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Fritz Kittels Mut
Der Bahnarbeiter Fritz Kittel machte nicht viel Aufhebens um sein mutiges Engagement.
© Deutsche Bahn AG / Dominic Dupont
In einer Wanderausstellung begibt sich die Schriftstellerin Esther Dischereit auf die Spuren eines Reichsbahnarbeiters, der ihre Mutter und ihre Schwester vor Deportation und Ermordung rettete.
Von Brigitte Werneburg
Der Mann war nicht in der Hitlerjugend, nicht bei der SA und kein NSDAP-Parteimitglied. Das zeigt der Fragebogen, den jede*r Deutsche nach 1945 in der amerikanischen Besatzungszone ausfüllen musste. Offenbar war er auch kein Parteigänger der KPD oder SPD und auch kein bekennender Christ. Fritz Kittel war ein schweigsamer, eigenständig urteilender, mutiger Mann. Ein Bahnarbeiter. Im Ersten Weltkrieg war er mit dem Ehrenkreuz der Frontkämpfer ausgezeichnet worden.
Als die Schriftstellerin Esther Dischereit im Berliner Landesarchiv nach den Akten ihrer Mutter Hella Zacharias und ihrer Schwester Hannelore fragte, sagte der Angestellte: "Sie sind hier aufgelistet: im Buch der Juden aus Berlin. Sie sind tot." Den anschließenden Dialog gibt Dischereit wie folgt wieder: "Ich sagte: Nein, sie sind nicht tot. Ich kann es bezeugen. Der Archivar sagte, dann könne er diese Namen aus dem Buch der ermordeten Berliner Juden streichen. Ich sagte, ja. Er sagte: Wann habe ich das schon einmal in den letzten Jahrzehnten tun können. Eigentlich nie. Er holte einen Stift."
Nicht wegducken, sondern ausscheren
Es war Fritz Kittel, der Hella Zacharias, die mit ihrer Tochter untergetaucht und auf der Flucht war, vor Deportation und Tod rettete. Als Bahnarbeiter war er für die Ladung und Entladung der Waggons am Bahnhof Sorau, heute Zary, zuständig. In dieser Stadt in der Niederlausitz hatten sich Hella und Hannelore Zacharias, die ursprünglich in Berlin lebten, 1943 unter falschem Namen bei ihrer Bekannten Ida Goldberg angemeldet. Doch weil sie dort nicht bleiben konnten, nahm Fritz Kittel die beiden auf und versteckte sie im Lazarettweg 1.
Von diesem Fritz Kittel, der sich nicht wegduckte, sondern ausscherte, gegen das Gesetz verstieß und zwei Menschen zur Seite stand, als sie Hilfe brauchten, handelt eine Wanderausstellung, die nach Stationen in Berlin, Chemnitz und Herringen auch in Frankfurt am Main und Nürnberg gezeigt wird, recherchiert und realisiert von Esther Dischereit mit Unterstützung der Deutschen Bahn.
Ausstellungsort in Berlin war das Technikmuseum. Im Lokschuppen 2 fiel eine große weiße Tafel auf, mit einer Chronologie auf der einen und bunten Filmstills auf der anderen Seite. Sie stammen aus kurzen Videos über die Recherchen. Dazu kommen drei Schränke: einer für Fritz Kittel, einer für Hella und Hannelore Zacharias und einer für die Bahn. Zieht man die Schubladen der Schränke auf, sieht man unter Glas alte Fotografien, Briefe, Notizen, Broschüren, amtliche Dokumente und kleine Objekte wie eine goldene Uhr mit Kette, die Fritz Kittel immer bei sich trug, oder eine gehäkelte Handtasche von Hella Zacharias Mutter.
Vom Nichtwissen und Hörensagen
In den untersten Schubladen finden sich 17 kurze "Texte zum Mitnehmen". In diesen literarisch verdichteten Notizen spricht Esther Dischereit auch vom Nichtwissen und Hörensagen, das mit Fritz Kittel verbunden ist, vom Ahnen und Vermuten, das – anders als die Dokumente und Objekte – nicht ausgestellt, aber erinnert und erzählt werden kann.
Tafel und Schränke waren im Technikmuseum direkt neben einem jener Güterwagen platziert, die zum Transport in die Konzentrations- und Vernichtungslager eingesetzt wurden. Die Reichsbahn stellte damals für jede*n Deportierte*n einen ermäßigten Tarif für Sonderzüge in Rechnung und verdiente gut an den Transporten. Ohne ihre Logistik und Ressourcen wäre der Holocaust nicht möglich gewesen. Die Deutsche Bahn als Nachfolgerin der Reichsbahn hat sich erst nach einem quälend langen Prozess zu ihrer Mittäterschaft bekannt und Historiker*innen beauftragt, dieses Kapitel ihrer Vergangenheit aufzuarbeiten.
Bei der Ausstellungseröffnung in Berlin sprach Bahnchef Richard Lutz. Anwesend waren auch Fritz Kittels Tochter Ernestine und sein Enkel Peter Kittel. Als Esther Dischereit sie ausfindig gemacht hatte, waren sie völlig ahnungslos. Denn Fritz Kittel hatte weder von der Frau erzählt, die er erst versteckt und zuletzt als seine Ehefrau ausgegeben hatte, noch von deren Tochter, die in Sorau als seine vermeintliche Nichte die Schule besuchte und am Sonntag sogar den Gottesdienst, um nicht aufzufallen. Nach dem Krieg war der Kontakt zwischen Kittel und den beiden Frauen abgerissen. Esther Dischereit hörte ihre Mutter zwar seinen Namen nennen, doch starb die Mutter früh, und die Schwester begann erst nach und nach über ihren Überlebenskampf zu sprechen, zuletzt in einem Video für die Ausstellung.
Multimediale Spurensuche: In den Schubladen finden sich alte Fotografien, Briefe, Dokumente – und Alltagsgegenstände wie die gehäkelte Handtasche.
© Deutsche Bahn AG / Dominic Dupont
Ein Personalausweis der Deutschen Reichsbahn, der am 23. März 1945 für "Hella Kittel" ausgestellt wurde, belegt, dass Fritz Kittel seine Schützlinge mit nach Westen nahm, als sich die Rote Armee Sorau näherte. Mit dem letzten Zug aus dem Osten erreichten sie das hessische Herringen, wohin der Bahnarbeiter in den letzten Kriegswochen versetzt worden war. Dort gingen Hella und Hannelore den anrückenden amerikanischen Panzern entgegen und baten um Hilfe. Im Schrank "Hella und Hannelore Zacharias" findet sich ein handgeschriebener Zettel eines Befehlshabers, der sie zu Schutzbefohlenen der Befreiungsarmee erklärte. Später wurde der Zettel durch eine Bescheinigung der Betreuungsstelle für politisch, rassisch und religiös Verfolgte in Groß-Hessen ersetzt. Dazu schreibt Esther Dischereit: "Das ist ein Papier, das meine Mutter erhielt. Wie sehen die Papiere aus, die die Menschen, die sich heute haben retten können, erhalten? Nützen sie denen, die sie erhalten? Wofür? Hoffentlich erhalten sie solche Papiere."
Im dritten Schrank erschließen Dokumente die Geschichte der gewöhnlichen Reichsbahner, etwa des Oberbaurats Richard Brademann, der in einem Schreiben an die Reichskanzlei 1933 Kolleg*innen als jüdisch, als marxistische Gewerkschafter*innen oder Freimaurer*innen denunzierte, oder des stellvertretenden Generaldirektors der Deutschen Reichsbahn, Albert Ganzenmüller, der tatkräftig an den Deportationen mitwirkte. Er wurde wegen Beihilfe zum Mord vor Gericht gestellt, doch wurde der Prozess gegen ihn 1973 aus gesundheitlichen Gründen eingestellt. Er lebte danach noch 23 Jahre unbehelligt. Reichbahndirektor Paul Levy dagegen wurde 1935 wegen seiner jüdischen Herkunft entlassen und 1943 im KZ Auschwitz ermordet.
Die Wanderausstellung ist vom 16. August bis 15. Oktober 2023 im Museum Judengasse in Frankfurt am Main und ab Mitte Oktober 2023 im DB-Museum in Nürnberg zu sehen.