Amnesty Journal Polen 25. September 2018

Weiße Rosen für den Rechtsstaat

Links demonstrierende Menschen, rechts eine Reihe von Polizisten, dazwischen ein Mann mit einer Jacke, auf der "Polska" steht.

Proteste gegen die Einschränkung der Unabhängigkeit der polnischen Justiz in Warschau im Juli 2018

In Polen sind die Gerichte das letzte Sicherheitsnetz gegen Machtmissbrauch der Regierung. Doch die tauscht im ganzen Land die Richter aus.

Von Paul Flückiger, Warschau

Vor der Glasfassade des Obersten Gerichts in Warschau wiederholt sich seit Juli fast jeden Morgen die gleiche Szene. Małgorzata Gersdorf kommt kurz nach acht zur Arbeit und wird von gut einem Dutzend Bürgern und Bürgerinnen mit Rufen wie "Bleiben Sie stark!" und "Verfassung! Verfassung!" begrüßt. Manchmal überreicht ihr jemand noch eine weiße Rose, das Symbol des Bürgerprotests gegen die Aushöhlung des Rechtsstaats in Polen.

Im Juli war Gersdorf von der Regierung in Warschau per ­Gesetzesnovelle entlassen worden. So wie zehn weitere Oberste Richter von heute noch 72, die Anfang Juni das 65. Lebensjahr ­erreicht – und kein Arbeitsverlängerungsgesuch beim Staatspräsidenten eingereicht haben. Gersdorf indessen hat ihre Entlassung nicht anerkannt, weil das neue Gesetz gegen die polnische Verfassung verstoße. In der heißt es in Artikel 183 klipp und klar, dass die Amtszeit des Präsidenten des Obersten Gerichts sechs Jahre dauert – in Gersdorfs Fall also bis April 2020.

Die Regierung in Warschau aber ignoriert das. Monatelang hatten Mitglieder von Jarosław Kaczyńskis rechtspopulistischer Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) Gersdorf zu einem Hassobjekt hochstilisiert: Sie wolle alte kommunistische Seilschaften im Justizapparat decken, so der Vorwurf. Doch die einer traditionsreichen Juristenfamilie entstammende Arbeitsrechtsexpertin wurde erst 1991, also zwei Jahre nach der Wende, ans Oberste Gericht berufen. Davor war sie – noch unter der ­realsozialistischen Diktatur – als Richterin tätig. Und auch der Gewerkschaft Solidarność trat sie erst 1990 bei, als diese bereits an der Regierung beteiligt war.

2014 berief sie der damalige liberale Staatspräsident ­Bronisław Komorowski ins Präsidium des höchsten Gerichts, was der PiS missfiel. Gersdorf eigne sich höchstens als Markt­verkäuferin, bestimmt aber nicht als Richterin, höhnte ­Kaczyński. "Von Politik verstehe ich überhaupt nichts, von der Juristerei aber einiges", antwortet sie ihren rechten Kritikern. In Juristenkreisen werden über alle Parteigrenzen hinweg Gersdorfs ­politische ­Unabhängigkeit und ihre große Fachkenntnis betont.

Die Mittsechzigerin hatte sich in den Auseinandersetzungen um Polens Gerichte lange zurückgehalten. Interviewanfragen wies sie konsequent ab, selbst als der Streit zwischen Warschau und Brüssel über Polens rechtspopulistische Justizreform schon längst tobte: Erstmals hat die Europäische Union gegen ein EU-Mitglied ein Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags eingeleitet, das mit dem Stimmrechtsentzug Polens im EU-Ministerrat enden könnte. Doch bislang hat sich das Vertragsverletzungsverfahren wegen Polens Justizreformen als Papier­tiger erwiesen.

Die Stimme erhob Gersdorf erst, nachdem das alte Höchst­richterkolleg sich im Juni demonstrativ hinter sie stellte. "Ich bin hier und bleibe, um die Rechtsstaatlichkeit zu beschützen", sagte sie am Tag ihrer Entlassung vor Tausenden Demonstranten gegen die PiS-Justizreform. Spätestens seit diesem Tag gilt sie der Opposition als letzte Garantin für Polens Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.

Denn die Regierung versucht über den Umweg des Höchst­alters und einer Zwangsverrentung, die Kontrolle über das bisher noch unabhängige Oberste Gericht zu übernehmen. Die aus Altersgründen ausgeschiedenen Richter sollen durch Juristen ersetzt werden, die Kaczyńskis Parteilinie loyal befolgen. Dazu dient auch eine Aufstockung der Richterzahl von 72 auf 116, was für ein Quorum sorgt, mit dem eine neue Gerichtspräsidentin gewählt werden kann. Für Kaczyńskis Herrschaftssicherung ist das auch deshalb wichtig, weil das Verfassungsgericht neben Straf- und Zivilrechtsfällen außerdem für Disziplinarmaßnahmen gegen Richter und die Verifizierung von Wahlergebnissen verantwortlich ist. Neben den Kommunalwahlen Ende Oktober und den Europa- und Parlamentswahlen 2019 stehen 2020 Präsidentschaftswahlen an.

Gegenwärtig läuft das zweite Ausschreibungsverfahren für die 44 neuen Höchstrichterstellen sowie eine neue Diszi­plinarkammer. Im neu geschaffenen Landesjustizrat (KRS), der über die Besetzung entscheidet, verfügen nicht wie früher die Richter, sondern seit den Wahlen vom Herbst 2015 die Par­lamentarier der PiS über die Mehrheit der Stimmen, weil ­Kaczyńksis Partei seither mit absoluter Mehrheit im Parlament regiert.

Laut Regierungsplänen soll das neue, dann mit 116 Richterstellen ausgestattete Oberste Gericht im Herbst voll besetzt sein. Dann ist mit der Wahl eines PiS-treuen Gerichtspräsidiums zu rechnen. Gersdorf hat schon angekündigt, dass sie ihr Büro nicht mit Gewalt verteidigen, aber auch nicht einfach gehen wolle.

Für die meisten Bürger wichtiger ist jedoch die Umgestaltung der Bezirksgerichte. Hier hat sich Justizminister Zbigniew Ziobro, der durch die Justizreform auch Polens Oberstaatsanwalt ist, per Gesetz die Macht über die Gerichtspräsidien geben lassen. Wenngleich diese Kompetenzen inzwischen etwas beschnitten wurden, um Brüssel entgegenzukommen, hat es die PiS längst geschafft, die meisten dieser Posten in den Bezirken mit eigenen Leuten zu besetzen. Die Opposition befürchtet zudem, dass Richter, die nicht im Sinne der Kaczyński-Regierung urteilen, künftig vor die neue Disziplinarkommission des Obersten Gerichts zitiert werden könnten.

Auch bei der Reform der Bezirksgerichte geht es der PiS angeblich einzig um die Überwindung kommunistischer Altlasten und um mehr Bürgernähe. Begonnen hatte dieser Prozess im November 2015 mit der Blockade des Verfassungsgerichts. Erst seitdem dort die PiS die Mehrheit – und mit Julia Przylebska eine eigene Gerichtspräsidentin – stellt, kann es wieder arbeiten. Unabhängig ist es jedoch nicht mehr; wobei auch Vorgängerregierungen immer wieder versucht hatten, das Verfassungsgericht – auch personell – zu beeinflussen.

Eine Reihe regierungskritischer Richter hat wegen ihrer Zwangspensionierung nun Klage beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg eingereicht. Gersdorf und einige ihrer Kollegen hat das bislang davor bewahrt, vom Arbeitsort ausgesperrt oder gar gewaltsam entfernt zu werden. Zudem haben zwei prominente Bezirksrichter beim EuGH anfragen lassen, ­inwieweit ihre Bezirksgerichte noch als unabhängige Gerichte im EU-Sinn gelten könnten, wenn ihnen neuerdings eine ­PiS-hörige Disziplinarkommission vor die Nase gesetzt werde. Beide reichten zur Untermauerung Urteile ein, wegen derer sich die PiS nun an ihnen rächen könnte.

Solche Anrufe der EU-Justiz bedeuten für viele Polen ein Licht am Ende des Tunnels. Auch noch diese Hoffnung zu zerstören, bemühte sich im August der stellvertretende Regierungschef Jarosław Gowin: "Die Regierung wird keine andere Wahl haben, als ein solches Urteil zu ignorieren", sagte er für den Fall, dass die EuGH-Urteile zur Justizreform den Interessen der PiS zuwiderliefen. Unklar ist nur, ob Warschau wirklich so weit gehen würde. 

Weitere Artikel