Amnesty Journal Russische Föderation 11. Januar 2010

"Wer Kadyrow kritisiert, schwebt in Lebensgefahr"

Ein Gespräch mit Alexander Tscherkassow von der ­russischen Bürgerrechtsorganisation Memorial über die Lage der Menschenrechte im Nordkaukas.

Alexander Tscherkassow, 43 Jahre alt, ist studierter Atomphysiker. Er ist Mitglied im Rat des Menschenrechtszentrums von Memorial und dort für den Nordkaukasus zuständig.

Attentate, Verschleppungen und Folter sind im Nordkaukasus fast alltäglich. Hat sich die Situation im Vergleich zu den Vorjahren verschlechtert?
Nach den statistischen Angaben eindeutig ja. Unter den Opfern sind auch viele Staatsbedienstete; allein in diesem Sommer sind im Nordkaukasus 140 Mitarbeiter staatlicher Institutionen ums Leben gekommen. Über 280 Personen wurden verletzt. Diese Zahl ist doppelt so hoch wie im vergangenen Jahr. In Dagestan wurden in der letzten Zeit zahlreiche Menschen verschleppt und ermordet. Die Opfer wurden beschuldigt, Verbindungen zum bewaffneten islamistischen Untergrund unterhalten zu haben. Einige von ihnen waren schon früher einmal verhaftet, aber von Gerichten freigesprochen worden.

Wer sind diese Kämpfer des islamistischen Untergrunds?
Wenn man sich ihre Videos und Texte auf ihrer Internetseite ansieht, dann ist diese Bewegung ein Teil der extremistischen islamischen Internationale. Diese Bewegung ist im gesamten Nordkaukaus aktiv, von Dagestan bis Karatschai-Tscherkessien. Sie haben sich zum "Kaukasischen Emirat" erklärt. Das ist eine politische Struktur, die keine konkreten politischen Ziele verfolgt. Denn der Aufbau eines islamischen Staates ist in ihren Augen kein politisches Ziel, so wie früher der Aufbau des Kommunismus. Niemand versteht, wie man mit ihnen einen Dialog führen soll. Man kann sie in zwei Gruppen teilen: Ideologen und normale Bürger, die sich ihnen zuwenden.

Warum schließen sich vor allem junge Menschen den radikalen Islamisten an?
Ein Grund dafür ist, dass die sozialen Strukturen in der Region zerrüttet sind. Der Protest dagegen treibt junge Menschen in die Arme der Radikalen. An dieser Entwicklung ist aber auch die Staatsmacht schuld. Sie agiert mit ungesetzlichen Methoden, um ihre Gegner zu vernichten. Diesem sogenannten Antiterrorkampf fallen Menschen willkürlich zum Opfer. Es reicht schon, wenn jemand in die falsche Moschee geht. Diese Aktionen stärken zwangsläufig die Basis der Unterstützer für die Islamisten.

Hat Moskau die Lage im Nordkaukasus überhaupt noch unter Kontrolle?
Das bezweifele ich. Vor zehn Jahren hatten wir es im Nordkaukasus mit Separatisten zu tun. Diese Leute verfügten über ein Programm. Mit ihnen konnte man verhandeln und Übereinkünfte treffen. Doch schon damals sagte Moskau: Im Kaukasus sind Terroristen aktiv, mit denen keine Verhandlungen möglich sind. Heute ist diese Aussage Realität geworden. Inguschetien war früher eine friedliche und stabile Republik. Jetzt ist der islamistische Untergrund dort weitaus aktiver als in Tschetschenien. In Tschetschenien wiederum wurde der Konflikt regionalisiert, indem Moskau die Macht an die örtliche Regierung übergab. Das zeigte am Anfang einige Resultate, weil die tschetschenischen Machthaber zielgerichteter agierten. So wurden nicht mehr willkürlich ganze Dörfer "gesäubert" und ihre Bewohner gefoltert. Vielmehr richteten sich die Aktionen gegen konkrete Personen, wenn auch mit den gleichen ungesetzlichen Methoden. Kadyrow ist es bislang dennoch nicht gelungen, den islamistischen Untergrund zu zerstören.

Wie würden Sie das Regime Kadyrows charakterisieren?
Dieses Regime erinnert an den sowjetischen Totalitarismus Mitte des 20. Jahrhunderts. Überall hängt Kadyrows Porträt, im Fernsehen ist er omnipräsent. Es herrscht Angst. Die Menschen, deren Angehörige verschleppt werden, trauen sich nicht, Anzeige zu erstatten, weil sie wissen, dass das sinnlos ist. In den vergangenen Jahren sind zwischen 3.000 und 5.000 Menschen verschwunden. Zudem werden Methoden zur kollektiven Bestrafung angewandt. In den vergangenen Jahren wurden Dutzende Häuser von Angehörigen von islamistischen Kämpfern niedergebrannt, die selbst keine Beziehung zum Untergrund hatten. Angst spielte auch im Fall der entführten Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa eine Rolle.

Inwiefern?
Es gab zwei Zeuginnen, die die Entführer sahen und das Kennzeichen des Wagens erkannten, in dem sie weggebracht wurde. Die beiden erzählten niemandem von ihren Beobachtungen, nicht einmal Nataljas Tochter. Noch vor ein paar Jahren wäre eine Reaktion sehr schnell erfolgt.

Wer ist für den Mord an Natalja Estemirowa verantwortlich?
Schauen wir uns den Ablauf der Ereignisse an, soweit wir ihn kennen. Am 7. Juli wurden in dem Dorf Achkintschu-Borsoj zwei Männer verschleppt und einer davon öffentlich erschossen. Einer der an der Aktion beteiligten Milizionäre ist namentlich bekannt. Am 9. Juli machte Natalja diese Information auf der Internetseite "Kaukasischer Knoten" öffentlich. Am 10. Juli bestellte der tschetschenische Menschenrechtsbeauftragte auf Befehl von Kadyrow die Mitarbeiter von Memorial ein. Doch offensichtlich sprach Kadyrow auch noch mit anderen Untergebenen. Am 15. Juli wurde Natalja verschleppt und in Inguschetien getötet.

Kadyrow hat unlängst in Moskau einen Prozess gegen Memorial gewonnen. Jetzt muss die Organisation Schadensersatz dafür zahlen, dass der Memorial-Vorsitzende Oleg Orlow Präsident Kadyrow für den Mord an Natalja Estemirowa verantwortlich gemacht hat.
Viele meinen, dass dieses Urteil ein Sieg für Memorial ist. Und manche sagen auch, man wisse jetzt, dass es 70.000 Rubel kostet, Kadyrow als Mörder bezeichnen zu können. Für mich selbst war diese Gerichtsentscheidung erwartbar. Dennoch war ich maßlos enttäuscht, aber vielleicht verlange ich auch zu viel, vor allem Gerechtigkeit.

Wird Memorial in die nächste Instanz gehen?
Wir werden dieses Urteil anfechten. Wenn wir vor keinem russischen Gericht Erfolg haben, werden wir vor den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg ziehen.

Könnte die instabile Situation im Nordkaukasus einen Dominoeffekt in anderen Republiken der Russischen Föderation haben?
Die islamistische Bewegung hat auch in anderen russischen Regionen Chancen, an Stärke zu gewinnen. Überall dort, wo Muslime mit den bekannten Methoden bekämpft werden, so zum Beispiel in Karbadino-Balkarien. Es gibt noch ein weiteres Problem. Alle führenden Vertreter der russischen Machtstrukturen waren in Tschetschenien. Dort haben sie Gesetzlosigkeit und Gewalt ­erlebt – und dass die Schuldigen nicht bestraft werden. Diese Erfahrungen prägen sie. So wissen wir beispielsweise von Razzien vor allem gegen Jugendliche Ende 2004 in einer Stadt in Baschkirien. Rund 1.000 Menschen wurden dabei misshandelt. Die Razzien wurden durchgeführt von Milizionären, die erst kurz zuvor aus Tschetschenien zurückgekehrt waren.

Gibt es einen Ausweg aus dieser Situation?
Die Handlungen der Machthaber müssen sich im Rahmen von Gesetzen bewegen. Diejenigen, die diese Gesetze verletzen und die für Verschleppungen und Folter verantwortlich sind, müssen vor Gericht gestellt und bestraft werden. Das könnte perspektivisch die Menschen wieder an die Staatsmacht binden. Von den föderalen Kräften ist bisher nur einer ihrer Vertreter im Zusammenhang mit einem Fall von "Verschwindenlassen" in Tschetschenien wegen Folter und Fälschung von Unterlagen zu zu elf Jahren Arbeitslager verurteilt worden.

Wie beurteilen Sie das Verhalten der internationalen Staatengemeinschaft gegenüber Russland angesichts der Lage im Nordkaukasus?
Sie verfügt, ebenso wie die Europäische Union, über keine Strategie. Stattdessen erleben wir taktische Entscheidungen, die ­einem Verrat gleichkommen. Verurteilungen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte führen allenfalls dazu, dass Russland Entschädigungen zahlt. Ansonsten ändert sich nichts, weder an der Rechtssprechung noch an den Institutionen. Das heißt, Russland zahlt eine Art Steuer für Straflosigkeit. Die Gründe dafür sind einfach: Wenn ein Barrel Öl hundert Dollar kostet, kann man keinen Druck mehr auf Russland ausüben.

Die Büros von Memorial haben ihre Arbeit in Tschetschenien bis auf weiteres eingestellt. Sehen Sie Möglichkeiten für eine baldige Wiederaufnahme der Tätigkeit?
Ich bin im August nach Tschetschenien gereist, um mir die Lage dort anzusehen. Dort habe ich verstanden, dass sich jemand, der sich mit den Verbrechen des Regimes von Ramsan Kadyrow beschäftigt, in Lebensgefahr begibt. Das System funktioniert nach dem Motto: Wo es keinen Menschen gibt, da gibt es auch kein Problem. Ich verstehe nicht, wie es möglich sein sollte, unter ­solchen Bedingungen zu arbeiten.

Haben Sie selbst manchmal Angst und daran gedacht, einer anderen Tätigkeit nachzugehen?
Solange meine Kollegen im Kaukasus arbeiten, wäre es für mich merkwürdig aufzuhören. Dennoch würde ich nicht sagen, dass ich mich nicht fürchte. Ich verstehe, wie gefährlich die Situation ist. Doch es gibt Leute, die sich in weitaus gefährlicheren Situationen befinden, als ich. Mein Kollege Oleg Orlow wurde 2007 in Inguschetien verschleppt, und die Entführer drohten, ihn zu erschießen. Einige Wochen nach seiner Freilassung reiste er ­wieder dort hin.

Interview: Barbara Oertel

Infokasten: Sacharow-Preis für Memorial
Der Sacharow-Preis des Europäischen Parlaments ging dieses Jahr an die russischen Menschenrechtsverteidiger Ljudmilla Alexejewa, Oleg Orlow und Sergej Kowaljow, stellvertretend für die russische Bürger- und Menschenrechtsorganisation Memorial und für die russischen Menschenrechtsverteidiger insgesamt. Kowaljow gehört neben dem Namensgeber des Preises, Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow, zu den Gründern von Memorial.
"Mit der Auszeichnung hoffen wir dazu beizutragen, dass der Kreislauf aus Furcht und Gewalt, mit dem sich Menschenrechtler in der Russischen Föderation konfrontiert sehen, durchbrochen wird", kommentierte EU-Parlamentspräsident Jerzy Buzek die Preisvergabe Ende ­Oktober. Das Parlament würdigt mit dem Preis jährlich Personen und Organisationen, die sich für Menschen­rechte und Meinungsfreiheit einsetzen.

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