Amnesty Report Kanada 29. März 2022

Kanada 2021

Das Bild zeigt Treppen vor einem Gebäude in roter Beleuchtung mit Kerzen, Bildern, Blumen und Spielsachen.

Mahnwache in der kanadischen Stadt Vancouver in Gedenken an die tausenden indigenen Kinder, die von ihren Familien getrennt und in Internaten umgebracht wurden (Juli 2021).

Berichtszeitraum: 1. Januar 2021 bis 31. Dezember 2021

Der Umgang der Regierung mit der Coronapandemie löste in einiger Hinsicht Bedenken aus, ebenso ihre Untätigkeit im Hinblick auf die Gewährleistung der Rechte indigener, Schwarzer und anderer rassifizierter Gemeinschaften sowie von Frauen, Flüchtlingen und Migrant_innen.

Rechte indigener Gemeinschaften

Im April 2021 forderte der UN-Ausschuss für die Beseitigung rassistischer Diskriminierung Kanada auf, Vorwürfe rassistischer Gewalt gegen die indigene Gemeinschaft der Mi’kmaw zu untersuchen.

Im Juni verabschiedete das Parlament ein Gesetz zur Umsetzung der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker.

Indigene Kinder

Zwischen Mai und Ende des Jahres 2021 wurden auf dem Gelände von sechs ehemaligen Internatsschulen die sterblichen Überreste von mindestens 1.381 indigenen Kindern aufgefunden. Die Schulen waren von der kanadischen Regierung eingerichtet und von kirchlichen Institutionen verwaltet worden.

Die Behörden kamen ihrer Aufgabe, die 94 Handlungsempfehlungen der kanadischen Wahrheits- und Versöhnungskommission umzusetzen und einen Zeitplan zu veröffentlichen, nur teilweise nach. Sie scheiterten ebenso bei der Umsetzung der 142 Handlungsaufforderungen der Staatlichen Untersuchungskommission zu den Beziehungen zwischen indigenen Gemeinschaften (First Nations) und öffentlichen Diensten in Québec.

Im September 2021 bestätigte Kanadas Bundesgerichtshof ein Urteil des Kanadischen Menschenrechtsgerichts, wonach Ottawa jedem der etwa 50.000 gewaltsam von ihren Familien getrennten Kinder der First Nations eine Entschädigungszahlung in Höhe von 40.000 Kanadischen Dollar (etwa 27.500 Euro) leisten muss. Ende 2021 hatten die Parteien eine Grundsatzvereinbarung getroffen, nach der insgesamt 20 Mrd. Kanadische Dollar für Entschädigungszahlungen für die von ihren Familien getrennten Kinder der First Nations bereitgestellt werden. Weitere 20 Mrd. Kanadische Dollar sollen über einen Zeitraum von fünf Jahren in langfristige Reformen der Kinder- und Familiendienste für First Nations investiert werden.

Das Joyce-Prinzip

Im Februar 2021 erklärte der Minister für indigene Dienstleistungen, dass dem Rat der Atikamekw Nation (Conseil de la Nation Atikamekw) und dem Rat der Atikamekw von Manawan (Conseil des Atikamekw de Manawan) ein Betrag von 2 Mio. Kanadischen Dollar (knapp 1,5 Mio. Euro) zur Verfügung gestellt werden solle, um ihre Arbeit und ihr Engagement für die Umsetzung des Joyce-Prinzips (Joyce’s Principle) zu fördern. Das Joyce-Prinzip umfasst eine Reihe von Richtlinien, die allen indigenen Bevölkerungsgruppen das Recht auf gleichberechtigten Zugang zu allen Sozial- und Gesundheitsdiensten ohne Diskriminierung garantieren sollen. Es wurde nach Joyce Echaquan benannt, einer Angehörigen der Atikamekw, die von Krankenhauspersonal rassistisch beleidigt worden war, bevor sie im September 2020 in einem Krankenhaus in Québec starb.

Im September 2021 leugnete die Regierung der Provinz Québec erneut die Existenz von systemischem Rassismus in der Provinz und weigerte sich weiterhin, das Joyce-Prinzip anzuwenden. Im Bericht des Gerichtsmediziners, der den Tod von Joyce Echaquan untersucht hatte, hieß es, dass die Provinzregierung die Existenz von systemischem Rassismus anerkennen und sich zu dessen Beseitigung verpflichten müsse.

Zugang zu Wasser, Gesundheit und Wohnraum

Kanada verfehlte sein Ziel, bis zum 31. März 2021 den Zugang zu sicherem und sauberem Wasser in den Gemeinden der First Nations zu gewährleisten. Im Oktober 2021 wurde in der Wasserversorgung der Stadt Iqaluit (Territorium Nunavut) Erdöl entdeckt, weshalb die Bewohner_innen auf andere Wasservorräte zurückgreifen mussten.

Trotz der weiten Verbreitung des Coronavirus standen den indigenen Gemeinschaften auch weiterhin keine ausreichenden Gesundheitseinrichtungen und -dienste zur Verfügung. Ihre Unterkünfte waren unterfinanziert und überfüllt.

Diskriminierung

Rassifizierte Gemeinschaften litten auch 2021 unter systemischem Rassismus, u. a. beim Kontakt mit der Polizei. Im Dezember 2020 reichten Schwarze Regierungsbedienstete eine wegweisende Sammelklage gegen die kanadische Regierung ein, in der sie den jahrzehntelangen systemischen und institutionellen Rassismus im öffentlichen Dienst anprangerten. Der Fall war Ende des Jahres noch vor dem kanadischen Bundesgerichtshof anhängig.

Im Mai 2021 forderten indigene Sprecher_innen die Einleitung einer Untersuchung gegen die kanadische berittene Polizei (Royal Canadian Mounted Police) von Vancouver Island, die im ersten Halbjahr 2021 bei Schusswaffeneinsätzen einen Mann getötet und eine Frau schwer verletzt hatte. Beide Opfer gehörten der Tla-o-qui-aht First Nation an. Im Juli bekräftigte der Führungsrat der First Nations (First Nations Leadership Council) diese Forderung, nachdem ein Mann der Wet’suwet’en First Nation in British Columbia von der Polizei erschossen worden war.

Im August 2021 veröffentlichte die Menschen- und Jugendrechtskommission von Québec (Commission des droits de la personne et des droits de la jeunesse du Québec) einen Bericht, aus dem hervorging, dass Beschwerden über diskriminierende Personenkontrollen (Racial Profiling) um 87 Prozent zugenommen haben. Im Zeitraum 2018/19 lag die Zahl der Beschwerden bei 46, im Zeitraum 2020/21 bei 86.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant_innen

Zwischen dem 21. März 2020 und dem 21. Juni 2021 wurden 444 Asylsuchende im Rahmen von Coronamaßnahmen in die USA abgeschoben. Diese Maßnahmen wurden am 20. November 2021 aufgehoben.

Im April 2021 hob das Bundesberufungsgericht eine Entscheidung aus dem Jahr 2020 auf, mit der das zwischen Kanada und den USA geschlossene Flüchtlingsabkommen ("Abkommen über sichere Drittstaaten") für verfassungswidrig erklärt worden war. Im Dezember gab der kanadische Oberste Gerichtshof einem Berufungsverfahren statt.

Die Praxis der Inhaftierung von Migrant_innen verstieß nach wie vor gegen internationale Menschenrechtsnormen, u. a was die Rechte von Kindern und Menschen mit Behinderungen anging.

Frauenrechte

Im Bundeshaushalt 2021/22 wurden für einen Zeitraum von fünf Jahren mehr als 27 Mrd. Kanadische Dollar (rd. 20 Mrd. Euro) für die Schaffung eines landesweiten kostengünstigen Kinderbetreuungssystems bereitgestellt.

Im März 2021 zog die Kanadische Allianz für eine Reform der Sexarbeit (Canadian Alliance for Sex Work Law Reform) vor Gericht, um gegen die kanadischen Gesetze zur Kriminalisierung von Sexarbeit vorzugehen. Die Allianz argumentierte, dass die Rechte von Sexarbeiter_innen durch diese Gesetze verletzt würden. Der Fall war Ende des Jahres noch anhängig.

Im Juni 2021 lancierte Kanada einen nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der 231 Forderungen der Untersuchungskommission über vermisste und ermordete indigene Frauen und Mädchen. Der Aktionsplan enthielt jedoch keine konkreten Maßnahmen zur Rechenschaftslegung und keinen Umsetzungszeitraum.

Im Juni veröffentlichte der Ständige Ausschuss für Menschenrechte des Senats einen Bericht über Zwangssterilisationen. Indigene Frauen und Mädchen sowie two-spirit Menschen sind in unverhältnismäßig hohem Maße von dieser Praxis betroffen.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Am 8. Dezember 2021 trat ein Gesetz zur Kriminalisierung von "Konversionstherapien" in Kraft. "Konversionstherapien" zielen darauf ab, die sexuelle Orientierung einer Person zu ändern oder die Geschlechtsidentität bzw. den Geschlechtsausdruck einer Person zu unterdrücken.

Unternehmensverantwortung

Berichten zufolge arbeiteten die Beschäftigten bei Amazon trotz pandemiebedingter Gesundheits- und Sicherheitsbedenken im Januar 2021 weiter. Die Unternehmensleitung stellte sich gegen Versuche der Beschäftigten, sich gewerkschaftlich zu organisieren.

Die Tätigkeiten kanadischer Rohstoffunternehmen im Ausland unterlagen nach wie vor kaum einer Kontrolle durch die kanadische Regierung oder die Regierungen der Gastländer, was die Menschenrechte oder den Umweltschutz anging.

Die Trans-Mountain-Pipeline wurde weiter vorangetrieben, ohne die freie, vorherige und informierte Zustimmung aller von dem Projekt betroffenen Angehörigen der Secwepemc einzuholen. Im April griffen mehrere Männer Secwepemc-Landrechtsverteidigerinnen in einem Camp in Blue River (British Columbia) an, weil diese gegen den Bau der Camps für Arbeitskräfte des Unternehmens protestierten.

Zwischen September und Dezember 2021 nahmen Angehörige der berittenen Polizei 36 Personen fest, die friedlich gegen den Bau der Pipeline Coastal Gaslink auf dem Territorium der Wet’suwet’en im Bundesstaat British Columbia protestierten, darunter auch drei Journalist_innen, die über die Demonstration berichteten.

Klimakrise

Kanada subventionierte weiterhin die fossile Brennstoffindustrie, insbesondere Explorations- und Erschließungsprojekte sowie die Förderung und den Transport von Öl und Gas.

Im Juni 2021 verabschiedete die Regierung das erste kanadische Gesetz zur Klimaverantwortung, den Canadian Carbon Neutrality Accountability Act.

Waffenhandel

Kanada lieferte nach wie vor Waffen an Kolumbien, obwohl dort Demonstrationen mit militärischer Gewalt aufgelöst wurden, was zu Menschenrechtsverletzungen führte. Das Land verkaufte auch weiterhin Waffen an Saudi-Arabien, obwohl die Risikobewertungen zeigten, dass die Lieferungen gegen den internationalen Waffenhandelsvertrag (Arms Trade Treaty) verstießen.

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