Amnesty Report Georgien 29. März 2022

Georgien 2021

Eine Frau hält eine Regenbogenfahne über den Kopf. Sie ist von uniformierten Polizisten umgeben.

Berichtszeitraum: 01. Januar 2021 bis 31. Dezember 2021

Oppositionsmitglieder, regierungskritische Medien und NGOs wurden angegriffen, eingeschüchtert und abgehört, ohne dass die Verantwortlichen mit einer Bestrafung rechnen mussten. Es herrschte anhaltende Besorgnis angesichts der mangelnden Unabhängigkeit der Justiz, einer selektiven Rechtsanwendung und der politisch motivierten Strafverfolgung von Regierungsgegner_innen. Der Bau des umstrittenen Wasserkraftwerks Namakhvani wurde nach Protesten gestoppt. Verletzungen der Arbeitnehmer_innenrechte waren an der Tagesordnung und wurden durch die Coronamaßnahmen noch verstärkt. In den abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien/Zchinwali wurden Menschenrechtsverletzungen wie Einschränkungen der Bewegungsfreiheit sowie Folter und andere Misshandlungen verübt.

Hintergrund

Die politische Krise hielt an. Im Juli 2021 kündigte die Regierungspartei eine Vereinbarung auf, die im April von der EU vermittelt worden war, um eine Pattsituation zwischen Regierung und Opposition zu lösen. Die Vereinbarung sah Reformen des Wahl- und Justizsystems vor sowie Maßnahmen zur Bewältigung der augenscheinlich politischen Einflussnahme auf die Justiz.

Die Regierungspartei gewann die Kommunalwahlen im Oktober 2021, die von Berichten über Unregelmäßigkeiten begleitet waren. Die Opposition rief ab November erneut zu Protesten gegen die Wahlergebnisse und die Festnahme des ehemaligen georgischen Präsidenten Micheil Saakaschwili auf.

Die Unabhängigkeit von Institutionen, die den Schutz der Menschenrechte und die Rechenschaftspflicht der Regierung sicherstellen sollten, wurde von der Regierungspartei zunehmend untergraben. Im Dezember schaffte das Parlament hastig die Behörde zur Untersuchung von Verstößen durch die Polizei ab und erließ Gesetzesänderungen zur Aushöhlung der richterlichen Unabhängigkeit.

Im September 2021 zog die Regierung ihre Zusage zurück, die politisch motivierte Ernennung von Richter_innen zu beenden, wodurch die Hälfte eines EU-Darlehens in Höhe von 150 Mio. Euro zur Bekämpfung der Coronapandemie nicht mehr zur Verfügung stand.

Die Zahl der Coronainfektionen und der damit verbundenen Todesfälle stieg in den Monaten August und September sowie November 2021 sprunghaft an. Die Impfungen kamen nur langsam voran, da es starke von der georgisch-orthodoxen Kirche beeinflusste Vorbehalte dagegen gab.

Die abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien/Zchinwali blieben unter russischer Besatzung und Kontrolle.

Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit

Oppositionelle, Bürgerrechtler_innen und regierungskritische Journalist_innen wurden bedroht und angegriffen. Die Behörden gaben bisweilen Erklärungen ab, in denen sie diese Gewalt billigten und damit effektiv die Straffreiheit förderten.

Am 5. Juli 2021 wurde die für denselben Tag geplante Pride Parade in Tiflis abgesagt, nachdem die Polizei die Organisator_innen nicht vor gewalttätigen Gegendemonstrierenden schützte. Eine gewaltbereite homosexuellenfeindliche Menschenmenge stürmte das Gebäude, in dem das Tbilisi-Pride-Büro untergebracht war, und zwang die Organisator_innen zur Flucht. Rund 50 Journalist_innen wurden vor Ort angegriffen und verletzt. Der Kameramann von TV Pirveli, Lekso Lashkarava, wurde brutal verprügelt und sechs Tage nach dem Vorfall tot in seinem Haus aufgefunden. Die Behörden wiesen die Verantwortung von sich und beschuldigten die Organisator_innen des Pride-Marschs, die Gewalt selbst provoziert zu haben. Sie veröffentlichten auch umfangreiches Videomaterial aus Überwachungskameras vom letzten Lebenstag Lekso Lashkaravas, mit dem sie andeuteten, dass er möglicherweise Drogen beschafft habe. Die Behörden machten weder die Personen ausfindig, die die Gewalt orchestriert hatten, noch sorgten sie für eine zielführende Untersuchung der Gewalttaten.

Massenüberwachung

Am 12. September 2021 wurden Tausende Dateien, die eine umfassende Überwachungs- und Abhöraktion des georgischen Staatssicherheitsdienstes enthüllten, an die Medien und über das Internet weitergegeben. Sie enthielten Einzelheiten über das Privatleben von Journalist_innen, zivilgesellschaftlichen Aktivist_innen, Politiker_innen, Geistlichen und Diplomat_innen. Eine Untersuchung der mutmaßlich rechtswidrigen Überwachung hatte bis zum Jahresende kein Ergebnis erbracht.

Unfaire Gerichtsverfahren

Die Besorgnis über den Einfluss der Regierung auf die Judikative, die selektive Anwendung des Rechts und die politisch motivierte Verfolgung von politischen Gegner_innen und kritischen Medien nahm zu.

Zwei Kartograf_innen, die im Oktober 2020 unter dem fragwürdigen Vorwurf der "Verletzung der territorialen Integrität des Landes" inhaftiert worden waren, wurden am 28. Januar 2021 auf Kaution freigelassen. Das Strafverfahren gegen sie wurde jedoch nicht eingestellt.

Am 23. Februar 2021 nahm die Polizei den Parlamentsabgeordneten und Vorsitzenden der Oppositionspartei Nika Melia wegen angeblicher Aufstachelung zur Gewalt während der regierungskritischen Proteste im Jahr 2019 fest. Er wurde am 10. Mai freigelassen, nachdem die EU die Kautionszahlung für ihn übernommen hatte, um die Spannungen zwischen Regierung und Opposition zu verringern.

Das Verfahren gegen den Direktor und Mitbegründer des oppositionsnahen Fernsehsenders Mtavari wegen konstruierter Vorwürfe des Machtmissbrauchs und der Veruntreuung wurde fortgesetzt. Giorgi Rurua, einer der Hauptaktionäre des Senders, der im Jahr 2020 zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt worden war, wurde begnadigt und im April 2021 aus dem Gefängnis entlassen.

Am 1. Oktober 2021 wurde der ehemalige georgische Präsident Micheil Saakaschwili bei seiner Rückkehr aus dem Exil festgenommen, um eine in Abwesenheit verhängte sechsjährige Haftstrafe abzuleisten. Nach einem fünfwöchigen Hungerstreik wurde er zwangsweise in ein Gefängniskrankenhaus ohne angemessene medizinische Ausstattung verlegt, wo er von anderen Insassen bedroht und beleidigt sowie von den Gefängnisbehörden erniedrigend behandelt wurde. Am 20. November 2021 verlegte man ihn aufgrund seines kritischen Zustands in ein Militärkrankenhaus, und am 30. Dezember wurde er wieder ins Gefängnis zurückgebracht. Seine Ärzt_innen erklärten, seine Gesundheit sei aufgrund von Misshandlungen stark angeschlagen. Eine Untersuchung der Misshandlungsvorwürfe durch die Behörde zur Untersuchung von Verstößen durch die Polizei wurde abgebrochen, da die Behörde aufgelöst wurde. Der Antrag von Micheil Saakaschwili auf ein Wiederaufnahmeverfahren wurde abgelehnt.

Im November kritisierte EU-Botschafter Carl Hartzell die von den georgischen Behörden zu verantwortenden "Rückschläge im Bereich der Justiz und der Rechtsstaatlichkeit", darunter die politisierte, "intransparente und nicht auf fairem Wettbewerb beruhende" Berufung von Richter_innen an den Obersten Gerichtshof und in den Hohen Justizrat sowie die nicht vollzogene Verabschiedung der versprochenen Verfassungsänderungen für das Verfahren zur Ernennung von Generalstaatsanwält_innen.

Umweltzerstörung

Im September 2021 wurde nach jahrelangen Protesten der Bau des umstrittenen Wasserkraftwerks Namakhvani im Westen Georgiens gestoppt. Während des gesamten Jahres 2021 wurden Demonstrierende, die den Bau des Kraftwerks aus Gründen der Umweltsicherheit ablehnten, mehrfach von der Polizei festgenommen und daran gehindert, sich in der Nähe der Baustelle zu versammeln.

Arbeitnehmer_innenrechte

Die Arbeitnehmer_innenrechte wurden regelmäßig verletzt, z. B. indem Unternehmen Beschäftigte ohne ordnungsgemäße Verfahrensweisen entließen oder aufgrund der Produktionseinschränkungen im Zusammenhang mit der Coronapandemie die Löhne kürzten oder die Lohnzahlung ganz verweigerten. Davon betroffen waren auch Arbeitskräfte in systemrelevanten Unternehmen.

Im März 2021 wurden die Arbeitsverträge zahlreicher Mitarbeiter_innen eines regionalen Lebensmittellieferanten als Vergeltung für kollektive Proteste gegen Lohnkürzungen und die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen gekündigt. Im August berichteten Angestellte der Müllabfuhr in Tiflis über Drohungen und Lohnkürzungen, nachdem sie in einem dreitägigen Streik bessere Arbeitsbedingungen gefordert hatten.

Abchasien und Südossetien/Zchinwali

Folter und andere Misshandlungen

Es gab keine wirksame Untersuchung des Todes von Inal Dzhabiev aus der abtrünnigen Region Südossetien/Zchinwali. Er starb in Zchinwali in Gewahrsam, nachdem er im August 2020 nach seiner Festnahme schwer geschlagen worden war.

Anri Ateiba aus der abtrünnigen Region Abchasien starb am 14. September 2021, nachdem er am 12. August in der provisorischen Haftanstalt in Gagra bewusstlos aufgefunden worden war. Die Ermittlungen zu seinem Tod waren Ende des Jahres noch nicht abgeschlossen.

Berichten zufolge kam es zu einer weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustands des aus Gali stammenden ethnischen Georgiers Irakli Bebua aufgrund chronischer Krankheiten und mangels einer angemessenen medizinischen Versorgung in der Haft. Er verbüßt eine neunjährige Haftstrafe wegen Verbrennung der abchasischen Flagge.

Recht auf Freizügigkeit

Die De-facto-Behörden in Abchasien und Südossetien/Zchinwali nahmen weiterhin Zivilpersonen fest und schränkten die Bewegungsfreiheit in den von der Regierung kontrollierten Gebieten sowie über die Trennlinie zu Rest-Georgien ein. Diese Einschränkungen und die aufgrund der Pandemie geltenden Quarantänevorschriften hatten negative Auswirkungen auf eine Reihe von Menschenrechten, einschließlich wirtschaftlicher und sozialer Rechte.

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