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Tschetschenien: Wer sich für die Menschenrechte einsetzt, schwebt in Lebensgefahr
Amnesty-Mahnwache vor der russischen Botschaft in Oslo anlässlich der Ermordung von der Journalistin Anna Politkowskaja im Oktober 2006 (Archivbild)
© Kristin Rødland Buick/AI No
Vor zwölf Jahren ist die russische Journalistin Anna Politkowskaja ermordet worden. Die Auftraggeber wurden bis heute nicht ermittelt.
Der 7. Oktober 2006 ist ein Samstag. Ich will gerade den Wochenendeinkauf erledigen, da klingelt das Telefon. Das Moskauer Büro von Amnesty International meldet sich mit der furchtbaren Nachricht: Anna Politkowskaja ist tot. Erschossen aufgefunden im Lift ihres Wohnhauses. Es ist wie ein Schlag in die Magengrube. Ich kannte Anna nicht gut, wusste aber, dass die Menschenrechtsarbeit von Amnesty International zu Tschetschenien seit vielen Jahren maßgeblich auch auf dem beruhte, was die mutige und unerschrockene Journalistin der Nowaja Gaseta dort recherchiert hatte. Ihr vertrauten die Menschen Informationen an, die sie selbst gefährden konnten. Sie wussten sie bei ihr in guten Händen.
Am 15. Juli 2009 sitzen wir am Strand an der Ostsee, machen Ferien. Da klingelt das Handy. Eine Menschenrechtlerin aus Grosny, der Hauptstadt Tschetscheniens, ruft unter Tränen an: "Sie haben Natascha ermordet!" Natalja Estemirowa, die seit 2000 für das Menschenrechtszentrum von Memorial Menschenrechtsverletzungen recherchiert hatte, war am Morgen vor ihrer Wohnung in Grosny entführt worden. Wenig später fand man sie in der Nachbarrepublik Inguschetien erschossen auf. Natalja – eine Freundin von Anna Politkovskaja – hatte ebenfalls eng mit Amnesty International zusammengearbeitet.
Ungeachtet aller Zusagen der Präsidenten Putin und Medwedew kommen die Ermittlungen in beiden Fällen nur schleppend voran. Schließlich werden für den Mord an Anna Politkowskaja sechs unmittelbar Beteiligte zu teils lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Die Auftraggeber werden nicht ermittelt. Der Mord an Natalja Estemirowa ist bis heute ungesühnt. Offiziell soll ein bereits im November 2009 getöteter Anführer einer bewaffneten Gruppe den Mord verübt haben, was von allen, die nach dem Mord eigene Ermittlungen angestellt haben, in Zweifel gezogen wird. Hintermänner werden auch hier nicht ermittelt.
Die am 15. Juli 2009 ermordete Menschenrechtlerin Natalia Estemirova bei einem Amnesty-Treffen in London im Juli 2008
© Amnesty International, Foto: Tim Darach
Und es geht weiter – und die Aufzählung ist nicht vollständig: Nach der Ermordung Natalja Estemirowas hat das Menschenrechtszentrum von Memorial seine Mitarbeiter aus Tschetschenien zurückgezogen. Das Monitoring von Menschenrechtsverletzungen wird von einer "Joint Mobile Group" übernommen, in der Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtler verschiedener Organisationen in wechselnden Zusammensetzungen arbeiten, damit Einzelne nicht mehr so stark der Verfolgung ausgesetzt sind. Aber auch sie werden angegriffen: Auf ihr Büro in Grosny wird im Dezember 2014 ein Brandanschlag verübt. Über die Ermittlung von Tätern ist nichts bekannt.
Am 9. März 2016 wird ein Kleinbus der "Joint Mobile Group" auf dem Weg nach Tschetschenien überfallen. Der Bus wird in Brand gesetzt, die Insassen – unter ihnen Journalisten aus Norwegen – werden verprügelt; einige werden schwer verletzt. Die Ermittlungen nach den Tätern haben die Strafverfolgungsbehörden inzwischen eingestellt.
"Erfolgreich" sind die Behörden dagegen bei der Strafverfolgung von Menschenrechtlern. Am 9. Januar 2018 wird Oyub Titiev, der das inzwischen wieder eröffnete Büro von Memorial in Grosny leitet, von der Polizei angehalten, als er mit seinem Fahrzeug in Grosny unterwegs ist. Bei der Durchsuchung des Fahrzeugs findet man angeblich Drogen. Er wird verhaftet und steht derzeit wegen Drogenbesitzes in Tschetschenien vor Gericht. Allgemein wird davon ausgegangen, ihm seien die Drogen untergeschoben worden. Amnesty International und viele andere Organisationen fordern seine sofortige und bedingungslose Freilassung; auch das EU-Parlament hat eine entsprechende Resolution verabschiedet.
Die ermordete russische Journalistin Anna Politkowskaja im Dezember 2002 in Helsinki
© Katja Tähjä
Im August 2018 kündigt der Chef der Teilrepublik Tschetschenien Kadyrow die Verhängung von Sanktionen gegen Menschenrechtler an, die sein Volk daran hinderten in Frieden zu leben: "Sie verfolgen nur das Ziel, uns zu schaden. Nach dem Ende des Prozesses gegen Titiev werden sie an der Einreise in die Region gehindert."
Die russische Führung – einst angetreten, um den "Rechtsnihilismus" in Russland zu bekämpfen – duldet die weitgehende Straflosigkeit in Tschetschenien und überlässt die dort tätigen Menschenrechtler ihrem Schicksal. Sie wird ihrer Verantwortung auch in den zwölf Jahren, die seit dem Mord an Anna Politkowskaja vergangen sind, nicht gerecht. Ich nehme an der Sitzung der Arbeitsgruppe Zivilgesellschaft des "Petersburger Dialogs" teil, die am 7. und 8. Oktober in Moskau tagt. Wir haben bereits angekündigt, mit unseren russischen Partnern zu erörtern, was getan werden kann, um die sich zuspitzende Situation zu verbessern. Ich bin vor allem gespannt, welche Handlungsmöglichkeiten der Menschenrechtsrat beim russischen Präsidenten sieht.