Amnesty Journal 01. April 2015

Das Porträt eines Landes

Das Porträt eines Landes

Dokumentar eines Landes und seiner Menschen. Der "Bar"-Fotograf Adnan Onur Acar

Das Istanbuler Fotokollektiv "Nar Photos" sucht Geschichten jenseits des Mainstreams, stellt Menschen und deren Alltag in den Vordergrund. Um unabhängig zu bleiben, arbeiten die Fotografen ehrenamtlich.

Von Ralf Rebmann

Istanbul lädt zum Flanieren ein. Vor allem im Viertel Tophane, dessen verwinkelte Gassen mit ihren Antiquitätenhändlern sich bergab Richtung Bosporus schlängeln. Ein Platz in einem der kleineren oder größeren Teegärten ist immer frei. Krieg und Vertreibung scheinen hier weit entfernt.

Adnan Onur Acar rollt die erste Zigarette und bestellt dann lieber Kaffee statt Tee. "Wir warten auf Fotos von der Grenze", sagt der 30-Jährige. Zwei Kollegen seien vor Ort. "Die Fotos müssen gesichtet werden, bevor wir sie zu den Agenturen schicken können." Adnan ist Fotograf und Teil des Istanbuler Kollektivs "Nar Photos", einem Zusammenschluss von Fotografinnen und Fotografen aus der Türkei.

Die Grenze, von der er spricht, ist 1.200 Kilometer von Istanbul entfernt. Sie trennt die Türkei von Syrien, die türkische Kleinstadt Suruç vom syrischen Ain al-Arab, auch Kobane genannt. Mitte September 2014 versuchten Einheiten des sogenannten Islamischen Staats, die Stadt einzunehmen. Zehntausende Menschen, mehrheitlich Kurden, fürchteten ein Massaker und flüchteten in Panik über die Grenze in die Türkei.

Die Fotos, die Adnan und seine Kollegen später sichteten, zeugen von der Fassungslosigkeit der Flüchtlinge, als sie schließlich türkisches Staatsgebiet erreichen, von der Wut türkischer Kurden, die mit bloßen Händen einen Stacheldrahtzaun niederreißen, weil das Militär sie nicht nach Kobane lässt, um dort zu kämpfen. Und sie zeigen Panzer in der südostanatolischen Stadt Diyarbakır, in der seit mehr als zehn Jahren wieder eine Ausgangssperre verhängt wurde. In jenen Tagen bestimmten die Kämpfe um Kobane die Arbeit des Kollektivs.

"Nar Photos" wurde 2003 gegründet. Heute sind achtzehn Fotografinnen und Fotografen für das Kollektiv in der Türkei unterwegs, teilweise in Kooperation mit weiteren Fotoagenturen wie der deutsch-österreichischen Agentur "Laif" oder "Redux Pictures" aus den USA. "Nicht jeder kann immer überall sein, deshalb teilen wir Aufgaben und die Verantwortung", erklärt Adnan.

Tagesaktuelle Bilder, wie die aus Kobane, sind nur ein Teil der Arbeit. "Wir wollen mit unseren Fotos dokumentieren, den Alltag und das Gewöhnliche zeigen." Dafür brauche man Zeit, für die Menschen, ihre Probleme und Sorgen, sagt der Fotograf. Das Archiv der Agentur umfasst mittlerweile mehr als hundert Geschichten und Biografien – das Porträt eines Landes in Nah­aufnahme.

Da sind die Froschfänger aus Diyarbakır, die nachts durch die Nebenarme des Tigris waten, um ihren Fang später an die Fischfabriken in der Region zu verkaufen. Oder die chinesischen Minenarbeiter in Zonguldak an der türkischen Schwarzmeerküste, die schon seit mehr als zwanzig Jahren ihren Lebensunterhalt unter Tage verdienen. Da sind die ehemaligen Bahnbeschäftigten im armenischen Akhuryan, die seit 1993 darauf hoffen, dass dort wieder Züge rollen dürfen, nachdem die Türkei damals die Grenze zu Armenien schloss. Und da sind die letzten Überlebenden des Massakers in Dersim, bei dem 1937 und 1938 Tausende kurdische Aleviten vom türkischen Militär getötet wurden.

Beim Betrachten der Fotos streift man durch die traditionellen Basare Anatoliens, reist von Antakya über Erzurum nach Gaziantep, von Kahramanmaraş über Mardin nach Şanlıurfa. Man beobachtet Familien in der Region um Rize, die in tiefgrünen Teefeldern die erste Ernte einholen. Man nimmt an traditionellen Stierkämpfen im nordtürkischen Artvin teil oder an einer Zeremonie der griechisch-orthodoxen Gemeinschaft in Istanbul. Man bewundert den Mut der "Friedensmütter", die seit 1999 im Gedenken an ihre Kinder ein Ende des blutigen türkisch-kurdischen Konflikts fordern, und blickt betroffen in die Augen syrischer Kinder, die in türkischen Großstädten um ihr Überleben kämpfen.

"Wir sind Gedächtnisarbeiter", sagt Adnan. Für ihn und seine Kollegen bedeute das Fotografieren mehr, als nur auf den Auslöser zu drücken. Er spricht von der Verantwortung zu dokumentieren, von westlichen Perspektiven auf östliche Regionen und einer eigenen fotografischen Sprache, die sich entwickeln müsse.

Bevor Adnan im Jahr 2013 festes Mitglied bei "Nar Photos" wurde, hatte er das Kollektiv jahrelang unterstützt. Dass sich das Büro in Istanbul befindet, ist kein Zufall. "Istanbul hat sich in den vergangenen zehn Jahren sehr verändert – allerdings nicht zugunsten der Bevölkerung, sondern zugunsten des Profits."

Für "Nar Photos" ist der urbane Raum eines der wichtigsten Themen. "Wir dokumentieren diese Entwicklung und stellen sie in Frage." Adnan meint die zahlreichen Bauvorhaben, Shoppingcenter, ­Luxusappartements und Hotelanlagen, die von der neoliberalen Stadtpolitik Istanbuls vorangetrieben werden. Er meint die Gentrifizierung von Stadtteilen ohne politische Lobby, die unter dem Deckmantel des "Denkmalschutzes" und der "Erdbebenprävention" luxussaniert oder dem Erdboden gleichgemacht werden.

Und natürlich meint er den Gezi-Park. Bei den Protesten gegen die Bebauung des Parks im Sommer 2013 waren die Fotografen des Kollektivs mittendrin. Sie waren vor Ort, als das ikonenhafte Bild von Ceyda Sungur entstand ("die Frau in Rot") oder das des Künstlers Erdem Gündüz auf dem Taksim-Platz ("standing man"), der mit seinem stillen Protest Hunderte weitere Personen inspirierte.

Amnesty International nutzte die Fotos, um die Gewalt türkischer Polizeikräfte zu dokumentieren. Das Museum Istanbul Modern widmete "Nar Photos" 2014 eine fünfmonatige Retrospektive mit dem Titel "Yolda" ("Auf dem Weg"). Die 75 Fotos der Ausstellung sind das Resultat elfjähriger Arbeit, eines Blickes für soziale Themen und nicht zuletzt freiwilligen Engagements.

"Wir verdienen mit den Fotos kaum Geld, damit lassen sich höchstens die Kosten für das Büro decken", sagt Adnan. Es ist der Preis, den die Mitglieder des Kollektivs dafür bezahlen, dass sie unabhängig bleiben können und ihre Arbeiten ausschließlich Medien anbieten, denen sie vertrauen. "An türkische Zeitungen verkaufen wir sie nicht, weil wir nicht wissen, was sie ­damit machen."

Ihren Lebensunterhalt verdienen die Fotografinnen und ­Fotografen deshalb anderswo, sie geben Workshops, arbeiten bei Magazinen oder NGOs. An ihrem Ziel halten sie fest. "Wir wollen ein eigenes Archiv über die Menschen in unserem Land aufbauen", sagt Adnan, "ein Archiv, das nicht unter staatlicher Kontrolle steht".

Der Autor ist freier Journalist und lebt in Berlin und Istanbul.

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