Amnesty Journal Argentinien 29. August 2016

Was nicht verschwand

Was nicht verschwand

Szenen aus dem Graphic Novel "Eternauta"

Vor 40 Jahren begann das argentinische Militär, Oppositionelle zu ermorden und ihre Leichen verschwinden zu lassen. Einer von ihnen war der Schriftsteller Héctor Germán Oesterheld. Seine 1957 erschienene Graphic Novel "El Eternauta" liegt nun ebenso auf Deutsch vor wie ein Standardwerk zur argentinischen Militärdiktatur, das Horacio Verbitsky verfasste.

Von Maik Söhler

Im März 2016 jährten sich der Militärputsch und die Machtübernahme einer Junta unter Führung des argentinischen Generals Jorge Rafael Videla zum 40. Mal. Die Debatten um die Auswirkungen der Diktatur auf die Gegenwart und Zukunft Argentiniens sind jedoch längst nicht abgeschlossen. Seit Dezember 2015 regiert mit Mauricio Macri wieder ein konservativer Präsident, dem Misstrauen entgegenschlägt, was die Auf­arbeitung der Diktatur anbelangt, für die seine Amtsvorgänger Néstor und Cristina Kirchner standen.

Diese Aufarbeitung wäre schwieriger gewesen ohne ein Buch, das nun erstmals auf Deutsch vorliegt: Horacio Verbitskys "Der Flug", das in Argentinien bereits 1995 erschien. Darin wendet sich der Marineoffizier Adolfo Scilingo, der am "Verschwindenlassen" von Guerilleros und anderen Oppositionellen während der Diktatur beteiligt war, an Verbitsky und erzählt ihm seine Geschichte sowie zahlreiche Details über die von 1976 bis mindestens 1978 währende Phase, als Tausende Argentinier willkürlich entführt, gefoltert und ermordet wurden. Auch Staatsbürger anderer Nationen wurden getötet.

Vor allem auf einen Aspekt kommt Scilingo immer wieder zu sprechen – den Abwurf betäubter Gefangener aus Marineflugzeugen ins Meer. Tausende Opfer der Diktatur sind bis heute verschwunden, in Argentinien und anderen südamerikanischen Staaten werden sie "Desaparecidos" genannt. Mehrere Prozesse gegen hochrangige Militärs, von Vorgesetzten unbeantwortete Briefe, ein schlechtes Gewissen sowie persönliche Probleme haben den überzeugten Marinesoldaten Scilingo in einen Zweifler verwandelt, der Klarheit über seine eigene Schuld und die seiner Vorgesetzten und Untergebenen haben will.

Im Abschlussbericht der Nationalen Kommission über das "Verschwindenlassen" von Personen (Conadep), der 1984, ein Jahr nach dem Ende der Diktatur, erschien, heißt es, die grausamen Vergehen seien als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen. Der Bericht spricht von mindestens 9.000 "Verschwundenen", eine weitaus höhere Zahl könne angenommen werden. Menschenrechtsorganisationen und argentinische Historiker gehen von 20.000 bis 30.000 Menschen aus, die dem "Staatsterrorismus" (Horacio Verbitsky) zum Opfer fielen.

Im Vorwort schreibt Wolfgang Kaleck, Menschenrechtsanwalt und Gründer des European Center for Constitutional and Human Rights: "Bücher können den Lauf der Dinge verändern und das Werk von Verbitsky (…) ist ein solches Buch." Denn es helfe "zu verstehen, wie zivilgesellschaftliche Akteure bleierne Zeiten aufbrechen können".
Verbitskys "Der Flug" ist ein Protokoll der Arbeits- und Denkweisen von Militärangehörigen in einer Diktatur und ein wichtiges Dokument, das Verantwortliche, Befehlsketten und Taten gerichtsverwertbar beschreibt. Dank seiner Präzision dient es auch Wahrheitskommissionen, in- und ausländischen Anwälten, Staatsanwälten, Gerichten und Parlamenten, die das Vergangene aufarbeiten, die Täter bestrafen und den Überlebenden und Angehörigen der Opfer ein würdiges Gedenken ermöglichen, als eine Grundlage ihrer Arbeit.

Erst Mitte der neunziger Jahre kam in Argentinien eine breite öffentliche Debatte in Gang, zu groß war zuvor der Druck des Militärs auf die politischen und juristischen Institutionen. Strafprozesse innerhalb und außerhalb des Landes gibt es vermehrt seit Anfang des neuen Jahrtausends, das Amnestiegesetz der Junta wurde erst 2005 vollständig aufgehoben. Inzwischen wurde auch die Vorgeschichte des Putsches deutlich – einschließlich der ideologischen Kooperation von Militärs und hochrangigen Vertretern der katholischen Kirche.

Einer der "Desaparecidos" ist der argentinische Comic-Autor Héctor Germán Oesterheld, dessen Hauptwerk "El Eternauta" jetzt auf Deutsch vorliegt. Im Vorwort schildert die Journalistin Anna Kemper, wie Oesterhelds Ehefrau Elsa im Mai 1977 einen Anruf bekam und man ihr mitteilte, ihr Mann sei gefangengenommen worden. Er tauchte nie wieder auf, auch ihre vier gemeinsamen Töchter Estela, Beatriz, Marina und Diana "verschwanden". Die Militärdiktatur ließ alle ermorden, weil sie im Verdacht standen, zu den linksperonistischen "Montoneros" zu gehören. Nur Beatriz’ Leichnam wurde der Mutter überlassen.

"Von allen Foltermethoden, die sich die Diktatoren ausdachten, ist das Verschwindenlassen die perfideste. Eine Folter, die niemals aufhört. (…) Die Ungewissheit lässt es nicht zu, Abschied zu nehmen", schreibt Kemper, die mit Elsa Oesterheld in Buenos Aires sprach. Die Leichen von Estela, Marina, Diana und Héctor Germán Oesterheld sind bis heute nicht aufgetaucht.

Oesterheldts Buch "El Eternauta" (Deutsch: Der ewig Reisende) entstand 1957 und ist der wohl berühmteste Comic Argentiniens. Die Science Fiction-Geschichte erzählt von der Landung übermächtiger Außerirdischer, aber auch vom solidarischen Kampf der Menschen, die mit ihren begrenzten Mitteln gegen die Invasion vorgehen. "Es ist beinahe undenkbar, den Eternauta von Héctor Germán Oesterheld (…) nicht als erstaunlich antizipatorisches Porträt der argentinischen Gesellschaft unter der Militärdiktatur zu lesen", schreibt die Soziologin Estela Schindel im Nachwort. Sie verweist auf die vielen Orte, an denen in "El Eternauta" Menschen gegen Aliens kämpfen und an denen nur wenige Jahre später der Staatsterrorismus tatsächlich mit Folter und Mord gegen vermeintliche und echte Gegner vorging.

Einer dieser Orte, an dem massenhaft gefoltert und getötet wurde und von dem aus Gefangene abtransportiert wurden, um sie über dem Meer abzuwerfen, ist die Mechanikerschule der Marine in Buenos Aires (ESMA). Das Kasino der Offiziere wurde 1976 zum geheimen Gefangenenlager umgebaut, heute dient es als "Ort der Erinnerung und der Menschenrechte". Bereits 20 Jahre vor der Diktatur war die ESMA einer der Schauplätze, an denen Oesterhelds Protagonist Juan Salvo gegen die Invasoren kämpft, die neben der konventionellen auch die psychologische Kriegsführung beherrschen.
All das erinnert Estela Schindel an die "haarfeine, netzartige Ausbreitung des Terrors in den Raum des Alltags". Doch in "El Eternauta" führt der Widerstand der Menschen durchaus zu kurz- und mittelfristigen Erfolgen, die Angst des Einzelnen weicht, wo die kollektive Aktion beginnt. "Die Hinterlassenschaft des Autors von El Eternauta stellt somit ein verbindendes Element für ein ebenso aktuelles wie zukünftiges Projekt dar, nämlich, die politische Jugend anzusprechen", meint Schindel.

In die anhaltende Diskussion um die Hinterlassenschaften der Diktatur in Argentinien haben sich längst wieder Stimmen gemischt, die Folter und Terror relativieren wollen oder einen Schlussstrich fordern. Das ist das Gegenteil dessen, wofür die so unterschiedlichen Bücher von Oesterheld und Verbitsky stehen.

Héctor Germán Oesterheld (Text)/Francisco Solano Lopéz (Zeichnung): Eternauta. Aus dem Spanischen von Claudia Wente. Avant-Verlag, Berlin 2016. Schwarz-weiß, 392 Seiten, 39,95 Euro.

Horacio Verbitsky: Der Flug. Wie die argentinische Militärdiktatur ihre Gegner im Meer verschwinden ließ. Aus dem Spanischen von Sandra Schmidt. Mandelbaum, Wien 2016. 200 Seiten, 19,90 Euro.

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