaterstück, das dann auf dem "Kulturtage"-Festival des Kültürvereins, den er federführend mitgegründet hat, uraufgeführt wird. Das Festival bietet ­Gelegenheit zum interkulturellen Austausch. In diesem Rahmen entstanden auch erste Kooperationen mit Augsburger Kirchen- und Moscheegemeinden. Die in ruhigem Blau und alarmierendem Rot ­gehaltenen Plakate mit dem diesjährigen Festivalmotto "Spaltung" zieren bereits die Wände des Kulturcafés.

Mir wird schwer ums Herz, wenn ich an die nächsten Kommunalwahlen denke.

Fikret
Yakaboylu

Gesellschaftliche Spaltung und das Erstarken des Rechtsextremismus sind Themen, die den Kulturvermittler beunruhigen und denen er entgegentreten will. Er erzählt, dass das Neruda vor ein paar Jahren fast schließen musste, weil das Ordnungsamt Lärmbelästigung bemängelte. "Aber ohne Musik machte der Laden für mich keinen Sinn. Glücklicherweise starteten meine Freunde eine Unterschriftenaktion, in kurzer Zeit fanden sich mehr als 20.000 Augsburger, die für den Erhalt des Musikprogramms unterschrieben." Mit einer starken AfD im Augsburger Stadtrat könnte das ganz anders werden: "Mir wird schwer ums Herz, wenn ich an die nächsten Kommunalwahlen denke."

Besonders problematisch findet Fikret Yakaboylu den Nationalismus, den er in Deutschland und auch in der Türkei beobachtet. "Der führt zur Ablehnung von Fremden und anderen Kulturen. Dabei sind doch alle Kulturen so schön!" Auch das Recht auf Bewegungsfreiheit für alle Menschen und die Absurdität von Grenzen betont er: "Grenzen sind ohnehin menschliche Konstrukte, eine Vogelschar kann einfach darüber hinweg fliegen." 

Dann kommen die ersten Gäste, nach und nach füllt sich das Lokal, die Gitarren für den Jam werden gestimmt und Fikret Yakaboylu mit seiner unverwechselbaren Mütze schlüpft zwischen den Grüppchen durch, sammelt leere Gläser ein, sorgt für Ruhe in der Raucherecke vor der Tür und begrüßt die Gäste.

Vanessa Barisch ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.
 

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