Amnesty Journal 05. Mai 2025

Kinderrechte: Kleine Menschen – großes Leid

Sudanesische Mädchen mit Kopftüchern in einem Flüchtlingslager, sie transportieren Töpfe auf ihren Köpfen, laufen mit Flipflops über Sand, hinter ihnen Zelte.

Aus dem Sudan geflohen: Mädchen in einem Durchgangslager im Tschad, September 2024

Weltweit werden die Rechte von Kindern immer häufiger verletzt. Gleichzeitig sinkt die Unterstützung für Kinder, die von bewaffneten Konflikten betroffen sind.

Von Bettina Rühl

Ein Mädchen, 13 Jahre alt, sitzt in der Ecke des geräumigen Zeltes, das auf dem Dorfplatz steht. Der kleine Ort liegt in der Ukraine, ein paar Monate lang war er von russischen Soldaten besetzt. Überlebende berichten von Gräueltaten, vom Zusammenbruch des Gesundheitssystems und vom Mangel an Trinkwasser. Auf die Frage, was sie sich für die Zukunft wünsche, antwortet die 13-Jährige: "Früher wollte ich gerne Kosmetikerin werden. Jetzt habe ich keine Träume mehr. Ich möchte nur noch überleben." So erinnert sich Christine Kahmann, Sprecherin des UN-Kinderhilfswerks Unicef, an die Begegnung mit der 13-Jährigen. Kahmann traf das Mädchen vor etwa zwei Jahren, doch die Begegnung hat sich ihr bis heute eingebrannt, weil sie anschaulich macht, was es für Kinder bedeutet, in Konflikten zu leben. "Die Antwort zeigt, wie schwerwiegend vor allem die seelischen Wunden sind, die Konflikte hinterlassen, und was Kinder erleben, entweder direkt oder durch den Verlust von Angehörigen", sagt Kahmann.

Über 470 Millionen Kinder in Konfliktgebieten

Nach Schätzungen des Friedensforschungsinstituts PRIO leben heute mehr als 473 Millionen Kinder in Konfliktgebieten – mehr als jedes sechste Kind weltweit und mehr Kinder als je zuvor. Laut dem Global Peace Index ist die Zahl der weltweiten Konflikte derzeit so hoch wie zuletzt im Zweiten Weltkrieg. Der Anteil der Kinder, die davon betroffen sind, hat sich seit den 1990er Jahren verdoppelt – von etwa zehn auf fast 19 Prozent. Ob in der Demokratischen Republik Kongo, in Haiti, Palästina oder der Ukraine, im Sudan oder in Myanmar – für Kinder sind die Folgen von Kriegen überall gleich, stellt Kahmann fest. "Wenn sie erleben, dass ihre Angehörigen, ihre Freunde, ihre Lehrerinnen und Lehrer sterben, wenn sie selbst Angst haben und sich vor Bomben schützen müssen, sei es in Schutzkellern oder U-Bahn-Stationen in der Ukraine, sei es hinter Büschen oder in Häusern im Sudan – dann hat das dieselben Auswirkungen auf Kinder." Sie gehören zu den Hauptleidtragenden, zahlen in jedem Krieg einen hohen Preis.

"Wir stellen seit einigen Jahren eine deutliche Zunahme von Kinderrechtsverletzungen fest", betont Lea Marten, die in der Themenkoordinationgruppe Kinderrechte von Amnesty International in Deutschland aktiv ist. Das gelte für alle Bereiche: Sie würden häufiger getötet oder verstümmelt, entführt und Opfer von Kinderhandel, als Kindersoldat*innen rekrutiert, inhaftiert oder Opfer sexualisierter Gewalt. Ihnen werde medizinische oder humanitäre Hilfe verweigert, sie müssten die Schule abbrechen und lebten in Angst.

Gezielte Angriffe auf Schulen

Insbesondere in den vergangenen ­beiden Jahren habe die Zahl schwerer Kinderrechtsverletzungen deutlich zugenommen, erklärt Marten. 2022 registrierte die UNO rund 28.000 schwere Menschenrechtsverletzungen an Kindern, 2023 waren es bereits 33.000. "Hinzu kommen die Auswirkungen von Hunger und Unterernährung, Flucht und Vertreibung", so Marten. Auch diese hätten in den vergangenen Jahren zugenommen.

Ein Grund für die steigende Zahl von Kinderrechtsverletzungen sind schwere bewaffnete Konflikte wie der Krieg im ­Gazastreifen und der in der Ukraine. "In beiden Fällen haben wir viele gezielte Angriffe auf Schulen, Krankenhäuser und andere zivile Einrichtungen dokumentiert", berichtet Marten. Einem Amnesty-Bericht zufolge wurden im Gazastreifen bislang mehr als 17.000 Kinder durch israelische Angriffe getötet. Auch die Hamas beging zahlreiche Kriegsverbrechen an Kindern. Im Sudan flammte 2023 ein Bürgerkrieg neu auf. Hinzu kommen zahlreiche Kriege, die fast keine internationale Beachtung erhalten, wie im Jemen, in Mali oder in Kolumbien. "Wenig internationale Beachtung heißt auch immer weniger Schutz für Zivilist*innen und eben auch für Kinder", stellt Marten fest.

Kinder leiden unter bewaffneten Konflikten auch deshalb stärker, weil sie noch in der Entwicklung sind. Wenn sie keine angemessene Nahrung zu sich nehmen können, werden sie schnell mangelernährt. Und wenn sie mangelernährt sind, steigt wiederum die Gefahr, dass sie krank werden. Laut Unicef ist außerdem der Anteil von Kindern unter den Vertriebenen weltweit überproportional hoch. Ein Grund dafür ist, dass in vielen Gebieten, die von bewaffneten Konflikten betroffen sind, der Anteil an Minderjährigen hoch ist. Zudem fliehen viele Mütter mit ihren Kindern aus Kampfgebieten, um sie in Sicherheit zu bringen. "Sie haben natürlich die Hoffnung, dass ihre Kinder anderswo besser versorgt werden können, dass es dort Nahrung und Trinkwasser gibt, dass es dort Schutzräume gibt, wo Kinder sicher spielen können und nicht dem Risiko sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind", sagt Kahmann.

Fehlende US-Hilfen

Die Versorgung der Zivilbevölkerung in Konfliktgebieten wird immer schwieriger, weil Konfliktparteien den Zugang zu diesen Gebieten immer öfter verweigern. Ein weiterer Grund ist, dass die finanziellen Mittel für humanitäre Hilfe weltweit zurückgehen, obwohl der Bedarf kontinuierlich steigt. Weltweit sind mehr als 300 Millionen Menschen dringend auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Geberländer stellten im ersten Halbjahr 2024 allerdings deutlich weniger Mittel für humanitäre Hilfe bereit als im vergleichbaren Vorjahreszeitraum, was zu einem erheblichen Defizit führte.

Dass die neue US-Regierung die staatliche Entwicklungshilfe eingefroren hat und neue Prioritäten setzt, dürfte die ­Probleme noch verschärfen, befürchtet Unicef-Sprecherin Kahmann. Die USA ­seien "seit jeher ein großzügiger und verlässlicher Partner von Unicef gewesen", sagt sie rückblickend. Das UN-Kinderhilfswerk untersuche derzeit, wie massiv sich die neue Politik auswirke. "Wir hoffen, dass diese Hilfe wieder aufgegriffen wird und weitergeht."

Um den Schutz der Kinderrechte ­wieder zu verbessern, wäre es laut Lea Marten wichtig, auf die Einhaltung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts zu bestehen. "Dafür braucht es unabhängige Beobachter*innen, die Verstöße in den betroffenen Ländern ­dokumentieren und prüfen können." Kriegsverbrechen an Kindern müssten konsequent verfolgt werden, begleitet und unterstützt insbesondere von der UNO. Internationale Hilfslieferungen, der Zugang zu Nahrung und medizinischer Hilfe müsse auch in Konfliktgebieten sichergestellt werden und dürfe nicht von Regierungen behindert werden. Außerdem sei es wichtig, geflüchtete Familien mit Kindern besonders zu unterstützen – auch in Deutschland.

Bettina Rühl ist freiberufliche Journalistin und arbeitet schwerpunktmäßig zu Afrika. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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