Aktuell 28. November 2017

Amnesty fordert Ermittlungen gegen Shell

Das Logo des Ölunternehmens Shell auf Asphalt, überdeckt von einem Ölfleck

Mord, Vergewaltigung und Folter: Interne Unternehmensdokumente und anderes Material legen Mitverantwortung von Shell bei Vergehen des Militärs im Nigerdelta nahe.

Für den Bericht "A Criminal Enterprise" hat Amnesty International tausende Seiten interner Dokumente und Zeugenaussagen sowie Unterlagen aus dem eigenen Archiv ausgewertet. "Die Dokumente zeigen, dass Shell die nigerianische Regierung wiederholt ermutigte, bei Protesten gegen die Ölverschmutzung im Nigerdelta einzugreifen, obwohl das Unternehmen wusste, welche dramatischen Folgen dies haben könnte: Nämlich Tötungen, Vergewaltigungen, Folter sowie das Niederbrennen ganzer Dörfer", sagt Audrey Gaughran, Direktorin für globale Themen bei Amnesty International. 

Die Mitverantwortung des Ölunternehmens für schwere Menschenrechtsverletzungen durch die nigerianische Militärregierung im Nigerdelta in den 1990er-Jahren muss endlich untersucht werden. Amnesty International fordert Nigeria, Großbritannien und die Niederlande daher auf, ein Ermittlungsverfahren gegen den britisch-niederländischen Konzern Shell zu eröffnen.

Proteste gegen Ölverschmutzung

In den 1990er-Jahren war Shell das einflussreichste Unternehmen in Nigeria. Zur Zeit der sogenannten Ogoni-Krise kooperierten Shell und die nigerianische Regierung als Geschäftspartner. Sie hielten regelmäßige Treffen ab, um die Durchsetzung ihrer Interessen zu besprechen. 



In den 1990er-Jahren protestierte das indigene Volk der Ogoni gegen die von Shell verursachte Ölverschmutzung im Nigerdelta. Der Einsatz des nigerianischen Militärs gegen die Demonstrantinnen und Demonstranten zog massive Menschenrechtsverletzungen nach sich, darunter Mord, Vergewaltigung und Folter. 

Mehrfach wendete Shell sich an die nigerianische Militärregierung und bat um Unterstützung gegen die Proteste der Ogoni. Shell forderte Regierungsbeamte und Militärs dazu auf, "das Problem mit den Ogoni zu lösen" und bat im Gegenzug logistische Unterstützung an. Shell benannte sogar einzelne Dörfer und Ogoni-Gemeinden gegenüber der Militärregierung namentlich als problematisch. Mehrfach folgten auf Shells Bitten um Unterstützung Angriffe des Militärs, die zu dutzenden Toten und der Niederbrennung von Dörfern führten.



"Shell stellte dem Militär unter anderem Materialien wie Transportmittel zur Verfügung. Das Unternehmen bezahlte zudem in mindestens einem Fall einen Militärkommandanten, der für sein brutales Vorgehen berüchtigt ist. Es ist ein Skandal, dass sich Shell bisher nie für diese Taten verantworten musste", sagt Gaughran. 



Der Einsatz der nigerianischen Regierung gegen die Ogoni gipfelte in der Erschießung von neun Männern, unter ihnen Ken Saro-Wiwa – ein Schriftsteller und Aktivist, der die Proteste angeführt hatte. Die Exekutionen folgten auf eine unfaire Gerichtsverhandlung und sorgten für einen weltweiten Aufschrei. Im Juni 2017 haben vier Witwen, deren Männer 1995 erschossen wurden, bei Gericht Klage gegen Shell in den Niederlanden wegen Mittäterschaft bei den Morden eingereicht."Es ist unbestreitbar, dass Shell eine Schlüsselrolle bei den verheerenden Ereignissen im Nigerdelta in den 1990er Jahren spielte. Wir sind überzeugt, dass ausreichend Anhaltspunkte für die Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens vorliegen. Die Analyse der Dokumente war der erste Schritt, um Shell zur Verantwortung ziehen zu können. Wir stellen nun eine Beweisakte zusammen, die wir den betreffenden Behörden für eine Strafverfolgung übermitteln werden", sagt Gaughran.

Ranghohe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wussten Bescheid 

Interne Firmendokumente wie Fax-Unterlagen, Briefe und E-Mails, die zwischen Shell-Büros kursierten, zeigen, dass für das Vorgehen von Shell nicht nur Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Nigeria verantwortlich waren. Auch ranghohe Shell-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter in den Firmenzentralen Den Haag und London wussten über die Vorgänge in Nigeria Bescheid. 



In einem Memo geht es etwa um die Genehmigung einer detaillierten Strategie, die von Shell Nigeria im Dezember 1994 entwickelt wurde, um auf die beginnende "Ogoni-Krise" zu reagieren. Im März 1995 hielten Führungskräfte von Shell in London ein Treffen mit Vertreterinnen und Vertretern des nigerianischen Militärs ab. Es wurde vereinbart, sich "von Zeit zu Zeit zu treffen", um Informationen auszutauschen. 



Amnesty International schrieb vor Veröffentlichung des Berichtes an Royal Dutch Shell und Shell Nigeria und forderte die Unternehmen zu einer Stellungnahme auf. Shell Nigeria reagierte wie folgt: 



"Die Anschuldigungen in Ihrem Brief gegen [Royal Dutch Shell] und [Shell Nigeria, Anm.] sind falsch und entbehren jeder Grundlage. [Shell Nigeria, Anm.] arbeitete nicht mit den Militärbehörden zusammen, um Unruhen niederzuschlagen und begünstigte oder befürwortete Gewalttaten in Nigeria in keiner Weise. Das Unternehmen ist vielmehr davon überzeugt, dass Dialog den besten Weg zur Konfliktlösung darstellt. Wir haben uns von diesen Anschuldigungen stets auf nachdrücklichste Art und Weise distanziert." 

Hintergrund: Verantwortung von Unternehmen 

Wie alle Unternehmen ist auch Shell verpflichtet, die Menschenrechte bei allen Geschäftstätigkeiten zu achten – egal, in welchem Land das Unternehmen tätig ist. Viele der Menschenrechtsverletzungen, die im Nigerdelta durch das Militär begangen wurden, sind zudem auch in nationalem Recht Straftaten, darunter auch in den Niederlanden und Großbritannien. Dies gilt beispielsweise für Mord, Folter und Vergewaltigung. Ob und in welcher Weise Personen und Firmen strafrechtlich zur Konsequenz geworden werden können, hängt von der Rechtsordnung des jeweiligen Landes ab. Eine Person, in vielen Rechtsordnungen auch eine Firma, kann etwa strafrechtlich für eine Tat belangt werden, wenn sie zu dieser Tat angestiftet, sie ermöglicht, sie verschlimmert oder auf eine andere Weise unterstützt hat – auch, wenn sie keine unmittelbare Akteurin war. 

Auch das Wissen über die Risiken, dass Unternehmenshandlungen zu einer Straftat beitragen können, oder eine enge Verbindung zu den Täterinnen und Tätern können strafrechtliche Konsequenzen haben. Amnesty International hat Gespräche mit Strafrechtsanwälten aus Großbritannien und den Niederlanden geführt, die auf Grundlage der von Amnesty gesammelten Dokumente eine Reihe möglicher Straftaten identifizierten, die Gegenstand eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens sein könnten.

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