Amnesty Report Ukraine 12. Mai 2009

Ukraine 2009

 

Amtliche Bezeichnung: Ukraine Staatsoberhaupt: Wiktor Juschtschenko Regierungschefin: Julija Tymoschenko Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Einwohner: 45,9 Mio. Lebenserwartung: 67,7 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 18/13 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 99,4%

Die Behörden reagierten nicht angemessen auf die zunehmenden rassistischen Übergriffe. Flüchtlinge und Asylsuchende waren von Abschiebung bedroht. Folterungen und andere Misshandlungen in Polizeigewahrsam rissen nicht ab, während Personen, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich waren, straffrei blieben.

Hintergrund

Nach wie vor herrschte politische Instabilität. Nach Unstimmigkeiten zwischen Mitgliedern der Regierungskoalition löste Präsident Wiktor Juschtschenko am 8. Oktober 2008 das Parlament auf und kündigte per Dekret Neuwahlen für den 7. Dezember an. Ende des Jahres wurde die Gültigkeit dieses Dekrets gerichtlich angefochten. Im April beschloss die NATO, der Ukraine nicht die Mitgliedschaft anzubieten, erklärte sich im Dezember aber bereit, die Zusammenarbeit zu intensivieren. Dabei soll das bereits bestehende Rahmenwerk der NATO-Ukraine-Kommission zugrunde gelegt werden, um den Fortschritt der Ukraine hin zum Mitgliedschaftsaktionsplan zu überprüfen. Im Juni warnte der russische Präsident Dmitri Medwedew die Ukraine vor möglichen "schwerwiegenden Konsequenzen" für den Fall ihres NATO-Beitritts. Ein Gipfeltreffen zwischen der EU und der Ukraine im September führte zu Rahmenbedingungen für engere Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine, dem Land wurde jedoch keine Mitgliedschaft in Aussicht gestellt.

Rassismus

Der in den vergangenen Jahren zu verzeichnende alarmierende Anstieg gewaltsamer rassistischer Übergriffe gegen in der Ukraine lebende Ausländer setzte sich unvermindert fort. Mangelhafte gesetzliche Bestimmungen, ungenügende Reaktionen vonseiten der Polizei und das Versäumnis, die Schwere rassistisch motivierter Verbrechen anzuerkennen, schufen ein Klima faktischer Straflosigkeit für die Täter. Manche Behördenvertreter demonstrierten fehlendes Verständnis für den Ernst der Angelegenheit sowie einen Mangel an politischem Willen, gegen Rassismus vorzugehen, und leugneten die Existenz des Problems. Im August akzeptierte der stellvertretende Ministerpräsident die Richtlinien für eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe gegen Fremdenfeindlichkeit und rassische Intoleranz, doch blieb fraglich, ob diese Gruppe über ausreichenden Einfluss verfügte, um sich durchsetzen zu können.

Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz empfahl, Artikel 161 des Strafgesetzbuchs – einer von lediglich zwei Artikeln, die sich direkt auf rassistische Straftaten beziehen – zu ändern, um die Verfolgung von Personen zu erleichtern, die zum Rassenhass anstacheln, und den Geltungsbereich von Artikel 161 dahingehend auszuweiten, dass alle Menschen im Zuständigkeitsbereich der Ukraine eingeschlossen sind, nicht nur ukrainische Staatsbürger.

  • Am 23. April 2008 wurden vier junge Männer, einer davon noch minderjährig, wegen Mordes an Jeong Kwon Kang zu dreizehn Jahren Haft verurteilt. Jeong Kwon Kang, ein Südkoreaner, war im April 2007 überfallen worden. Der Konsul der Botschaft der Republik Korea gab an, die Täter hätten Jeong Kwon Kang mit Kampfstiefeln so lange gegen den Kopf getreten, "bis sein Gehirn herauskam". Dem Staatsanwalt zufolge erklärte einer der Täter, er habe Jeong Kwon Kang wegen seiner Nationalität töten wollen. Jeong Kwon Kang starb am 17. Mai 2007 an den schweren Kopfverletzungen, die er bei dem Überfall davongetragen hatte. Im Mai 2007 wurden die vier jungen Männer wegen schwerer Körperverletzung und Rowdytum angeklagt. Nach hartnäckigem Einwirken der koreanischen Botschaft legte man den vier Tätern Mord sowie "gegen die nationale Ehre und Würde eines Menschen gerichteten Hass" nach Artikel 161 zur Last. Allerdings beantragte das Amt des Generalstaatsanwalts, den Rassismusvorwurf aus der Anklage zu streichen, und erklärte im Oktober in einem Brief an die koreanische Botschaft, dass sich Artikel 161 auf die Verbreitung von Rassenhass beziehe und die Angeklagten keine Taten verübt hätten, die sich als Propaganda, Agitation oder Demonstration für Rassenhass einstufen ließen. Der Antrag wurde vom Obersten Gerichtshof abgelehnt.

  • Im November 2006 erhob Wjatscheslaw Manukjan, ein Ukrainer armenischer Abstammung, Zivilklage gegen die Polizei, weil man ihn diskriminiert habe. Die Polizeibehörden erklärten ihm, er werde deshalb regelmäßig zu Ausweiskontrollen angehalten, weil sein "charakteristisches Aussehen" es erforderlich mache, dass die Polizei "die Gesetzmäßigkeit seines Aufenthalts auf dem Staatsgebiet der Ukraine" überprüfe. Am 27. März 2008 entschied das Verwaltungsgericht des Bezirks Charkiw, dass die Polizei "im Einklang mit dem Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz und ohne jegliche unfaire Diskriminierung unparteiisch, gewissenhaft und überlegt" gehandelt habe. Wjatscheslaw Manukjan legte gegen die Entscheidung Rechtsmittel ein, und am 29. April entschied das Berufungsgericht, dass der Polizist es versäumt habe, Wjatscheslaw Manukjan über seine Rechte zu informieren, schloss sich jedoch dem Urteil des ersten Gerichts an, dass das Verhalten der Polizei nicht diskriminierend gewesen sei. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass sich die Formulierung "charakteristisches Aussehen" nicht nur auf die ethnische Herkunft beziehe, sondern auf sein gesamtes äußeres Erscheinungsbild.

Flüchtlinge und Asylsuchende

Die ukrainischen Behörden schoben weiterhin Asylsuchende in Länder ab, in denen ihnen schwere Menschenrechtsverletzungen drohten, und missachteten die Regelungen für Asylverfahren.

  • Am 4. und 5. März 2008 schoben die Behörden elf tamilische Asylsuchende nach Sri Lanka ab, wo sie schwere Menschenrechtsverletzungen befürchten mussten, darunter auch Folterungen und andere Misshandlungen. Die elf Betroffenen waren allesamt beim UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR) in Kiew registriert, und sechs von ihnen hatten bei den ukrainischen Behörden einen Antrag auf Anerkennung als Flüchtling gestellt. Am 27. Februar wurden die sechs Anträge von der Einwanderungsbehörde der Region Chmelnitzki ohne die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen, aus Verfahrensgründen abgewiesen.

Folterungen und Misshandlungen

Bei ukrainischen Menschenrechtsgruppen gingen weiterhin Beschwerden über Folterungen und andere Misshandlungen in Polizeigewahrsam und Haftanstalten ein. 2008 registrierte die Menschenrechtsgruppe Charkiw 197 Beschwerden wegen Folterungen und Misshandlungen; 136 dieser Beschwerden betrafen Misshandlungen durch die Polizei und 49 Misshandlungen durch Gefängnispersonal.

  • Sergej Uschakow, seine Frau Anna und seine Schwiegermutter wurden am 27. Juni im Zusammenhang mit dem Mord an Anatoli Logwinenko in der Nacht vom 26. auf den 27. Juni im Charkiwer Stadtbezirk Frunse festgenommen. Sergej und Anna Uschakow wurden ohne Zugang zu einem Anwalt oder offizielle Registrierung ihrer Inhaftierung in Gewahrsam genommen. Anna Uschakowa erklärte, man habe sie bedroht und geschlagen und gezwungen, eine Erklärung zu unterschreiben, die ihren Mann mit dem Mord in Verbindung brachte. Sergej Uschakow sagte ebenfalls aus, geschlagen und zum Unterschreiben eines Geständnisses gezwungen worden zu sein. Sein Anwalt bemerkte, dass er Wunden an den Handgelenken hatte, die mit dem normalen Gebrauch von Handschellen schwer zu erklären waren. Anna Uschakowa kam am 28. Juni frei, und am 1. Juli entließ der Staatsanwalt auch Sergej Uschakow aus der Haft, da keinerlei Beweise vorlagen, die ihn mit dem Mord in Verbindung gebracht hätten. Beide beschwerten sich am 1. Juli über die Misshandlungen. Noch während sie im Büro des stellvertretenden Staatsanwalts ihre Aussagen zu Protokoll gaben, betrat eine Gruppe Polizisten das Büro und brachte sie gewaltsam zurück zur Polizeiwache des Bezirks Frunse. Die Eheleute schilderten, wie man sie erneut zwang, falsche Zeugenaussagen zu unterzeichnen. Anna Uschakowa kam am selben Tag wieder frei und Sergej Uschakow am nächsten Tag. Während sie sich in der Polizeiwache aufhielten, wurden beide vor dem Staatsanwalt versteckt gehalten. Zwischendurch zwang man Sergej Uschakow einmal, das Gebäude durch ein Fenster zu verlassen, und fuhr ihn stundenlang in Charkiw umher, um seinen Aufenthaltsort zu verschleiern. Am 4. Juli wurde Sergej Uschakow unter Mordanklage gestellt und am 21. Juli in Untersuchungshaft genommen. Über den Fall war zum Jahresende noch nicht entschieden.

Straflosigkeit

Am 15. März 2008 verurteilte das Berufungsgericht Kiew Mykola Protasow zu dreizehn Jahren sowie Oleksandr Popowitsch und Walerij Kostenko zu je zwölf Jahren Freiheitsentzug wegen Mordes an dem Journalisten Georgij Gongadse. Georgij Gongadse wurde seit dem 16. September 2000 vermisst. Zwei Monate später fand man seinen enthaupteten Leichnam in einem Wald in der Nähe von Kiew. Seine Witwe Myroslawa Gongadse erklärte, dass nicht nur jene, die den Mord organisiert und ausgeführt hätten, sondern auch die Auftraggeber vor Gericht stehen sollten. Im Juni äußerte die Parlamentarische Versammlung des Europarats Besorgnis darüber, dass das Verfahren sich darauf beschränkt hatte, lediglich die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, während die Ermittlungen hinsichtlich der Behördenvertreter, die den Mord in Auftrag gegeben hatten, keinerlei Fortschritte machten. Sie forderte die ukrainischen Behörden auf, ihre Bemühungen zur Stärkung der Unabhängigkeit von Ermittlungsorganen zu intensivieren, insbesondere die der Staatsanwaltschaft, und beschloss, den Fall weiterhin im Auge zu behalten.

  • Im Juli 2008 lehnte es die Generalstaatsanwaltschaft erneut ab, strafrechtliche Ermittlungen hinsichtlich der Anschuldigung zu eröffnen, dass Oleksandr Rafalskij 2001 mehrmals von Polizeibeamten gefoltert worden sei. In einem Brief an die Eltern von Oleksandr Rafalskij erklärte der Generalstaatsanwalt, dass es bei so "geringfügigen Übertretungen" nicht notwendig sei, ein Verfahren zu eröffnen. Die Polizei hatte Oleksandr Rafalskij am 13. Juni 2001 im Zusammenhang mit Ermittlungen in einem Mordfall in Kiew festgenommen. Er gab an, die Polizisten hätten ihn sowohl bei der Festnahme geschlagen als auch anschließend auf der Polizeiwache in der Wladimirskastraße in Kiew. Dort hätten sie ihm eine schwarze Plastiktüte über den Kopf gezogen, diese mit einem Gürtel um seinen Hals befestigt und ihn mehrfach beinahe zum Ersticken gebracht. Dann hätten sie ihm über die Tüte eine Gasmaske aufs Gesicht geschnallt. Am 16. Juli 2001 brachte man Oleksandr Rafalskij in Polizeigewahrsam nach Stawischtsche in der Umgebung von Kiew, wo man dem Vernehmen nach elektrische Drähte an verschiedenen Stellen seines Körpers befestigte und ihm Elektroschocks verabreichte. Am 30. Juni 2004 wurde Oleksandr Rafalskij wegen Mordes zu lebenslangem Freiheitsentzug verurteilt. Sämtliche Anträge bei den Behörden, den Foltervorwürfen nachzugehen, blieben erfolglos.

Amnesty International: Missionen und Bericht Delegierte von Amnesty International besuchten die Ukraine im Februar, Juli und September.

Ukraine: Government must act to stop racial discrimination (EUR 50/005/2008)

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