Pressemitteilung Venezuela 26. Februar 2019

Angst, Strafe, Hunger – die Unterdrückungsformel von Nicolás Maduro

BERLIN, 20.02.2019 – "Die Behörden unter Nicolás Maduro versuchen mit einer verabscheuungswürdigen Politik der Angst und Bestrafung soziale Kontrolle über diejenigen auszuüben, die in Venezuela einen Regierungswechsel fordern. Maduros Regierung geht gegen die ärmsten Menschen im Land vor. Statt sie zu schützen, wie er behauptet, bedroht, inhaftiert und ermordet die Regierung diese Menschen", sagte Erika Guevara-Rosas, Direktorin der Region Amerikas bei Amnesty International.



Venezuela steckt seit Jahren in einer schweren Menschenrechtskrise. Der Mangel an Lebensmitteln und Medikamenten, die Hyperinflation, Gewalt und politische Unterdrückung haben seit 2015 mehr als drei Millionen Venezolaner zur Flucht gezwungen.

Angesichts dieser düsteren Realität gehen Tausende auf die Straße und fordern einen Regierungswechsel. Zwischen dem 21. und 25. Januar kam es zu zahlreichen Demonstrationen. Viele dieser Proteste fanden in verarmten Stadtteilen statt, in denen die Forderung nach einem Regierungswechsel bis dahin nicht so sichtbar geworden war wie an anderen Orten. In diesen Gegenden hängen die Bewohner zu einem Großteil von den zurzeit eingeschränkten staatlichen Nahrungsmittelprogrammen ab, und gerade dort sind die Colectivos überall präsent, bewaffnete zivile Gruppen, die Nicolás Maduro unterstützen.

Bei den Protesten starben in nur fünf Tagen mindestens 41 Menschen – alle an Schussverletzungen. Mehr als 900 Menschen wurden willkürlich festgenommen und allein am 23. Januar – dem Tag der landesweiten Demonstrationen – wurden 770 willkürliche Festnahmen gemeldet.

Die Recherchen von Amnesty International in den Bundesstaaten Lara, Yaracuy, Vargas sowie mehreren Stadtteilen von Caracas bringen ein typisches Muster zutage: Sie zeigen, dass die Behörden der Bundesstaaten zur Kontrolle der Bevölkerung selektiv außergerichtliche Hinrichtungen durchgeführt haben. Dabei wurde vor allem die Spezialeinheit FAES (Fuerza de Acciones Especiales) der Nationalpolizei PNB (Policía Nacional Bolivariana) gegen Personen eingesetzt, die sich auf irgendeine Weise an den Protesten beteiligten. Die verarmten Stadtteile von Caracas und andere wirtschaftlich benachteiligte Gegenden im Land sind von dieser Gewalt besonders betroffen. Die Zahl der Opfer ist hier am höchsten und diese werden nun auch noch diffamiert, indem die Toten als "Kriminelle" hingestellt werden, die bei Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften zu Tode kamen.



Außergerichtliche Hinrichtungen



Amnesty International hat sechs außergerichtliche Hinrichtungen durch die FAES an verschiedenen Orten im ganzen Land dokumentiert. Die Opfer standen mit den Protesten in Verbindung, die in den Vortagen stattgefunden hatten; die Kritik, die sie an Nicolás Maduro geäußert hatten, war in den Sozialen Medien verbreitet worden. In allen sechs Fällen wurde ähnlich vorgegangen: Alle sechs Opfer waren junge Männer und die Behörden sagten über sie, dass sie bei Zusammenstößen mit der FAES zu Tode gekommen seien. Die FAES manipulierte die Tatorte und stellte die Opfer als Kriminelle dar. Sie behaupteten, dass mehrere von ihnen schon vorher straffällig geworden seien und versuchte damit, ihren gewaltsamen Tod zu rechtfertigen.

"Wie wir schon viele Male in Venezuela gesehen haben, möchten die Behörden uns weismachen, dass diejenigen, die während der Proteste zu Tode gekommen sind – hauptsächlich junge Menschen aus Gegenden mit geringem Einkommen – Kriminelle waren. Doch ihr einziges Verbrechen war, dass sie es wagten, eine Veränderung und ein Leben in Würde einzufordern", sagt Erika Guevara-Rosas.

Luis Enrique Ramos Suárez war 29 Jahre alt, als ihn Angehörige der FAES am 24. Januar in der Stadt Carora außergerichtlich hinrichteten. Am Tag zuvor war eine Audio-Nachricht in den Sozialen Medien verbreitet worden, in der Proteste gegen Nicolás Maduro und das Büro des Bürgermeisters von Carora angekündigt worden waren. In dieser Audio-Nachricht wurde Luis Enrique Ramos Suárez unter seinem Spitznamen als einer der Organisatoren genannt.

Am 24. Januar durchsuchten 20 schwer bewaffnete und überwiegend maskierte Angehörige der FAES rechtswidrig den Haushalt der Familie Ramos Suárez und misshandelten zehn Familienmitglieder, darunter sechs Kinder. Nachdem sie Luis Enrique Ramos Suárez unter seinem Spitznamen identifiziert hatten, ließen sie ihn in der Mitte des Raums knien. Ein FAES-Angehöriger machte Fotos und andere schlugen ihn.

Sie sperrten die anderen Familienmitglieder in separate Zimmer des Hauses, bedrohten und schlugen sie. Dann zwangen sie die Familie, das Haus zu verlassen, und brachten sie mit mehreren Fahrzeugen der Nationalpolizei an einen Ort in zwei Kilometer Entfernung. Wenige Minuten danach schossen sie Luis Enrique Ramos Suárez zweimal in die Brust. Er war auf der Stelle tot.

Nach Angaben von Zeugen feuerten FAES-Angehörige nach der Hinrichtung von Luis Enrique Ramos Suárez im Haus ihre Waffen ab, um einen Schusswechsel vorzutäuschen. Die FAES-Angehörigen konstruierten Beweismittel und brachten den Toten zum Leichenschauhaus. Mit diesem Vorgehen verstießen sie gegen jede Regel einer kriminaltechnischen Untersuchung.

Unverhältnismäßige Gewaltanwendung



Amnesty International dokumentierte außerdem, dass die Sicherheitskräfte zwei junge Männer erschossen, die an den Protesten teilgenommen hatten. Ein weiterer wurde angeschossen. Sowohl die PNB als auch die Bolivarische Nationalgarde GNB (Guardia Nacional Bolivariana) waren an solchen Operationen beteiligt.

Der 19-jährige Bäcker Alixon Pizani starb am 22. Januar an einer Schussverletzung in der Brust, als er im westlich von Caracas liegenden Catia mit einer Gruppe von Freunden an den Protesten teilnahm. Augenzeugen berichteten später, wie ein Beamter in einer PNB-Uniform von einem Motorrad aus wahllos in die Menge schoss und so zwei Aktivisten schwer verletzte.

Nachdem Alixon Pizani getroffen wurde und kein Krankenwagen kam, brachten ihn seine Freunde in ein Gesundheitszentrum. Dort starb er kurz darauf. Seine Familie berichtete, dass Angehörige der Spezialeinheit FAES am Krankenhauseingang auf sie und Alixon Pizanis Freunde schossen. Sie hätten sich sofort im Inneren des Gebäudes in Sicherheit gebracht. Bisher weist nichts darauf hin, dass die Staatsanwaltschaft eine Untersuchung der Vorfälle eingeleitet hat.



Willkürliche Inhaftierungen

Nach Angaben der venezolanischen Menschenrechtsorganisation Foro Penal haben die Behörden zwischen dem 21. und 31. Januar im gesamten Land 137 Kinder und Jugendliche festgenommen. Dazu gehört ein von Amnesty International dokumentierter Fall, bei dem sechs Personen, darunter vier Teenager, am 23. Januar festgenommen wurden. Sie hatten an einer Protestveranstaltung teilgenommen beziehungsweise einfach aus der Nähe zugeschaut.



Im Gespräch mit Amnesty International gaben sie an, bei der Festnahme von Sicherheitskräften geschlagen und als "guarimberos" (Protestierende, die Gewalt einsetzen) und "Terroristen" beschimpft worden zu sein. Außerdem habe man sie Reizmitteln ausgesetzt, sie am Schlafen gehindert und gedroht, sie zu töten. Sie erzählten, dass die Beamten, die sie festgenommen hatten, verschiedenen Sicherheitskräften des Bundesstaates angehörten und von Personen in Zivil begleitet wurden.



"Dass mehr als 100 Jugendliche festgenommen und einer grausamen Behandlung unterzogen wurden, die zum Teil Folter darstellte, zeigt, wie weit die Behörden bereit sind zu gehen, um die Proteste zu stoppen und die Bevölkerung zu unterdrücken", sagte Erika Guevara-Rosas.



Forderungen an die Regierung Venezuelas und die internationale Gemeinschaft



Amnesty fordert: Die venezolanischen Behörden müssen ihre in den vergangenen Jahren entwickelten Unterdrückungsmaßnahmen beenden und ihre Verpflichtung erfüllen, allen Opfern von Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen unter dem Völkerrecht Gerechtigkeit und Entschädigungen zu gewähren.



"Das venezolanische Justizwesen scheint die Opfer von Menschenrechtsverletzungen komplett im Stich zu lassen. Die wenigen Menschen, die den Mut haben, Anzeige zu erstatten und Beschwerden einzureichen, erhalten keine Unterstützung und sind sogar in Gefahr, weil die Behörden nicht reagieren", sagt Erika Guevara-Rosas.



Aufgrund dieser Situation, die es nahezu unmöglich macht, den Justizweg in Venezuela zu beschreiten, fordert Amnesty International den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen auf, Maßnahmen zu ergreifen, um die in Venezuela herrschende Straflosigkeit zu beenden. Dazu sollte ein unabhängiges Untersuchungsgremium eingerichtet werden, das die Menschenrechtslage in dem Land beobachtet und darüber Bericht erstattet.



Darüber hinaus sollte die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs diese Fakten prüfen und wenn diese als begründet bewertet werden, in seine Voruntersuchungen aufzunehmen, die derzeit zu Venezuela laufen.

Schließlich sollten die Staaten, die die Menschenrechtslage in Venezuela beobachten, prüfen, ob sie das Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit anwenden wollen, damit Betroffenen, denen der Zugang zur Gerechtigkeit in ihrem eigenen Land verwehrt ist, dieser alternative Weg ermöglicht wird.



"Die internationale Gerichtsbarkeit ist die einzige Hoffnung für Betroffene von Menschenrechtsverletzungen in Venezuela. Jetzt müssen alle verfügbaren Mechanismen eingesetzt werden, um weitere Gräueltaten zu verhindern", erklärt Erika Guevara-Rosas.

 

Weitere Artikel