Amnesty Journal Kroatien 15. März 2011

Schweigen und verdrängen

Das kroatische Justizsystem erweist sich bislang als ­unfähig, die schweren Kriegsverbrechen der neunziger ­Jahre ­aufzuarbeiten, wie ein neuer Amnesty-Bericht belegt.

Von Denis Beil

Kroatien ist mit seinen langen Stränden ein beliebtes Urlaubsziel der Deutschen und auf dem besten Weg, EU-Mitglied zu werden. Doch noch vor wenigen Jahren tobte dort ein blutiger Krieg zwischen Kroatien und der Armee der Republik serbische Krajina (RSK). Während sich die Öffentlichkeit 1991 vor allem für den Golfkrieg, die steigenden Ölpreise und die damit verbundenen Wirtschaftseinbußen interessierte, begann in Kroatien der erste Krieg auf europäischem Boden nach dem Zweiten Weltkrieg.

Erst seit Dezember 1995 herrscht Frieden in dem Land, dessen Hauptstadt Zagreb nur etwa 550 Kilometer von München entfernt ist. Der im Dezember 2010 veröffentlichte Amnesty-­Bericht "Behind a wall of silence" zeigt, dass die strafrechtliche Ahndung von Kriegsverbrechen, die während der Kampfhandlungen von 1991 bis 1995 begangen wurden, in den vergangenen Jahren nur schleppend vorankam. Zu den Kriegsverbrechen zählen unter anderen Mord, Folter, Vertreibung, Vergewaltigung und "Verschwindenlassen".

Der Amnesty-Bericht basiert auf Interviews, die zwischen 2007 und 2010 geführt wurden. Mitglieder von Amnesty sprachen in Kroatien unter anderem mit Justizbehörden, Opfern und deren Familien, Anwälten, Politikern, Journalisten und Polizisten. Aus diesen Gesprächen geht hervor, dass die Kapazität des kroatischen Justizsystems nicht ausreicht, um die begangenen Kriegsverbrechen umfassend, unverzüglich, unabhängig und nach internationalen Standards aufzuklären. Nach einer Statistik der kroatischen Regierung wurden von 2005 bis 2010 insgesamt 88 Fälle abgeschlossen – bei etwa 700 dokumentierten und noch zu verhandelnden Fällen kann die strafrechtliche Verfolgung noch Jahrzehnte dauern.

Ein weiteres Beispiel für die Ineffektivität des Rechtssystems: Vor acht Jahren wurden an vier Bezirksgerichten in Zagreb, Osijek, Rijeka und Split spezielle Kammern für Kriegsverbrechen eingerichtet – 2009 fand dort ein einziger Prozess statt, der sich mit Kriegsverbrechen beschäftigte. Amnesty International kritisiert weiterhin die einseitige Tendenz bei der Auswahl der verhandelten Fälle. Kriegsverbrechen wurden von kroatischer und serbischer Seite verübt. Dennoch wurden in den abgeschlossenen Fällen vorwiegend Mitglieder der jugoslawischen Armee oder kroatische Serben angeklagt: Kriegsverbrechen, die von Angehörigen der kroatischen Armee und der Polizei gegen kroatische Serben und andere Minderheiten begangen wurden, machten nur 17 Prozent der verhandelten Fälle aus.

Zudem wurden Maßnahmen zur Bekämpfung der Straflosigkeit von den Behörden nicht umgesetzt. Ebenso ist der Schutz von Zeugen nicht gewährleistet. So gibt es an den Strafgerichten keinen separaten Eingang für Zeugen, Angeklagte und Zuschauer. Amnesty-Mitglieder beobachteten, dass Zeugen in den Gerichten massiv eingeschüchtert wurden. Mitarbeiter anderer NGOs, die zur Prozessbeobachtung an den Gerichten waren, erhielten sogar Morddrohungen.

"Viele Unzulänglichkeiten des kroatischen Justizsystems dürften mit einem Mangel an politischem Willen zu tun haben, sich mit dem Erbe des Krieges zu beschäftigen", erklärt Nicola Duckworth, Amnesty-Direktorin für Europa und Zentralasien, in dem Bericht. Kroatien müsse sich jedoch mit seiner Vergangenheit befassen, um voranzukommen. "Straflosigkeit für Kriegsverbrechen ist ein Stolperstein für die EU-Mitgliedschaft. Räumt die Regierung diesen Stolperstein aus dem Weg, dann beweist sie damit unmissverständlich ihren Willen, vorhandene Lücken auf dem Weg zu Gerechtigkeit zu schließen. Die Opfer erwarten und verdienen das."

Die Autorin ist Journalistin und lebt in München.

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