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Mammut, Gürteltier und demokratischer Föderalismus
Italienischer Künster Zerocalcare: Szene aus "Kobane Calling"
© Avant-Verlag
In seiner Heimat Italien ist Michele Rech ein Star. Teenager unterhält er mit rasanten Netflix-Serien, sein politisches Engagement für die kurdische Sache drückt er in Graphic Novels aus.
Von Nina Apin
Eine dünne Gestalt im schwarzen Kapuzenpulli, raspelkurzes Haar, buschige Augenbrauen: Der Zeichner Michele Rech sieht seiner Comicfigur Zero so ähnlich, dass man sich bei einem Treffen mit ihm in der Netflix-Serie "An der perforierten Linie abreißen" wähnt. Ähnlich wie der Protagonist der Serie verknotet Rech die überlangen Beine unterm Tisch und grinst: "Ich bin halt ein begabter Künstler – vor allem im Selbstporträt."
Unter dem Namen Zerocalcare ist der 40-Jährige ein bekannter Comiczeichner und in seiner Heimat Italien ein Star. Bringt er ein neues Werk heraus, dann windet sich die Schlange der Fans dreimal um den Buchladen, erzählt sein deutscher Verleger Johann Ulrich vom Berliner Avant-Verlag ehrfürchtig. "Der signiert 1.000 Bücher am Stück, bis zum Umfallen, weil er sich seinen Fans verpflichtet fühlt." Seine Fans sind Kids, die seine Alltagsgeschichten aus Rebibbia mögen – einem Viertel an Roms Peripherie, das durch einen riesigen Gefängniskomplex sowie Mammutfunde bekannt ist. In Rechs rasant-überdrehten Cartoons wird der schlacksige Zero von einem sprechenden Mammut begleitet, sein anderer imaginärer Freund ist ein besserwisserisches Gürteltier.
Reisen ins kurdische Autonomiegebiet
Über Rom und Italien hinaus wurde der Zeichner als Vertreter einer linken Szene bekannt, die sich in den autonomen Zentren der Großstädte konzentriert: Zwischen Punk-Konzerten, antifaschistischer Arbeit und globalisierungskritischen Demonstrationen fand der Sohn einer Französin und eines Italieners seine politische Heimat. "Wenn ich mich entscheide, eine politische Sache zu unterstützen, dann tue ich das ohne Wenn und Aber, dann verstehe ich mich als Lautsprecher eines Kollektivs", erklärt Michele Rech in der Küche des Avant-Verlags, während er unablässig kritzelt.
Er hat sich dem "demokratischen Föderalismus" verschrieben, der auf den Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Abdullah Öcalan zurückgeht. Michele Rech lernte das Konzept 2014 und 2015 im türkisch-syrischen Grenzgebiet kennen, als er drei Reisen in das kurdische Autonomiegebiet Rojava unternahm. Er schwärmt noch heute davon: "Das Manifest von Rojava sieht die Befreiung der Frau vor, ein gleichberechtigtes Zusammenleben der Ethnien und Religionen. Und das in einer denkbar schlechten Lage, in einer von Krieg und heißen Konflikten beherrschten Region. Wir haben die gelebte Praxis kennengelernt – das war unglaublich beeindruckend!"
In seiner auf Deutsch 2017 erschienenen Reisereportage "Kobane Calling", porträtiert Zerocalcare eine rein weibliche Guerilla in den Kandil-Bergen, weise Dorfälteste und junge Freiwillige, die nachts untergehakt am Lagerfeuer singen, um die Angst vor dem heranrückenden IS zu vertreiben. Allzu viel Pathos kommt allerdings nicht auf, davor schützt Zerocalcares komische Übertreibung – ob es um den Gastgeber geht, der sogar in der Nacht aufsteht, um in seiner ewigen Linsensuppe zu rühren, oder um den bittersüßen Tee, den der Zeichner zwanghaft in sich hineinkippt.
Seine Chai-Abhängigkeit habe er inzwischen überwunden, scherzt Michele Rech am Berliner Küchentisch, nur den "Kurden-Chip", den man ihm in Rojava implantiert habe, sei er nie wieder losgeworden. Er sei eine willenlose Marionette der kurdischen Gemeinde in Rom. Als die ihn 2021 beauftragte, ins nordirakische Shingal zu fahren, um über Jesid*innen zu berichten, die sich nach kurdischem Vorbild organisiert hatten, habe er sofort gehorcht. In Berlin präsentierte er jetzt die Comicreportage, die nach dieser Reise entstand. "No sleep till Shingal" beginnt so: Der Protagonist steht ohne Handy in einer Kaserne der irakischen Sicherheitstruppen in der Wüste und fragt sich: "Wie bin ich hier bloß wieder gelandet?"
Hetz-Flyer auf dem Schulhof
Michele Rech ist seit seinem 15. Lebensjahr in linksautonomen politischen Netzwerken aktiv. Die Polizeigewalt rund um den G8-Gipfel in Genua 2001 sei für ihn ein Wendepunkt gewesen, sagt er, seither misstraue er staatlichen Institutionen. Eine damals entstandene Gruppe besteht bis heute. "Uns eint dieselbe Weltanschauung: Links, undogmatisch, mit besonderer Faszination für die Sache der Kurd*innen." Warum engagiert er sich ausgerechnet für diese und nicht für irgendeine andere unterdrückte Minderheit auf der Welt? Bei dieser Frage richtet sich Michelle Rech kerzengerade auf, und alles Comichafte verschwindet aus seinem Blick. Er spricht jetzt ganz klar, ohne den vernuschelten römischen Dialekt: "Nein, es hätte eben niemand anders sein können als die Kurden. Es war nicht der Kriegsaspekt und auch nicht der Fakt, dass sie unterdrückt sind, der mich für sie begeistert. Ich hege keine Sympathie für Terror, für männlich geprägte Kämpfe. Ich stehe hinter der gesellschaftlichen Vision von Rojava."
Doch ist keine politische Utopie ohne Fehler: Im selben Jahr, in dem Rech erstmals Rojava bereiste, warfen Amnesty und Human Rights Watch der kurdischen YPG-Miliz Menschenrechtsverletzungen vor, wie ethnische Vertreibungen und schlechte Behandlung von Gefangenen. Er habe sich sehr wohl mit den Vorwürfen auseinandergesetzt, sagt der Zeichner. Auch vor Ort habe er versucht, kritisch zu bleiben. Insgesamt habe er jedoch den Eindruck gehabt, dass man sich strenge ethische Regeln für den Umgang mit Gefangenen gegeben habe. "Es gab in der Kriegssituation sicher Racheakte und unverhältnismäßige Bestrafungen", räumt er ein. "Aber ich habe auch große Bemühungen gesehen, Exzesse zu vermeiden."
"Seit Melonis Wahlsieg liegt die Linke am Boden"
Der Autor spendet sämtliche Einnahmen aus den Buchverkäufen an die kurdische Gemeinde. Viele Menschen, die er in Rojava kennen gelernt hat, sind inzwischen unter dem türkischen Bombardement gestorben, viele freiwillige Helfer*innen aus anderen Ländern sind abgereist. Es herrsche "Verzweiflung und Lethargie", sagt Rech. Im Nordirak sieht es nicht besser aus. Der Zeichner und seine Freund*innen sammeln dennoch weiter Spenden, organisieren Solidaritätskonzerte und werben für die Idee des demokratischen Föderalismus, von der sie nach wie vor überzeugt sind.
Doch auch in Italien ist die Situation schwierig: "Seit Melonis Wahlsieg liegt die Linke am Boden", stellt er fest. "Es gibt kein Konzept mehr, keine gemeinsamen Werte." Als politisch engagierter linker Künstler ist Rech ins Visier der postfaschistischen Regierung geraten. Die Jugendorganisation von Georgia Melonis Partei Fratelli d’Italia verteile Hetz-Flyer auf Schulhöfen mit seinem Konterfei, erzählt er. Gefährdet fühle er sich nicht, Sorgen bereite ihm etwas anderes: Er zeigt einen Screenshot auf seinem Handy. Darauf sind Embleme zu sehen, die optisch an das NS-Regime erinnern. "Jugend im Schützengraben" nennt sich eine Diskussionsveranstaltung, an der ein Jugendvertreter der Fratelli teilnimmt. "In Deutschland wäre das undenkbar, aber in Italien tut man so, als ob nichts wäre!", ruft Michele Rech und zieht die dicken Augenbrauen zusammen, bis er wieder Zero ähnelt.
Als welches Tier würde er Meloni zeichnen? Wieder huscht seine Hand übers Zeichenpapier. Schon nach wenigen Strichen ist das Tier zu erkennen – ein Chamäleon.
Nina Apin ist freie Journalistin und Autorin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.