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Zaun um Zaun
In Neuseeland verheilen die Wunden der Kolonialzeit nur langsam.
Von Anke Richter, Parihaka
Es ist einer dieser kalten neuseeländischen Wintertage, als Dutzende Bewohner des Dorfs Parihaka in einer feierlichen Zeremonie zusammenkommen. Auf der Spitze des Mount Taranaki, einem erloschenen Vulkan gut vier Autostunden nordwestlich der Hauptstadt Wellington, liegt an diesem Tag Schnee. 136 Jahre zuvor, im November 1881, hatten Soldaten Hunderte Vorfahren der heute zusammengekommenen Gemeindemitglieder gewaltsam vertrieben.
3.000 Einwohner zählte Parihaka damals, jetzt sind es nur noch fünfzig. In einer langen Prozession verteilen sie Nasenküsse an Vertreter der neuseeländischen Regierung, die an diesem Tag im Juni 2017 nach Parihaka gekommen sind, um sich offiziell für die grausamen Geschehnisse Ende des 19. Jahrhunderts zu entschuldigen. "Hongi" heißt dieses traditionelle Begrüßungsritual der Maori.
Vor dem traditionellen Versammlungshaus, wo die Versöhnung samt neun Millionen Neuseeland-Dollar (etwa 5,5 Millionen Euro) Wiedergutmachung besiegelt wird, stehen singende Maori-Kinder. Sie halten aus Flachs geflochtene Körbe voller Taropflanzen für die Gäste aus dem fernen Wellington bereit. Eine symbolische Geste ähnlich der am 5. November 1881, als die Kinder von Parihaka britischen Soldaten Essen anboten.
Auch damals sangen sie tapfer, während ihre Häuser und Felder zerstört, ihre unbewaffneten Väter und Onkel verschleppt und ihre Mütter und Tanten vergewaltigt wurden. Der friedliche Protest gegen den Einmarsch in Parihaka war der erste dokumentierte passive politische Widerstand der Welt – und einer der schändlichsten Tage in der Kolonialgeschichte Neuseelands. Rund 500.000 der vier Millionen Einwohner sind Maori.
"Wir sind spirituelle Menschen", sagt Maata Wharehoka und legt ihre Gitarre beiseite. "Wir fühlen unsere Vorfahren in uns. Ob ihnen vor zehn oder hundert Jahren Unrecht getan wurde, macht keinen Unterschied." Die 67-Jährige ist die Matriarchin von Parihaka. Sie hat schwarze Tätowierungen auf Lippen, Kinn, Gesicht und Armen, ist warmherzig und einschüchternd zugleich. Maata hat fünf eigene Kinder, 15 Enkel und 45 Pflegekinder.
Ihr Sohn Te Akau ist gerade zu Besuch. Die Maori-Sprache spricht er fließend, wie die meisten hier. "Niemals hätte ich gedacht, dass ich diesen Tag der Entschuldigung und Wiedergutmachung erleben würde", sagt er. Die Geschichte von Parihaka kennt der 27-Jährige auswendig wie andere Gute-Nacht-Märchen. So oft ist sie vor Ort in Büchern, Filmen und Liedern erzählt worden.
Mitte des 19. Jahrhunderts pilgerten Maori aus dem ganzen Land nach Parihaka zu den beiden Anführern, die den Ort prägten, Te Whiti O Rongomai und Tohu Kakahi, die später zu Propheten werden sollten. Sie waren Sozialrevolutionäre mit einer bis dahin ungehörten Friedensbotschaft. Viele Stämme lebten in Parihaka basisdemokratisch ohne Waffen, Sklaven oder Blutrache zusammen. Doch britische Siedler rissen die Zäune rund um das Dorf ein. Jedes Mal hörten die Maori auf Te Whiti und Tohu und bauten die Zäune über Nacht wieder auf. Anstatt zu kämpfen, pflügten sie das Land, das die Briten sich einverleiben wollten. Die Siedler wiederum banden die Widerspenstigen an Pferde und zogen sie bis zur Bewusstlosigkeit über die Äcker.
Die Zeitungen hetzten gegen die als "Barbaren" titulierten Maori. In dem aufgeheizten Klima mobilisierte man Freiwillige und Polizei – und schlug am 5. November 1881 zu. 1.500 bewaffnete Kolonialisten marschierten in der Morgendämmerung in Parihaka ein. Statt auf kriegerische Kämpfer zu stoßen, trafen sie auf singende Frauen und Kinder, die Brotlaibe für die Feinde gebacken hatten. In ihren Haaren steckten weiße Albatros-Federn. Te Whiti und Tohu, wie die Visionäre kurz genannt werden, ließen sich abführen. Niemand schrie oder klagte.
Dann begann die Zerstörung der Häuser. Immer wieder vergewaltigten Soldaten die Frauen von Parihaka. Ihre Kinder litten ein Leben lang unter dem Stigma – ebenso wie die missbrauchten Frauen. Die Kolonialregierung verabschiedete ein Gesetz, wonach die renitenten Rebellen ohne Gerichtsverfahren auf die neuseeländische Südinsel verschleppt werden konnten. Für Hunderte Männer aus Parihaka begann eine Odyssee durch düstere Gefängnisse. Als Zwangsarbeiter mussten sie Straßen und Mauern bauen. Viele von ihnen wurden vorübergehend in einer Höhle im Fels statt im Gefängnis der Stadt Dunedin eingekerkert, tagsüber schleppten sie schwere Steine. 21 von ihnen starben an den Strapazen. Ein Gedenkstein erinnert heute noch an die Opfer.
Die beiden Propheten kamen ebenfalls ohne Verfahren ins Gefängnis. Erst zwei Jahre später kehrten sie zurück ins zerstörte Parihaka. Nach ihrem Tod begann der Verfall ihrer Gemeinde. Die Wunden waren einfach zu groß – und die Verhältnisse im Land rassistisch und ausbeuterisch. Erst 1996 brachte eine Aufklärungskommission die Taten von Parihaka vollends ans Licht.
Te Whiti wurde vor seinem Haus beigesetzt. Der bärtige Hutträger, der sich weder zeichnen noch fotografieren ließ, war zusammen mit Tohu der Urvater aller Friedensbewegungen – lange vor Martin Luther King, Nelson Mandela oder Mahatma Gandhi. Letzterer erfuhr von den beiden sogar durch eine irische Delegation, die Parihaka besucht hatte, was Gandhi in seinem Tun bestärkt haben soll.
Zwar blieben die "Maori-Gandhis" relativ unbekannt, aber immerhin kommen nun regelmäßig Schulklassen, Friedensforscher und religiöse Gruppen in das Dorf am Fuße des Mount Taranaki. 2006 gab es das erste Friedensfestival mit Musikern aus der ganzen Welt. Eine Initiative, die den 5. November offiziell in "Parihaka-Day" umbenennen will, wächst.
Maata Wharehoka steckt sich Federn in die Haare. "Die Menschen, die nicht mit unseren Schmerzen aufgewachsen sind, sehen uns immer nur als positive Geschichte", sagt sie nicht ohne Stolz. Es ist der 18. des Monats, der Festtag von Te Whiti, dem Propheten. Besucher warten vor dem Versammlungshaus. Der weibliche Häuptling begrüßt die Ankömmlinge mit Klagelauten und Gesang. Mittags gibt es Essen für alle an langen Tischen. Wharehokas Kinder stehen seit dem Morgen in der Küche. Während abgeräumt wird, sitzt sie im Saal unter historischen Fotos und Gemälden von Parihaka. Dazwischen Friedenstauben, Grußkarten, ein signierter Rugbyball. Die Feierlichkeiten gehen am Nachmittag im Nachbarhaus weiter. Dort spricht Ruakere Hond, der sich als Akademiker für die Wiederbelebung der indigenen Sprache einsetzt. Seine Vorfahren, sagt er, waren keine frühzeitigen Flower-Power-Hippies, sondern Krieger. "Friedlicher Widerstand war ihr letzter Ausweg – eine reine Taktik. Sie wussten, dass sie sonst ausradiert würden."
Im vergangenen Jahrhundert erlebten die Bewohner Parihakas die gleichen sozialen Abgründe wie die ihrer Kultur beraubten Maori. "Wir hatten mit Alkohol, Drogen, psychischen Problemen und Armut zu kämpfen", erzählt Hond. "Keine Infrastruktur, keine Jobs."
400 Worte war die Entschuldigungserklärung der Regierung lang. Sie trägt einen Namen: "Te Haeata" – neue Morgendämmerung. Am Nachmittag des Versöhnungstages trat eine Gruppe der Frauen Parihakas vor das Versammlungshaus. Sie hatten einen speziellen Tanz einstudiert. Als sie ihre Hüften wiegten und weiße Kugeln an Schnüren dazu wirbelten, setzte ein Nieselregen ein. Für die Maori war das mehr als symbolisch. Aber nicht nur der Himmel weinte. Auch die Zuschauer.
Auszug aus dem Buch "Ausgeschlossen. Eine Weltreise entlang Mauern, Zäunen und Abgründen" (Hg.: Marc Engelhardt/DVA), das wir auf Seite 68 besprechen.