Amnesty Journal Argentinien 25. Juli 2016

Hölle im Diesseits

Schriftzug "Stop Folter", Folter dabei durchgestrichen

Vierzig Jahre nach dem Beginn der argentinischen Militärdiktatur veröffentlicht der Historiker Christian Dürr eine erhellende Studie über das Lagersystem von General Videla.

Von Christian v. Ditfurth

Zu den Müttern der Folter zählt die Viehzucht. Ihr verdankten die argentinischen Militärs die "Picana". Das Gerät erzeugt Stromschläge, die schmerzhaft, aber nicht tödlich wirken. Perfekt, um Rinder auf die Weide zu treiben. Perfekt, um Menschen zu quälen. Die Opfer wurden nackt auf ein Bettgerüst oder einen Metalltisch geschnallt. Gern klebten die Folterer die Kabelenden an die Geschlechtsteile. An manchen Gefangenen wurde die Picana tagelang befestigt, um immer wieder Stromschläge zu verabreichen. Dazu kam die "Capucha", die Kapuze, darunter eine Augenbinde, die "Tabique". Monatelang waren die Folteropfer in ihren Zellen eingeschlossen, bis auf den Toilettengang, bei dem es Prügel setzte. Eine Hölle im Diesseits.

Die Rede ist von Argentinien während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983. Der südamerikanische Staat, von dem der Fußballer Berti Vogts schwärmte, es sei ein "Land, in dem Ordnung herrscht. Ich habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen". Was kein Wunder ist, denn die Fußballfans in ­Generalsuniform ließen ihre Gefangenen in Folterzentren verschwinden, nicht nur während der Fußball-Weltmeisterschaft 1978.

In Argentinien gab es 762 Folterlager, stellt der Historiker Christian Dürr fest. Der Archivleiter der KZ-Gedenkstätte Mauthausen hat eine erhellende Studie über die Diktatur des Generals Videla und ihre Opfer verfasst. In den Folterzentren verschwanden politische Aktivisten und Menschen, die dafür gehalten wurden: Mütter, Väter, Kinder von Aktivisten, weil sie Verwandte von angeblichen Staatsfeinden waren. Polizisten oder Soldaten überfielen ihre Wohnungen und verschleppten die Opfer. Zu den 30.000 Todesopfern des Staatsterrors gehörte auch die Deutsche Elisabeth Käsemann: 1977 brachten die Militärs sie in ein Folterzentrum, sperrten sie in einen Hundezwinger, folterten sie – auch mit der Picana – und vergewaltigten sie, bevor die junge Frau erschossen wurde. Ihre Leiche entsorgten die Mörder auf einem Acker. Die Überreste anderer Opfer wurden nie gefunden. Es zählte zu den Spezialitäten der argentinischen Militärs, Gefangene nach der Qual aus Flugzeugen in den Rio de la Plata zu werfen.

Seit 2010 gilt "Verschwindenlassen" als Menschenrechts­verletzung. Die UNO-Konvention gegen dieses Verbrechen war nicht zuletzt eine Reaktion auf den Staatsterror in Argentinien, Chile, Paraguay, Uruguay, Bolivien und Brasilien in den siebziger und achtziger Jahren. Vereint bekämpften die damaligen ­Militärregierungen ihre Gegner – beraten, geschult und gesponsert von der CIA, Deckname "Operation Condor". Noch heute bemühen sich Politiker, Menschenrechtsaktivisten, Journalisten, Richter und Staatsanwälte, die Verbrechen aus dieser Zeit aufzuklären.

Christian Dürrs Buch leistet dazu einen herausragenden ­Beitrag. Und zwar nicht wegen seines Versuchs, argentinische Folterzentren und deutsche Konzentrationslager historisch zu vergleichen, sondern aufgrund der verstörenden Aussagen der Überlebenden der argentinischen Folterzentren, die er interviewt hat. Selten ist es so gut gelungen, den Begriff "Verschwindenlassen" mit dem Schrecken zu füllen, den er in Wahrheit eher verhüllt. Denn die Opfer verschwinden nicht im eigentlichen Wortsinn, sie werden vielmehr verschleppt, um sie zu foltern und zu töten. Im Argentinien der Militärdiktatur hatte diese Praxis Methode und Dürrs Verdienst ist es, diese Methode entschlüsselt zu haben. Er zeigt, was es hieß, in Argentinien zu "verschwinden".

Wer in die Fänge der Militärs geriet, wurde umgehend gefoltert: aus dem Wagen gezerrt, ins Internierungslager geschleppt und misshandelt. Es blieb keine Zeit, um das Geschehen zu begreifen. Die Opfer wurden geprügelt, vergewaltigt, mit Stromschlägen gequält. Gedemütigt ohnehin. Die Intensivphase dauerte Tage, manchmal Wochen. Die Täter wollten Auskünfte. Sie suchten weitere Opfer. Sie verschleppten und folterten Verwandte, um Informationen zu erhalten. Aber Auskünfte genügten ihnen nicht. Sie wollten ihre Feinde zerstören, sofern sie diese nicht gleich ermordeten, ihre Persönlichkeit auslöschen und womöglich neu schaffen.

Auf die Brachialfolter der Intensivphase folgte, was Dürr die "Normalisierungsphase" nennt. Die Folterer beendeten die Befragung. Es wurde weniger gefoltert, doch Kapuze und Augenbinde blieben. Die Gefangenen vegetierten vor sich hin. Auch wer Informationen preisgegeben hatte, war keineswegs gerettet.

Nicht zu entschlüsseln ist bis heute, wer warum überlebte. Nach vier bis sechs Monaten "Normalisierung" folgte die "Überstellung" oder die Entlassung. Warum wurde der eine ermordet – nichts anderes bedeutete "Überstellung" –, warum durfte der andere weiterleben? Die Folterer töteten auch Kollaborateure. Viele Opfer kontrollierten sich nach der Tortur selbst, kämpften mit den Folgen des Terrors. Es gab keine Befreiung nach der Freilassung. Nur wenige kollaborierten, doch fanden sich viele mit der Gewaltherrschaft ab. Die Folterer überwachten ihre Opfer weiter, zwangen manche, in den Folterzentren Handwerksarbeiten auszuführen. Forderten Telefonanrufe, riefen selbst an, besuchten die Opfer nach der Freilassung wie alte Freunde, tranken ein Bier mit ihnen.

Die Offiziere waren nicht dumm: Sie wussten, dass aus Folteropfern selten glühende Anhänger werden. Die Militärs wollten aus Widerständigen angepasste Menschen formen. Für die überlebenden Opfer bedeutete dies, sich abfinden, einen Weg finden in der Diktatur, die unveränderbar erschien – besser im Anzug studieren anstatt in Jeans und T-Shirt Widerstandsaktionen organisieren.

Wer die Hölle verließ, trug den Schrecken in die Gesellschaft. Offiziell gab es keine Folterlager, aber jeder wusste davon. Diejenigen, die entkamen, bezeugten die Existenz der Hölle, ob sie es wollten oder nicht – durch Schweigen oder durch Reden. Der Schrecken sollte den Widerstand brechen. Die Angst vereinzelte die wenigen, die sich mit der Herrschaft der Militärs nicht abfanden. Die Gesellschaft wandte sich ab von der Politik. Das genügte den Herrschenden.

1983 stürzte die Diktatur über die Wirtschaftskrise und die Niederlage im Falklandkrieg. Wie Dürrs Zeugen eindringlich bekunden, haben die Folterer auch in der Demokratie ihre Spuren hinterlassen – in ihren Opfern, in der Gesellschaft. Der Schrecken klingt nach. Aber nach Jahren der Verdrängung landen die Generäle und ihre Folterknechte nun auf der Anklagebank. Und die Menschen fragen weiter nach den Opfern, die immer noch verschwunden sind.

Christian Dürr: "Verschwunden". Verfolgung und Folter ­unter der argentinischen Militärdiktatur (1976–1983), ­Metropol, Berlin 2016. 221 Seiten, 19 Euro.

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