"Wir könnten Assad vor Gericht bringen"

Nach Angriffen zerstörte Häuse in Aleppo im April 2015
© Amnesty International Foto: Khalil Hajjar
Obwohl unzählige Beweise für Kriegsverbrechen in Syrien vorliegen, ist es auch sechs Jahre nach Beginn des Aufstands gegen Diktator Bashar al-Assad zu keiner Anklage gekommen. Die Schweizer Juristin Carla Del Ponte gehört seit 2011 der Unabhängigen Internationalen Syrien-Ermittlungskommission der Vereinten Nationen an. Von 1999 bis 2007 war sie Chefanklägerin des UNO-Sondertribunals für das frühere Jugoslawien.
Interview: Markus Bickel
Nach dem Fall Ost-Aleppos hat die UNO-Vollversammlung eine Resolution verabschiedet, die eine Verfolgung von Kriegsverbrechen in Syrien möglich macht. Kommt diese nicht Jahre zu spät?
Nein. Für diese Verbrechen ist es nie zu spät. Natürlich wäre es besser gewesen, wenn man früher begonnen hätte, Wege zu finden, um den Verantwortlichen den Prozess zu machen. Aber wir haben genügend Beweise gesammelt, um der Gerechtigkeit doch noch zum Durchbruch zu verhelfen.
Sollte bei den Syrien-Verhandlungen in Genf die juristische Aufarbeitung der Verbrechen nicht eine viel größere Rolle spielen?
Das sollten sie, aber leider sind Justiz und Gerechtigkeit bei diesen Verhandlungen kein Thema. Unsere Frustration ist groß: Wir ermitteln, aber wofür, wenn sich niemand damit beschäftigt, dass die Verantwortlichen vor Gericht erscheinen?
Warum ist das im Fall Syriens anders als bei den Friedensschlüssen auf dem Balkan, als Staatschefs wie Slobodan Milošević wussten, dass sie im Visier der internationalen Strafjustiz stehen?
Die Dayton-Verhandlungen für Bosnien waren erfolgreich, weil die Amerikaner mit Milošević verhandelten im Wissen, dass das Sondertribunal für Jugoslawien gegen ihn ermittelte. Deshalb nenne ich dieses Vorgehen immer als Vorbild für Syrien: Man muss, wenn man Frieden erreichen will, auch mit der Regierung verhandeln – das heißt, mit Präsident Bashar al-Assad.
Hat Ihre Kommission genügend Beweise, um Anklage gegen Assad zu erheben?
Ja, wir haben ausreichend Material gesammelt, um Verfahren gegen hohe politische und militärische Verantwortliche aller Seiten zu führen. Wir warten allerdings immer noch darauf, unsere Beweise einem internationalen Gerichtshof übergeben zu können. Das sollte so schnell wie möglich geschehen, denn es wäre auch ein Beitrag zu den Friedensverhandlungen.

Ein Mann fährt in der belagerten Rebellenstadt Duma in Syrien mit dem Fahrrad an zerstörten Gebäuden vorbei, Dezember 2016
© Bassam Khabieh / Reuters
Der UNO-Sicherheitsrat müsste den Fall Syrien an den Internationalen Strafgerichtshof überweisen. Das wird von China und Russland aber blockiert. Müssen künftig nationale Gerichte Kriegsverbrechern den Prozess machen?
Die ganze Arbeit können sie sicherlich nicht machen. Bislang finden nur in einzelnen Ländern Prozesse gegen ausländische Kämpfer statt, die sich dem "Islamischen Staat" angeschlossen haben. Da es bislang kein Staat gewagt hat, gegen hohe politische oder militärische Verantwortliche Verfahren zu eröffnen, bleibt dafür nur ein internationaler Gerichtshof.
Südafrika, Gambia und Burundi haben angekündigt, den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu verlassen. Die Philippinen erwägen ebenfalls einen solchen Schritt, Großbritannien kürzt seine Mittel. Was bedeutet das für das Gericht?
Es ist ein schwerer Moment für den Internationalen Strafgerichtshof, wenn Staaten ihm den Rücken kehren. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass wieder bessere Zeiten kommen werden – schließlich war die Schaffung eines permanenten Gerichtshofs ein großer Erfolg der internationalen Justiz. Rückwärts gehen kann man nicht, nur vorwärts, aber dafür muss man kämpfen, sonst wird es keine Gerechtigkeit für die Opfer geben.
Seitens der afrikanischen Staaten heißt es, der Strafgerichtshof sei ein Instrument des Westens und übe Kolonialjustiz aus.
Das ist eine politische Instrumentalisierung des Themas, die einfach nicht stimmt. Natürlich werden die Ermittlungen in Afrika zu Recht geführt, und das auch mit Erfolg. Deshalb mache ich mir nicht allzu viele Sorgen über solche Äußerungen.
Dieser Artikel ist in der Ausgabe Februar 2017 des Amnesty Journals erschienen.