Amnesty Journal Brasilien 08. Januar 2021

Vom Wasser abgeschnitten

Schwarze Frauen und Kinder stehen in einer und um eine Wasserstelle herum, füllen Plastikeimer und waschen sich; im Hintergrund am Ufer befindet sich ein Hund.

Überlebensnotwendig: Quilombolas an einer Wasserstelle (Brasilien, Rio dos Macacos, 18.11.2020).

Nahe am Fluss und doch so fern: Im Osten Brasiliens untersagt eine einstweilige Verfügung den Nachfahren von Sklaven die Nutzung von Gewässern.

Von Christine Wollowski, Salvador da Bahia

Der Fluss liegt zum Greifen nah, glänzend, klar und voller Fische. Trotzdem ist er für die Quilombolas unerreichbar. Sie dürfen nicht angeln, nicht baden, noch nicht einmal Wasser schöpfen. Der Rio dos Macacos in der Nähe von Salvador da Bahia bildet seit mehr als 200 Jahren ihre Lebensgrundlage. Doch seit vier Monaten drohen Geldstrafen von umgerechnet rund 8.500 Euro, falls sie sich dem Fluss nähern: "Propriedade da Marinha" (Eigentum der Marine) steht auf einem Schild an der Uferböschung.

Die Quilombolas sind eine Gemeinschaft von Nachfahren von Sklaven, die seit Generationen in diesem fruchtbaren Landstrich leben. Der Streit um das Wasser des Flusses dauert seit 50 Jahren, er begann mit einer Invasion. So sehen es die Quilombolas. Ihre Großeltern waren Sklaven auf dem Landgut Macacos. Sie wohnten auf dem Gelände, durften zur Selbstversorgung Gemüse und Obst pflanzen, Hühner halten, fischen.

Vom Militär terrorisiert

Der letzte Erbe des Hofs wollte ihnen das Stück Land schenken, doch bevor es dazu kam, wurde er 1916 vom Staat enteignet. Der überschrieb das mehrere Hundert Hektar große Gebiet der Marine, die den Fluss staute und in den frühen 1970er Jahren damit begann, die Quilombolas zu vertreiben.

Soldaten marschierten auf, mit Waffen und Knüppeln. Sie haben Häuser zerstört, uns verprügelt und verjagt.

Olinda
Oliveira
Quilombola

Olinda Oliveira, die damals zehn Jahre alt war, erinnert sich: "Soldaten marschierten auf, mit Waffen und Knüppeln. Sie haben Häuser zerstört, uns verprügelt und verjagt". Die Militärs vertrieben einen Großteil der Quilombolas aus dem Zentrum des Geländes und bauten dort Kasernen und den Stützpunkt Base Naval de Aratu. Die rund 100 Familien der Quilombolas, die trotzdem blieben, wohnten nun rund um die Militärsiedlung und mussten sie fortan queren, um in die Stadt oder zurück zu ihrem Land zu gelangen, wo sie weiterhin fischten und Bananen, Papaya und Maniok anbauten.

Ruhe hatten sie dort keine mehr. Gewalttätige Übergriffe seien an der Tagesordnung gewesen, berichtet Olinda Oliveira: Die Soldaten zerstörten Pflanzungen, überfielen nachts Häuser, vergewaltigten Frauen. Weil der nächste Markt schwer erreichbar und andere Verdienstmöglichkeiten kaum zu finden waren, verkauften viele Frauen ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse trotz allem an die Militärs oder wuschen deren Wäsche im Fluss.

Politik gegen Indigene

Im Jahr 2009 sprach ein Richter der Marine das Recht zu, alle Quilombolas zu vertreiben, notfalls mit Gewalt. Die Gemeinschaft zog daraufhin ebenfalls vor Gericht. Denn laut brasilianischer Verfassung muss den Nachkommen der geflohenen Sklaven, die ihr Land noch beanspruchen, dies zugesprochen werden, und der Staat muss die entsprechenden Landtitel vergeben. Allerdings ist dies nur für einen Bruchteil der Ländereien geschehen. Und Brasiliens derzeitiger Präsident Jair Bolsonaro hat angekündigt, er werde Indigenen oder Quilombolas keinen einzigen Quadratmeter Land zusprechen.

Trotz dieser extrem restriktiven Haltung der Regierung konnte Rosimeire dos Santos, die Vorsitzende der Vereinigung der Quilombolas Rio dos Macacos, im Juli 2020 ein Dokument unterzeichnen, das der Gemeinschaft offiziell 98 Hektar Land zusprach. Laut einem Gutachten von Anthropologen hätten ihr zwar mehr als 300 Hektar zugestanden. "Aber immerhin haben wir vor Gericht gegen die Marine gesiegt!", sagt Rosimeire dos Santos.

Einspruch abgelehnt

Doch die Grenzlinie verläuft seltsam ungerade. Bei der Vermessung des Landes hatten die Militärs darauf geachtet, dass sämtliche Wasserläufe und Quellen auf Militärgebiet lagen. Zunächst schien das nicht schwerwiegend, schließlich teilten sich die Quilombolas seit Jahrzehnten die Nutzung der Gewässer mit den Militärs. Doch dann erwirkte die Marine eine einstweilige Verfügung, die der Gemeinschaft jede Nutzung des Wassers untersagte.

"Wir haben sofort Einspruch eingelegt", berichtet Adriane Ribeiro von der Anwaltsvereinigung AATR, die vor allem in Landrechtsfragen aktiv wird und den Fall der Gemeinschaft Rio dos Macacos seit Jahren begleitet. "Als der abgelehnt wurde, haben wir eine Neubeurteilung des Falls durch ein Richtergremium beantragt – weil die einstweilige Verfügung auf der Meinung einer einzelnen Richterin beruht." Bislang ist zwar noch kein Bußgeld verhängt worden, doch die Zukunft der Quilombolas bleibt unsicher: Ohne Wasser können sie nicht überleben.

Christine Wollowski ist Autorin, Journalistin und Brasilien-Korrespondentin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

Weitere Artikel