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Antisemitismus: Leise rauscht es mittendrin
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, im Februar 2015 in Würzburg.
© Bernd Hartung
Antisemitismus kommt in Deutschland verstärkt an die Oberfläche. Zu finden ist er auch dort, wo ihn wenige vermuten. Das macht ihn so gefährlich.
Eine Spurensuche von Lea De Gregorio
Antisemitismus ist für Jüdinnen und Juden in Deutschland allgegenwärtig. "Als ich das Amt antrat, habe ich gehofft, viel mehr schöne Seiten des Judentums in den Mittelpunkt meiner Arbeit stellen zu können, sehr wohl wissend, dass das eine Utopie ist", sagt Josef Schuster und senkt den Blick. Seit 2014 ist er Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Draußen flanieren an diesem frühsommerlichen Mittag Passanten durch die Straßen Würzburgs. Dass sich hier ein Büro des Zentralrats der Juden befindet, werden viele nicht wissen. Kein Schild weist darauf hin. Während Synagogen Polizeischutz genießen, geben andere jüdische Institutionen ohne diesen Schutz ihre Adressen oft nicht öffentlich preis.
Die Sorge ist berechtigt, denn die Lage ist alarmierend. Laut Polizeistatistik wurden 2018 in Deutschland rund 1.800 antisemitische Straftaten begangen, das sind 20 Prozent mehr als im Vorjahr. Tatsächlich sind die Zahlen noch höher. Einige Vorfälle werden nicht angezeigt. Andere liegen unter der Strafbarkeitsgrenze und fallen deshalb aus der Polizeistatistik heraus. "Aus diesem Grund halte ich es für ausgesprochen wichtig, mit der Meldestelle RIAS ein niedrigschwelliges Angebot zu haben, um antisemitische Vorfälle zu melden", sagt Josef Schuster. Die Recherche- und Informationsstelle RIAS hat in Berlin und Bayern ein Meldenetzwerk aufgebaut, um das Ausmaß zu dokumentieren. 1.083 Vorfälle verzeichnete RIAS 2018 allein in Berlin.
Die Polizeistatistik ist umstritten, weil sie nicht ausreichend differenziert. Vorfälle werden oft vorschnell dem rechtsextremen Spektrum zugeordnet, sagen Kritiker. Andere antisemitische Straftaten ordnen Polizei und Justiz wiederum gar nicht als antisemitisch ein. Als Beispiel nennt Josef Schuster das Gerichtsurteil zum Brandanschlag auf die Wuppertaler Synagoge 2014 durch drei Palästinenser. "Ich weiß nicht, was ein Angriff auf eine Synagoge anderes sein soll als Antisemitismus", sagt er. "Klassischer kann ich mir es kaum vorstellen." Alle Formen von Antisemitismus haben etwas gemeinsam: "Egal, wie der Antisemitismus kaschiert wird, handelt es sich immer um Judenfeindschaft", sagt Schuster, und in dem kleinen Raum in Würzburg wird es kurz ganz still. Das komplexe Phänomen Antisemitismus scheint plötzlich so simpel.
Marina Chernivsky leitet das Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST).
© Christian Jungeblodt
Auftreten kann Judenfeindschaft nahezu überall. Schuster nennt einmal antisemitische Stereotype, die vor allem Rechtsextreme pflegten. "Daneben findet sich unter Linken und Muslimen mitunter ein israelbezogener Antisemitismus, den Sie inzwischen aber auch in der Mitte der Gesellschaft antreffen."
Antijüdische Ressentiments und Stereotypen sind unterschwellig in allen Bereichen der Gesellschaft vorhanden, sagt auch die Psychologin und Verhaltenswissenschaftlerin Marina Chernivsky. Sie leitet das Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST). Chernivsky sitzt in einem Beratungsraum in Berlin und verschränkt die Arme vor der Brust, bevor sie sagt: "Antisemitismus ist eine der ältesten und doch aktuellsten Feindschaften gegenüber einer Gruppe und immer auch eine Menschenrechtsverletzung." Dass er in Deutschland heute überall zu finden ist, hätten viele nicht verstanden. Wer denkt, dass antisemitische Einstellungen mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs endeten, irrt. "Es war nie ganz weg."
Stereotype haben sich in den Köpfen festgesetzt, sind immer parat, ständig abrufbar. Um Antisemitismus zu verstehen, reiche es deshalb nicht, sich nur die offensichtlichen, lauten, gewalttätigen Fälle anzusehen. Er beginnt oft leiser, latent. Chernivsky spricht von einem "Hintergrundrauschen", das aus der Mitte der Gesellschaft dringt. "Als Psychologin interessiert mich, was Menschen wirklich denken und fühlen und sie im Wohnzimmer zueinander sagen." In vielen Familien kursierten heute noch Ressentiments wie: "Sind die Juden nicht an der Finanzkrise schuld" oder "Ihr regiert die Welt". Doch bei Unterhaltungen im Wohnzimmer bleibe es nicht – Diskriminierungen geschehen in aller Öffentlichkeit. Etwa im Frühjahr in Köln, als der Rabbiner Yechiel Brukner massive Anfeindungen erlebte, als er in öffentlichen Verkehrsmitteln Kippa trug.
Das Hintergrundrauschen kommt derzeit stärker an die Oberfläche. "Die Schwelle des Sagbaren, aber auch des Denkbaren und des Fühlbaren verschiebt sich", sagt Chernivsky – bis hin zur Relativierung des Nationalsozialismus und der Shoa. Der Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion Alexander Gauland etwa verharmloste die NS-Verbrechen im Juni 2018 mit den Worten: "Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte." Und er ist nicht der einzige. Die antisemitische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Vernichtung der europäischen Juden, "die sich beispielsweise in einer Täter-Opfer-Umkehr oder in Formen der Schoa-Relativierung bis hin zur Leugnung äußert" sei nach wie vor die am weitesten verbreitete Form antisemitischer Äußerungen, heißt es in einem Bericht der Meldestelle RIAS zu Vorfällen in Berlin. Chernivsky betont, dass Sätze wie "So schlimm war der Holocaust doch nicht", im Alltag kursierten.
Aus jüdischer Sicht beginne Antisemitismus mit systematischen Ausschlüssen, dem Entzug von Zugehörigkeit. Diese Differenzierung habe eine klare Funktion: "den Erhalt eines positiven, schlüssigen und konsistenten Selbstbildes." Chernivsky sagt, er äußere sich im Alltag auch in Fragen wie: "Was macht deine Regierung da unten?" Gerade im Kontext von Kritik an der israelischen Politik würden antisemitische Ressentiments geduldet, wenn nicht ganz gezielt gebraucht.In dem RIAS-Bericht zu Vorfällen in Berlin heißt es: "Stereotype des israelbezogenen Antisemitismus wurden in der Hälfte aller Vorfälle 2018 verwendet." Viele fühlten sich "bestätigt, wenn sie bei einem Glas Wein über die Politik der Juden reden", sagt Chernivsky.
Im Licht der Öffentlichkeit steht derzeit die internationale BDS-Bewegung (Boycott, Divestment, Sanctions), die der Bundestag im Mai als antisemitisch einstufte. Die Bewegung ist umstritten, weil sie das Existenzrecht Israels in Frage stellt. Sie erinnert mit ihrem Aufruf zum Boykott Israels außerdem an die NS-Parole "Kauft nicht bei Juden". Die Boykottaufforderung betrifft nicht nur Israels Wirtschaft, sondern auch Wissenschaft und Kultur: Konzerte auf Festivals mit israelischen Musikern werden abgesagt. Manche Schriftsteller wollen ihre Bücher nicht auf Hebräisch übersetzen lassen.
Hebräisch sei jedoch nicht nur die Sprache Israels, so Meron Mendel von der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, sondern "die Sprache vieler Juden auf der Welt".
Eine Ausstellung in der Bildungsstätte Anne Frank widmet sich dem Antisemitismus in einem Bereich, in dem ihn wenige vermuten: "Das Gegenteil von gut. Antisemitismus in der Linken" heißt die Schau, die in der Etage über der Ausstellung zum Tagebuch der Anne Frank gezeigt wird. Über eine schmale Treppe gelangt man nach oben und trifft dort auf eine Figur mit "Palästinensertuch". Auch Mendel sagt, die moderne Form des Antisemitismus stehe oft im Zusammenhang mit der Kritik an der Politik Israels. Natürlich dürfe diese kritisiert werden. Jedoch dürfe man dabei nicht alte Ressentiments aktivieren oder dem Staat Israel sein Existenzrecht absprechen.
Erinnerung an NS-Propaganda
Eine Tafel in der Ausstellung widmet sich dem Kulturbetrieb. Neben einem Text über die BDS-Bewegung hängt dort auch eine Karikatur, die den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu umhüllt von einem jüdischen Gebetsmantel Tallit zeigt. "Es ist nicht nur die Kritik an Israel", sagt Mendel und deutet auf die Zeichnung, die anlässlich des Auftritts der israelischen Sängerin Netta bei dem European Vision Song Contest im Mai 2018 in der Süddeutschen Zeitung erschien: "Ein Tallit, in Blut getaucht. Da geht es um die jüdische Religion. Auch diese Anspielung mit der großen Nase, die großen Ohren, das ist typisch dafür, wie die NS-Propaganda Juden dargestellt hat."
Mendel erzählt von einem Fall, der ihm besonders naheging. Ein Bekannter, mit dem er sich gemeinsam gegen Rassismus engagierte, habe anlässlich einer tödlichen Auseinandersetzung an der Grenze zum Gazastreifen zur Zeit des Pessach-Fests auf Facebook geschrieben: "Die Israelis machen ein Pessach-Massaker." Mendel war entsetzt und antwortete ihm: "Ich habe nichts dagegen, dass du kritisierst, wie die israelischen Soldaten mit Palästinensern in Gaza umgehen. Aber wo ist die Verbindung zu Pessach?" Das religiöse Fest ist seit dem Mittelalter mit der sogenannten Ritualmordlegende verbunden. Einem Mythos, der besagt, dass Juden in der Osterzeit christliche Kinder ermordet haben sollen. Seit jeher ist die Legende fester Bestandteil antisemitischer Propaganda.
Ein Schlag ins Gesicht
Antisemitismus von rechts sei zwar gewalttätiger als der von links, erklärt Mendel. Aber gerade wenn er von vermeintlich guter Seite komme, sei er ein Schlag ins Gesicht. Mendel ist in Israel aufgewachsen, war dort in der Friedensbewegung aktiv. In Deutschland sei er überrascht gewesen, wie stark sich die Linke spalte in Anhänger Palästinas auf der einen und Anhänger Israels auf der anderen Seite – bis hin zu den sogenannten Antideutschen, "die die absurdeste Politik Israels ausnahmslos rechtfertigen". Am anderen Ende des Spektrums stehen "die Antiimperialisten, die ohne minimale Selbstreflexion hinter der Hamas stehen". Beiden gehe es um "eine Identifikationsfigur im Nahen Osten, ohne diese wirklich kritisch zu betrachten".
Um sich gegen Antisemitismus von rechts besser aufzustellen, brauche es auch von linker Seite mehr Selbstreflexion, sagt Mendel. Die Ausstellung in Frankfurt, die noch bis Ende September zu sehen ist, hilft dabei. Vielleicht auch deshalb, weil vieles entlang der Geschichte der Stadt erzählt wird, die das intellektuelle Zentrum der Studentenbewegung 1968 darstellte.
Thema ist auch die Geschichte der Hausbesetzerszene im Stadtteil Westend. "Ignatz Bubis, der spätere Präsident des Zentralrats der Juden, hat gesagt, er habe kein Problem damit, als Spekulant beschimpft zu werden, aber nicht als jüdischer Spekulant", sagt Mendel.
Auch in der Kapitalismuskritik können sich antisemitische Ressentiments finden. In der Ausstellung hängt ein Foto von einer Blockupy-Demonstration zur Eröffnung des neuen Gebäudes der Europäischen Zentralbank 2015. Ein Demonstrant hält eine blaue Krake in die Luft. Die Krake steht für das Finanzwesen und wurde zum Symbol der bankenkritischen Blockupy-Bewegung. Mendel zeigt auf seinem Computer die Entsprechung aus der NS-Zeit: eine blaue Krake, die die Weltkugel umgreift, über dem Kopf ein Davidstern. Auch hier ist der Bezug zur antisemitischen Propaganda ganz nah. Die antisemitischen Symboliken sind oftmals erschreckend eindeutig.
Meron Mendel führt durch die Ausstellung "Das Gegenteil von Gut. Antisemitismus in der Linken" in der Bildungsstätte Anne Frank.
© Bernd Hartung
In der Bildungsstätte hängt ein Schläger mit der Aufschrift "Antisemitismuskeule". Die Ausstellung geht humoristisch damit um. "Ich bin immer erstaunt, dass Leute sagen, dass es ein Tabu gibt", sagt Mendel und schüttelt den Kopf. "Als ob es eine Sprachpolizei gibt und jemand verhaftet wird, weil er einen verletzenden Begriff benutzt hat." Das gelte auch für Kritik an der Politik Israels, von der viele sagten, man dürfe sie nicht äußern – obwohl allein der UN-Menschenrechtsrat seit 2015 in 62 Resolutionen Israel verurteilt habe. Gegen alle anderen Länder der Welt gab es 55 Resolutionen. "Warum hat man dieses große Bedürfnis, zu sagen, die Juden gefährden den Weltfrieden?"
Mendel moniert, dass viele davor zurückschreckten, Fälle als antisemitisch anzusehen, weil sie denken würden, Antisemitismus sei in der heutigen Gesellschaft passé. Das gehe nicht, sagt Marina Chernivsky von der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Berlin. "Wir brauchen eine innere Bereitschaft, uns irritieren zu lassen, zu stolpern, zu befragen." So könne man klarer erkennen, wo Antisemitismus beginnt und wie er auf Jüdinnen und Juden wirkt, die solche Anfeindungen treffen.