Amnesty Journal 29. November 2024

Richtig, aber falsch

Griße viereckige Sole-Becken, in denen Lithium gewonnen wird aus der Perspektive eines Vogels von oben, zwischen den riesigen Becken verlaufen schnurgerade Straßen, auf denen Reifenspuren sind.

Europa bemüht sich, klimaneutral zu werden – und verursacht damit Menschenrechtsverletzungen und Umweltbelastungen in anderen Weltregionen. Doch die Energiewende geht auch anders. 

Von Annette Jensen

Mit grünem Wachstum in eine gute Zukunft, das ist die Vision der Bundesregierung und der EU-Kommission. Diesel- und Verbrennerautos, Kohle- und Gaskraftwerke sollen durch Elektroautos und -fahrräder, Windräder und Solaranlagen ersetzt werden. Europas Wirtschaft muss klimaneutral werden, will sie nicht die Lebensgrundlagen vernichten. Doch ist die notwendige Transformation auch umwelt- und menschenfreundlich?

Um all die neuen Gerätschaften herzustellen, braucht es Unmengen an Kupfer, Lithium, Kobalt und seltenen Erden. Ein einziges großes Windrad benötigt bis zu 30 Tonnen Kupfer. Auch in einem E-Auto steckt etwa dreimal so viel des gut leitenden Metalls wie in einem herkömmlichen Wagen. Die deutsche Rohstoffagentur rechnet damit, dass sich der Kupferbedarf bis 2035 verdoppeln wird.

"Kolonialismus" mit neuen Mitteln?

Als Lieferanten sind vor allem Länder des globalen Südens gefragt. Viele bekamen in letzter Zeit Besuch von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Bundeskanzler Olaf Scholz oder anderen deutschen Regierungsmitgliedern, und in der Regel gehörten auch Konzernvertreter*innen zur Delegation. Sie alle versuchen, der Kritik von Nichtregierungsorganisationen insbesondere aus dem globalen Süden entgegenzutreten, dass Europa damit den "Kolonialismus" mit neuen Mitteln fortsetze. Kaum ein Begriff fällt bei solchen Anlässen daher häufiger als "Verhandlungen auf Augenhöhe".

Chile besitzt weltweit die größten Kupfer- und Lithiumvorkommen – zwei für die Energiewende unerlässliche Rohstoffe. Nicht ohne Grund hat das EU-Parlament Ende Februar für ein Freihandelsabkommen mit dem Land gestimmt, trotz Umwelt- und Menschenrechtsbedenken zahlreicher chilenischer NGOs, die einen "Energiekolonialismus" befürchten. Die begehrten Rohstoffe liegen überwiegend im Norden des Landes in der Atacama-Wüste, die von Indigenen bewohnt war, denen bereits Diktator Augusto Pinochet die letzten Reste ihrer Lebensweise nahm.

Hunger nach regenerativer Energie

Um eine Tonne Kupfer zu gewinnen, müssen zunächst mehrere hundert Tonnen Gestein gesprengt werden. Das meiste landet auf riesigen Abraumhalden. Der kupferhaltige Anteil des Gesteins wird gemahlen und gewaschen. Und das in einer Region, die zu den trockensten der Welt gehört. Mit stark ätzender Schwefelsäure wird das Kupfererz herausgelöst. Viele Arbeiter des Tagebaus leiden an Staublunge, auch Krebs kommt in der Region deutlich häufiger vor als anderswo. Die Bewohner*innen der Stadt Chuquicamata mussten wegen der Verschmutzung umsiedeln. Um den Hunger der Welt nach Kupfer zu befriedigen, soll der staatliche Konzern Codelco bald einen weiteren Tagebau eröffnen und zudem unterirdisch schürfen. 

Dagegen liegt der Abbau von Lithium, das für Batterien benötigt wird, bisher noch in der Hand von Privatfirmen. "Es gibt diesen Ausdruck – Extraktivismus –, der besagt, dass alles nur aus der Erde herausgeholt wird. Aber das ist keine gute Sache, wenn das alles ist, was passiert", sagte Olaf Scholz bei seinem Besuch in Chile Anfang 2023. Er sprach von einer Rohstoffpartnerschaft und dem Willen Deutschlands, den Aufbau von qualifizierten Arbeitsplätzen in Chile zu fördern.

Regierungen müssen endlich auch menschenrechtliche sowie umwelt- und klimabezogene Sorgfaltspflichten verbindlich für alle ­Unternehmen entlang ihrer gesamten Wertschöpfungsketten verankern.

Mathias
John
Sprecher der Amnesty-Koordinationsgruppe Rüstung, Wirtschaft und Menschenrechte

Noch aber bestehen Chiles Exporte zu mehr als 85 Prozent aus unverarbeiteten Rohstoffen. In anderen südamerikanischen Ländern sieht es ähnlich aus. Bis heute konnte sich der Subkontinent nicht aus der wirtschaftlichen Rolle befreien, die ihm die Europäer*innen seit der Eroberung vor mehr als 500 Jahren aufgezwungen haben.

"Die dringend notwendige Energiewende und Dekarbonisierung kann nur bei Einhaltung der Menschenrechte und Klimagerechtigkeit erfolgreich sein", sagt Mathias John, Sprecher der Amnesty-Koordinationsgruppe Rüstung, Wirtschaft und Menschenrechte. "Dazu müssen Regierungen endlich auch menschenrechtliche sowie umwelt- und klimabezogene Sorgfaltspflichten verbindlich für alle ­Unternehmen entlang ihrer gesamten Wertschöpfungsketten verankern – in ­nationalen Gesetzen, auf der Ebene von Staatenverbünden wie der Europäischen Union und am besten mit einem global wirksamen Vertragswerk." Erst im September 2023 hatte Amnesty einen Bericht zum Kobalt- und Kupferabbau in der Demokratischen Republik Kongo veröffentlicht, der rechtswidrige Zwangsräumungen, Brandstiftung, Misshandlungen und sexualisierte Gewalt belegt. Zwar hat die EU Mitte März ein Lieferkettengesetz verabschiedet, doch gilt dies als nicht ausreichend. Zuvor hatte die deutsche Regierung ein wirksameres Gesetz verhindert.

Aus Geld immer mehr Geld machen

Eine klimafreundliche Wirtschaft braucht zudem mehr als Rohstoffe. Auch die Herstellung von Wasserstoff gilt als Schlüsselfaktor, damit Stahlwerke und Schiffe fossilfrei betrieben werden können. Um Wassermoleküle in Wasserstoff und Sauerstoff aufzuspalten, ist enorm viel Strom erforderlich – und "grün" ist der nur, wenn er aus erneuerbaren Quellen stammt.

Zwei bis vier Prozent der deutschen Landesfläche müssten mit Photovoltaikanlagen und Windrädern vollgestellt werden, um die in Deutschland benötigten Mengen herzustellen. Weil die Bevölkerung das nie akzeptieren würde, sucht die Bundesregierung nun Platz dafür in sonnenreichen Weltregionen. In Namibias Wüste sollen riesige Flächen zugepflastert werden, um mit dem dort gewonnenen Strom Ammoniak herzustellen, das leichter zu transportieren ist als Wasserstoff. Immerhin steht dieses Vorhaben nicht in Konkurrenz zur Nahrungsproduktion für die einheimische Bevölkerung, wie es bei Energie- und Futterpflanzen der Fall ist. Doch ob die Milliardeninvestitionen der breiten Bevölkerung Namibias zugutekommen, ist fraglich. NGOs sprechen von einer intransparenten Vergabe, Umweltschützer*innen warnen vor schweren Schäden für seltene Pflanzen.

Zusammengefasst: Die Neuausrichtung der europäischen Wirtschaft auf ­Klimaneutralität ändert nichts an ihrer Wachstumsorientierung. Im Zentrum steht, aus Geld immer mehr Geld zu machen – und nicht der Bedarf von Menschen. Forschende bezweifeln, dass "Grünes Wachstum" dauerhaft möglich ist. "Es gibt keine empirischen Belege dafür, dass eine Entkopplung des globalen Ressourcenverbrauchs bei anhaltendem Wirtschaftswachstum erreicht werden kann", schreibt Jason Edward Hickel von der University of London, Mitherausgeber der Zeitschrift World Development.

Dabei liegt der Vorteil von erneuer­baren Energien ja gerade darin, dass sie strukturell dezentral sind. Wind und Sonne gibt es weltweit, und der Energieträger ist kostenlos. Hinzu kommt, dass die Technik, um sie zu nutzen, inzwischen zum Massenprodukt geworden ist, preisgünstig und einfach zu handhaben, wie der Boom von Balkonsolaranlagen hierzulande belegt.

Vor allem für ländliche Regionen sind sogenannte Inselanlagen oder -netze, die keinen Anschluss an ein zentrales Stromnetz haben, die langfristig optimale Versorgungsmöglichkeit, schreibt die Internationale Energieagentur. Das hat Bang­ladesch gezeigt. Dort startete die Regierung im Jahr 2000 ein Ausbauprogramm für die dezentrale Stromversorgung. Finanziert wurde es durch Mikrokredite. Mehr als vier Millionen Haushalte wurden bis Ende 2020 mit Kleinanlagen ausgestattet, die eine Leistung von 100 bis 200 Watt haben. Dazu braucht es nicht mehr als einen Solarpanel, einen Controller und eine Batterie.

Annette Jensen ist Autorin und Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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