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Ein Klassentreffen
Wie es ist, sich Jahrzehnte und einen Staat später wiederzusehen und die Geschichten zu erfahren, die man sich im alten Leben verschwiegen hat.
Von Irina Liebmann
Es war ein Klassentreffen unserer Abiturklasse. Carmen hatte es organisiert, das Mädchen mit der besonders leisen Stimme, das mir nur durch seinen Namen in Erinnerung war, weil er so gar nicht zu ihrem Äußeren passte.Carmen hatte über ein Jahr lang versucht herauszufinden, wo wir alle inzwischen wohnten und was der geschickteste Termin für eine Begegnung sein könnte, sie hatte das Restaurant ausgesucht und die Preise verhandelt, alles hatte sie übernommen, und nun saßen wir in einem der vielen Vereinszimmer eines mittelalterlichen Gasthofs um einen riesigen Tisch herum und staunten.
Es hatte sich niemand verändert! Dabei waren wir alle nun ältere Frauen geworden, Frauen Anfang sechzig, und doch unverändert! Etwas Wesentliches war geblieben, das Wesen eben, stärker als Falten und blasse Haut. Lauter alte Frauen, und doch dieselben, unsere Klasse, zum Lachen war das, und es lachten auch alle. Ein Kellner ging hinter den vielen Stuhlrücken um den Tisch herum und nahm Bestellungen auf, während Carmen, von der mir nun plötzlich ihr Handstand auf dem Barren vor Augen stand – ein Atem verschlagender, die glatte Eins verdienender Handstand – die Zusammenkunft eröffnete, für die Teilnahme dankte, die lange Reise. Während sie sprach, wisperten Gerüchte um den Tisch herum. Gestorben, gestorben, ja, auch gestorben, und wir würden nie wieder vollzählig sein. Dieses Wort schon mal, es kam zuerst angeflattert aus der Vergangenheit: Vollzählig.
– Seid ihr vollzählig?
– Nein.
Und nun schlug Carmen vor, dass doch jeder erzählen könnte, wie es ihm ergangen sei in der verflossenen Zeit. "Einmal die Runde rum", hieß es, und so lief es auch, einfach im Kreis. Wer an der Reihe war, setzte sich etwas gerader hin und begann.
Zuerst das Erreichte – wo er heute lebt, was er geworden ist, der Beruf also, vielleicht noch die Kinder, die Ehe, wofür jedes Mal ein einziger, längerer Satz genügte, was dann folgte, war die Geschichte dazu, beginnend mit dem Abitur, dem Zeitpunkt, als wir uns trennten.
– Wie Ihr wisst, habe ich ja Chemie studiert, …
Natürlich wussten wir nicht, aber so fing sie an, die Erzählung, kam dann schnell ins Stocken, denn vor oder nach diesem Studium hatte jeder dann doch etwas anderes gemacht und dann noch etwas anderes und wieder und wieder. Ja, genauso war es bei mir gewesen, aber wie staunte ich nun – bei den anderen auch!
Bei niemandem war es glatt gegangen mit der ersten Berufswahl, außer bei denen, die Ärztin oder Apothekerin geworden waren. Wir anderen alle hatten manchmal Jahre damit verbracht herauszufinden, was wir eigentlich wollten und dann noch einmal Jahre, bis wir das auch wagten oder durften. Beim Zuhören schien es fast, diese lange Suche sei das Zentrum der Lebenserzählung. Manchem fiel es beim Reden auf, dass er sich viel zu lange schon in einer Anfangszeit aufhält, und um dafür nun eine Erklärung zu finden, für diese Holperigkeiten und Stockungen einer Biographie, ging er dann jedes Mal noch etwas weiter zurück in der Zeit.
"Ihr wisst ja,…" war wieder die Eingangsformel, aber die wurde sofort korrigiert: "Ihr wisst vielleicht nicht." Ja, wir wussten nicht.
Gleich zu Beginn, die gut frisierte Frau in der grauen Kostümjacke – Birgit. Sie war die erste, die es sagte: Ihr wisst vielleicht nicht.
– Ihr wisst vielleicht nicht, dass meine Mutter damals im Gefängnis saß.
Sie meinte die Oberschulzeit. Wir waren eine Klasse ohne Cliquen und Feindseligkeiten gewesen, so war es mir in Erinnerung, eine ruhige, beinahe gutmütige Klasse. Jede hatte ihren Kreis von Freundinnen gehabt, und gerade mit Birgit hatte ich nie wirklich zu tun. Sie suchte sich meistens Sitzplätze ganz hinten an der Wand, trug häufig die FDJ-Bluse, blau, und wenn sie aufstand, um etwas zu sagen, sprach sie leise.
Und nun? Birgit! Da hatten wir also vier Jahre zusammen gesessen, geturnt und getanzt und auf den Feldern die Rüben verzogen, und währenddessen saß Birgits Mutter in unserer Stadt in einem Gefängnis?!
– Ja, die ganze Zeit, sagte Birgit, und es sei aus politischen Gründen gewesen.
Das war nun zum ersten Mal, dass sie vor der Klasse darüber sprach, zum ersten Mal in ihrem Leben, in unserem Leben, hier, in der Gemütlichkeit eines alten Gasthofs mit niedriger Zimmerdecke, und es war laut und deutlich gesprochen.
– Habt ihr das alle gewusst, das von Birgit? Nein, niemand, nur ihre Freundin natürlich, die Gisela, die damals bei ihrer Großmutter gewohnt hatte.
Ich erinnerte mich. Die beiden liefen meist eng untergehakt und entfernt von den übrigen über den Schulhof. Enge Freundinnen eben. Aber nun kam heraus, dass Giselas Mutter sie als Kind schon ihrer eigenen Mutter überlassen hatte, sie war in den Westen gegangen, für immer.Warum hatte ich damals gedacht, Giselas Mutter wäre gestorben? Sie hatte mir immer so leidgetan!
– Ich habe ihr verziehen, sagte Gisela. Ich habe sie zu mir genommen.
Und es sei ja ein Glück gewesen, dass die Mutter noch vor dem Aufstand des 17. Juni gegangen war, so war diese Flucht nicht als "politisch" angesehen, aber als "Flucht" war das natürlich immer bezeichnet worden. Ein Makel. Und überhaupt – die Eltern! Das sei doch damals so wichtig gewesen, die Eltern, was machen die Eltern? Wegen der Mutter hätte sie es von vorneherein unterlassen, sich um ein Studium zu bewerben, dabei hätte sie auch gern studiert.
Nur deswegen war Gisela medizinisch-technische Assistentin geworden?
– Ja.
Und so ging es weiter die Runde herum. Die Flüchtlingskinder erzählten nun plötzlich von Besitztümern ihrer Familien, von denen sie niemals geredet hatten, von Handwerksbetrieben und kleinen Fabriken, und wie tief religiös manche gewesen waren, und es nicht so zeigen konnten wie sie gewollt hätten, und von Dir, riefen einige, von Dir, da wussten wir ja auch nichts!
Es stimmte. Von meiner russischen Mutter hatten alle gewusst, sie unterrichtete auch in der Stadt, und schon mal im Sprachunterricht fiel es auf, in dem ich den Lehrer gerne verbesserte, aber von dem Jüdischen an meinem deutschen Vater hatte ich geschwiegen und die vielen Toten in seiner Familie – in unserer eigentlich doch – die hatte ich nicht adoptiert und niemals von ihnen erzählt. Warum?
Es war nicht verboten. Mir wäre auch gar nichts geschehen, aber niemand tat es. Und niemand hätte gesagt: Ich auch. Vielleicht war niemand da. Vielleicht aber doch.
Das schönste Mädchen in unserer Klasse hatte schwarze Locken und einen dunklen Teint, es hieß, sie sieht "rassig" aus. Ein Kompliment, zu dem sie jedes Mal rätselhaft lächelte und schwieg.
Wir waren nur gute zehn Jahre entfernt von der großen Niederlage des faschistischen Deutschen Reiches, der Wortschatz änderte sich erst langsam, und die Menschen?
Rassismus war ihnen verboten, auch das verboten, auch diese Freiheit der Meinung verboten, sich höhnisch oder beleidigend über Polen und Juden zu äußern. Einen Lehrer hatten wir, der es uns manchmal spüren ließ, dass da mit einigen in der Klasse etwas nicht in Ordnung wäre, aber es blieben winzige Andeutungen, schnell abgebrochen mit dem Grummeln: Man darf ja nichts sagen.
Ich war froh darüber, dass er da schweigen musste. Und schwieg auch. Besser nichts erzählen. So wie Birgit und so wie Gisela. Besser nicht. Und schon gar nicht, dass mein Vater aus der herrschenden Partei ausgeschlossen war und als Parteifeind in diese Gegend verbannt, nein, wen sollte das interessieren? Meine beste Freundin, die wusste das. Sie wiederum hatte mir von ihren Eltern erzählt, dass die immer noch glaubten ans Ariertum, aber das musste unser Geheimnis bleiben.
Meinungsfreiheit bedeutet, straflos eine abweichende Meinung öffentlich äußern zu dürfen. Wenn diese Freiheit fehlt oder eingeschränkt ist, hören die Menschen nicht auf, Meinungen zu haben, Ansichten, Gedanken, aber unmerklich verändern sie sich selber dabei doch, und die Welt, in der sie leben, verändert sich auch, sie verklebt und vergammelt, wird schief und krumm, und manches gemütliche Häuschen ist nur auf Papier gemalt, mit Fenstern, die sich nicht öffnen lassen und Türen, die immer geschlossen bleiben.
Und die Zeit? Was wird aus der Zeit? Nach unserem Klassentreffen kam ich mir getäuscht vor, regelrecht genarrt. Fast jeder hatte jetzt Dinge erzählt, die sein Bild anders erscheinen ließen als damals, ich auch. Unsere gutmütige, konfliktfreie Klasse kam mir im Rückblick nun vor wie ein Zug versehrter Kinder, der still in Zweier-Reihen durch eine unbekannte Landschaft trottelt. Und dann fiel mir ein, dass ich dieses Gefühl auf unseren vielen Klassenfahrten damals tatsächlich hatte. Ein Gefühl der Verlassenheit und Bedrohung durch etwas Unbekanntes. Genau das war der Grund für mich geworden zu schreiben. Dieser quälende Gedanke, dass ich nicht weiß, wo ich bin und wer ich bin, und was ist eigentlich los?
Hätten alle gesprochen, hätte jeder das sein können, was er gewesen war – was wäre ich dann geworden? Und die anderen? Und hatte sich etwas verändert?
Ja. Wir hatten uns verändert. Wir wollten reden. Ganz zuletzt war eine Frau an der Reihe zu erzählen, die nach vielen Anstellungen schließlich bei der Armee gearbeitet hatte.Ich war bei der Volksarmee.Es muss sie Überwindung gekostet haben, an diesem Tag davon zu erzählen, aber sie hat es getan, und sie hat nicht hinzugefügt: Sagt es nicht weiter.
Irina Liebmann, 67, arbeitet als freie Schriftstellerin zunächst in Ostberlin, ab 1988 in Westberlin. Für ihre Bücher erhielt sie zahlreiche Preise, unter anderem den Aspekte-Literaturpreis und den Berliner Literaturpreis. Für die Biografie ihres Vaters, des Journalisten und Widerstandskämpfers Rudolf Herrnstadt, Mitbegründer des "Neuen Deutschlands", wurde sie 2008 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse geehrt. Zuletzt ist ihr Lyrikband "Die schönste Wohnung hab ich schon – Was soll denn jetzt noch werden?" im Transit-Verlag erschienen.