Pressemitteilung Deutschland 01. Juli 2020

Angriffen auf Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in den eigenen Reihen entgegentreten

Eine Menschenmenge formt auf einem großen Platz ein Herz, in dem "CIVIL" steht

Demonstration in Budapest gegen die Kriminalisierung des zivilgesellschaftlichen Engagements durch die ungarische Regierung (April 2017)

Wenige Tage vor der heute begonnenen EU-Ratspräsidentschaft der Bundesregierung hat Amnesty International ein Pressehintergrundgespräch abgehalten. Wir dokumentieren die Eingangsstatements des Generalsekretärs Markus N. Beeko, der Europa-Expertin Janine Uhlmannsiek und der Asien-Expertin Theresa Bergmann.

In einigen EU-Mitgliedstaaten erleben wir zurzeit fundamentale Angriffe auf menschenrechtliche und rechtsstaatliche Grundsätze. Die ungarische Regierung versucht kritische Stimmen im Land massiv einzuschüchtern, zu diffamieren und zum Schweigen zu bringen. Damit befeuert sie ein zunehmend feindseliges Klima für Menschenrechtsarbeit. Nichtregierungsorganisationen (NGOs), darunter auch die ungarische Sektion von Amnesty International, sind immer wieder Schikanen und Diffamierungen durch Regierungsvertreter und regierungsnahe Zeitungen ausgesetzt. Außerdem wurden Gesetze verabschiedet, die friedliches und dringend notwendiges zivilgesellschaftliches Engagement behindern und kriminalisieren.

Unlängst hat der Europäische Gerichtshof Ungarns repressives NGO-Gesetz von 2017 für menschenrechtswidrig erklärt – ein Meilenstein und ein wichtiger Erfolg für unsere Kollegen in Ungarn, die seit Jahren gegen das Gesetz ankämpfen.

Die Bundesregierung muss zeigen, dass sie an der Seite der ungarischen und polnischen Zivilgesellschaft steht und bereit ist, für die europäischen Werte einzustehen.

Janine
Uhlmannsiek
Amnesty-Expertin für Europa in Deutschland

Auch in Polen beobachten wir seit einiger Zeit einen erschreckenden Abwärtstrend im Bereich Rechtsstaatlichkeit. Insbesondere die Unabhängigkeit der Justiz wird in Polen immer weiter eingeschränkt. Seit Ende 2015 wurde eine Reihe von Gesetzen und Maßnahmen beschlossen, die die Gerichte der politischen Kontrolle der Regierung unterwerfen. Die Gewaltenteilung wird zunehmend ausgehebelt und das Recht auf ein faires Verfahren ist bedroht.

Angesichts dieser Entwicklungen ist es gut und richtig, dass die Bundesregierung das Thema Rechtsstaatlichkeit im Rahmen ihrer Ratspräsidentschaft vorantreiben will. Dieser Ankündigung müssen jetzt auch Taten folgen.

Gegen Polen und Ungarn laufen aktuell Rechtsstaatlichkeitsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags. Diese Verfahren sind bislang nur sehr schleppend vorangegangen. Auch das hat dazu beigetragen, dass sich die Situation in Ungarn und Polen weiter zuspitzen konnte. Für die Zukunft einer EU, die auf der Achtung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit beruht, ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Artikel-7-Verfahren wirksam genutzt werden.

Dadurch wird den Regierungen in Ungarn und Polen, aber auch anderen EU-Mitgliedsstaaten signalisiert, dass der Abbau des Rechtsstaats nicht ohne Konsequenzen bleibt. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie die laufenden Artikel-7-Verfahren im Rahmen ihrer Ratspräsidentschaft entscheidend voranbringt und sich dafür einsetzt, dass konkrete Empfehlungen an die Behörden in Ungarn und Polen ausgesprochen werden. Die Bundesregierung muss zeigen, dass sie an der Seite der ungarischen und polnischen Zivilgesellschaft steht und bereit ist, für die europäischen Werte einzustehen.

Außerdem sollte sich die Bundesregierung auch grundsätzlich dafür einsetzen, dass die Instrumente zum Schutz von Rechtsstaatlichkeit in der EU gestärkt und ausgebaut werden. Hier ist für die Ratspräsidentschaft einiges geplant – von einem "Rechtsstaatscheck" unter Mitgliedsstaaten bis zum Vorschlag, EU-Fördermittel auszusetzen, wenn Rechtsstaatlichkeitskriterien anhaltend verletzt werden. Entscheidend ist, dass diese Maßnahmen effektiv ineinandergreifen und in der Praxis ganz konkret Wirkung entfalten. Außerdem müssen unabhängige Experten, auch aus der Zivilgesellschaft, bei der Entwicklung und Umsetzung neuer Mechanismen umfassend gehört werden. Nur so kann ein realistisches Bild der Lage vor Ort entstehen.

Angesichts des anhaltenden Negativtrends in einigen Mitgliedsstaaten – wie beispielsweise in Ungarn im Zuge der Corona-Pandemie – ist ganz offensichtlich, dass die bisherigen Schritte nicht ausreichen, um dem Abbau von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten in der EU Einhalt zu gebieten. Wird jetzt nicht gehandelt, besteht das Risiko, dass eine der wichtigsten Errungenschaften der EU, die Festigung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit innerhalb ihrer eigenen Grenzen, ins Wanken gerät. Deswegen müssen die EU und ihre Mitgliedsstaaten den Angriffen auf Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in den eigenen Reihen entschieden entgegentreten.

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