Aktuell Israel und besetztes palästinensisches Gebiet 26. November 2024

Menschenrechtsaktivist Amal Oraby: "Ich will die Mauer in den Köpfen der jüdischen Israelis durchbrechen"

Das Foto zeigt Amal Oraby, der Hemd und Brille trägt und ernst in die Kamera blickt.

Amal Oraby ist Anwalt, Menschenrechtsaktivist und Autor für arabische und hebräische Medien. Er lebt in der israelischen Stadt Haifa.

Amal Oraby ist einer von etwa zwei Millionen Palästinenser*innen mit israelischer Staatsbürgerschaft. Im Interview berichtet er davon, wie diese Minderheit in Israel diskriminiert wird, und warum jüdische und arabische Israelis sich kaum begegnen.

Interview: Hannah El-Hitami

Hannah El-Hitami: Sie sind Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft. Was prägt den Alltag dieser Minderheit in Israel?

Amal Oraby: Es gibt drei Hauptelemente, die das Leben der Palästinenser*innen in Israel bestimmen. Das erste ist Grundbesitz und Wohnen. Wir sind 20 Prozent der Einwohner*innen und wohnen auf drei Prozent des Landes. Die Wohnungskrise beeinflusst unser Leben von Anfang an. Ich wurde in einem "nicht legalen" Haus geboren, dem ständig der Abriss drohte. Später studierte ich Jura und Stadtplanung. Da wurde mir klar, dass mehr als 50.000 weitere palästinensische Häuser in Israel als "illegal" gelten. Das Land, auf dem wir leben, kann jederzeit beschlagnahmt werden. Die arabischen Dörfer Israels haben sich über die Jahre irregulär entwickelt, weil sie keine Baugenehmigungen bekommen. Heute sind sie nur noch Betonmonster, in denen Armut herrscht. 50 Prozent der Palästinenser in Israel leben unter der Armutsgrenze. In der Negev-Wüste leben mehr als 100.000 Beduinen in nicht anerkannten Dörfern, ohne Strom, Wasser oder Internet.

Das zweite Element ist die Kriminalität und Gewalt, die unsere Gesellschaft heute mehr denn je beherrschen. Wir sind eine kleine Bevölkerung von etwas 2 Millionen und haben die drittgrößte Kriminalitätsrate auf der Welt nach Ecuador und Mexiko. Mehr als 200 Tötungsdelikte gibt es in den arabischen Dörfern in Israel jedes Jahr.

Woran liegt das?

Wie jede Minderheit der Welt leiden wir unter einer zu hohen und einer zu niedrigen Kontrolle durch die Polizei. Sobald wir unsere Dörfer verlassen und in jüdische Gebiete gehen, werden wir durchsucht und überwacht. Aber in unseren Dörfern selbst werden wir uns selbst überlassen. Von 100 Tötungsdelikten führen nur 15 Prozent zu Festnahmen. Armut ist ein Grund dafür, dass junge Menschen in der organisierten Kriminalität arbeiten. Über die Jahre haben sich unter den Augen oder gar mit Unterstützung der Polizei kriminelle Banden entwickelt, die heute einige arabische Dörfer beherrschen. In meinem kleinen Dorf Deir Hanna wurden bei nur 10.000 Einwohner*innen schon fünf Menschen in diesem Jahr getötet. Leider ist das Problem unter dem rassistischen Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir noch schlimmer geworden. Er wurde in der Vergangenheit wegen Unterstützung terroristischer Organisationen verurteilt und ist heute für die Polizei verantwortlich.

Was ist das dritte Element?

Rassismus und die damit verbundene Unterdrückung der Bürgerrechte, die immer deutlicher wird.

Ist das im Gesetz festgeschrieben?

Das Perfide ist, dass das Wort Araber im israelischen Gesetz überhaupt nicht vorkommt. Aber in der Realität gibt es von Geburt an eine rassistische Unterscheidung. Zum Beispiel in der Ausbildung: das Level der arabischen Schulkinder in Israel ist das schlechteste im ganzen Mittleren Osten. Das Einkommen von palästinensischen Familien in Israel ist viel niedriger als das von jüdischen. Der israelische Staat hat seit der Staatsgründung 900 jüdische Dörfer gebaut und kein einziges für Palästinenser*innen. 2018 wurde das Nationalstaatsgesetz beschlossen, das die arabische Bevölkerung offen diskriminiert. Es macht den palästinensischen Bürger*innen Israels klar, dass dieses Land ihnen nicht gehört – und den Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten, dass sie niemals einen Staat haben werden.

Das Bild zeigt einen Mann, der in ein Mikrofon spricht

Menschenrechtsaktivist und Jurist Amal Oraby bei einer Veranstaltung von "Israelis für Frieden" bei Amnesty International in Berlin im November 2024

Wie sieht die Trennung zwischen jüdischen und palästinensischen Israelis im Alltag aus?

Wenn du als palästinensischer Bürger Israels in einem arabischen Dorf aufwächst, lernst du keine jüdischen Israelis kennen. Es gibt kaum Möglichkeiten zur Begegnung. Du lernst in der Schule jahrelang Hebräisch, benutzt es aber nie. Ich galt als sehr guter Schüler im Hebräischunterricht. Aber als ich später in Jerusalem mit dem Jura-Studium anfing, verstand ich kein Wort. Ich hatte die Sprache noch nie verwendet, weil ich nie mit Israelis gesprochen hatte.

Und andersherum?

Weniger als 0,2 Prozent der israelischen Gesellschaft kann Arabisch. Die israelischen Studierenden, denen ich an der Uni begegnete, wussten nicht nur nichts über Araber*innen, sondern hatten seltsame rassistische Vorstellungen von ihnen. Sie kamen gerade vom Militärdienst und kannten Palästinenser*innen nur aus den besetzten Gebieten, wo sie sie kontrollieren und erniedrigen. Israelis begegnen keinen arabischen Menschen, obwohl sie direkt neben ihnen leben. Sie sehen sie nur in den Medien. Dort gibt es vier Stereotype von Araber*innen: den Extremisten, der versucht, Israel zu zerstören, und den man ständig im Blick behalten muss; den traditionellen Araber, der kocht, ein Schaf schlachtet und Hochzeiten feiert. Das dritte Bild, das eher neu und in Europa weitverbreitet ist, stellt den Araber als zurückgebliebenen, brutalen und barbarischen Muslim dar. Und schließlich gibt es noch das Bild des guten Arabers, der Terrorismus verurteilt, den israelischen Staat unterstützt und stolz auf seine israelische Staatsangehörigkeit ist.

Wie gingen Sie im Studium und seitdem mit diesen Stereotypen um?

Ich wollte gesehen werden. Ich bin ein Araber, der fließend Hebräisch spricht, international vernetzt ist, stolz auf seine arabische und palästinensische Identität ist, seine Rechte kennt und keine Angst hat. Ich habe eine Meinung und will sie sagen. Ich begann, mich politisch und zivilgesellschaftlich zu engagieren, schrieb und sprach öffentlich auf Hebräisch. Ich habe einen Podcast, in dem ich auf Hebräisch mit Palästinenser*innen über Kultur, Politik und Geschichte spreche. So will ich einen Raum schaffen, in dem Israelis uns kennenlernen können. Ich will den jüdischen Israelis ja keine Angst machen, sondern die Mauer in ihren Köpfen durchbrechen.

Für Ihre Arbeit wurden Sie immer wieder unter Druck gesetzt. Sie wurden vom israelischen Fernsehen suspendiert, die israelische Anwaltskammer versuchte, Ihnen die Anwaltslizenz zu entziehen. 

Je bekannter ich wurde, desto mehr wurde ich angegriffen. Die jüdische Vorherrschaft in Israel ist nur durch Segregation möglich. Jede Kommunikation jenseits dieser imaginären Mauer ist für die rechten Politiker gefährlich. Unsere Eltern, die die erste und zweite Intifada erlebt haben, haben uns immer Angst gemacht. Sie sagten, wir sollen nicht öffentlich über Politik sprechen. "Man wird einen schwarzen Punkt auf dich setzen", das war der Ausdruck, den sie nutzten. Ich entschied mich, das Risiko in Kauf zu nehmen. Sich auszudrücken ist nicht nur ein Recht, sondern eine moralische Pflicht, vor allem für Menschen wie mich, die gewisse Privilegien haben. Weil ich die israelische Staatsbürgerschaft habe und weil ich Anwalt bin und das Gesetz verstehe, bin ich etwas geschützter als die Palästinenser*innen in der Westbank oder Ostjerusalem. Sie können jederzeit willkürlich inhaftiert oder getötet werden. Das würde mir eher nicht passieren. Naja, jetzt vielleicht schon. Seit dem 7. Oktober 2024 ändert sich alles. Die extreme Rechte nutzt die Chance, alle ihre verrückten Pläne umzusetzen.

Das Bild zeigt Polizisten, die einen Mann wegstoßen

Israelische Sicherheitskräfte schubsen und treten einen Palästinenser bei Protesten in Jerusalem (Archivaufnahme vom Mai 2022)

Wie hat sich die Lage der palästinensischen Bürger*innen Israels im vergangenen Jahr verändert?

Wir wussten sofort, dass uns eine sehr gefährliche Phase bevorsteht. Von Anfang an verstärkte die Regierung ihren Würgegriff. Rechte Politiker*innen verbreiteten die Idee, dass wir die Gelegenheit für einen Aufstand nutzen würden. Es gab sogar Verschwörungstheorien, dass die palästinensische Bevölkerung Israels die Hamas am 7. Oktober unterstützt hätte. Menschen wurden willkürlich festgenommen, auch hochrangige Politiker*innen. Eine renommierte Professorin an der Universität wurde ebenso festgenommen wie eine bekannte Sängerin. Menschen wurden verfolgt oder gefeuert, weil sie im Netz ihre Solidarität mit den Menschen in Gaza ausgedrückt hatten. Was mich wirklich schockiert hat, war, dass Menschen, die ich als Freund*innen betrachtet hatte, Artikel von mir übersetzten und an die Polizei schickten, oder Screenshots von meinen Posts machten und an meine Arbeitgeber*innen schickten. In der Folge kam die Polizei zum Haus meiner Eltern, um sie einzuschüchtern und mich festzunehmen. Letztendlich wurde ich nicht befragt, aber der Schaden ist trotzdem angerichtet.

Seit einem Jahr wird die Meinungsfreiheit auf diese Weise eingeschränkt. Es ist zum Verzweifeln: Wir beobachten die Auslöschung unseres Volkes durch den Staat, in dem wir leben. Und wir können noch nicht einmal etwas dagegen sagen ohne Konsequenzen zu fürchten. Nicht nur die Polizei ist eine Gefahr für uns. Der rechtsextreme Sicherheitsminister Ben-Gvir verteilte vergangenes Jahr Waffen an israelische Zivilist*innen. Die Öffentlichkeit wird militarisiert. Überall sind Waffen, selbst am Strand. Das ist sehr beängstigend.

Wie gehen die Menschen damit um?

Immer mehr Menschen in meinem Alter denken nicht nur darüber nach auszuwandern, sondern planen das konkret. Wir sind die dritte Generation nach der Nakba, wir sind gebildeter, selbstbewusster, wir kennen unsere Rechte, wir arbeiten an Unis, Krankenhäusern und in allen wirtschaftlichen Branchen. Nun wird versucht, diese Errungenschaften kaputt zu machen.

Was motiviert Sie, trotz allem weiterzumachen?

Um der Entmenschlichung von Palästinenser*innen, Araber*innen, Muslim*innen entgegenzuwirken, können wir nur zeigen, dass wir normale Menschen sind. Wir haben Meinungen und Träume, lieben Kunst und Essen, lachen gerne. Selbst wenn mir keiner zuhört, gebe ich mir selbst meine Menschlichkeit zurück, indem ich mich ausdrücke. Rassismus setzt Grenzen, die dich davon abhalten sollen, zu denken, zu handeln, dich weiterzuentwickeln. Wir müssen uns die Kontrolle über unsere Realität zurückholen. Trotz Rassismus fühle ich mich heute frei.

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