Amnesty Journal 17. September 2024

Im Auftrag der Versöhnung

Ein Mann in kurzärmelligem Hemd, Stoffhose und Ringelsocken sitzt auf einem Drehstuhl in einem Büro, auf den Schreibtischen stehen Computerbildschirme und Tastaturen, Telefon und ein Kopiergerät; auf einem Schrank liegen etliche Unterlagen.

Setzt sich für Frieden mit Israel ein: Iyad AlDajani in seinem Büro in Jena

Wie lässt sich der Nahostkonflikt friedlich lösen? Der Versöhnungsforscher Iyad Muhsen AlDajani stammt aus einer palästinensischen Familie und bildet an der Universität Jena Friedensexpert*innen für die Region aus. 

Von Ulrich Gutmair

Iyad Muhsen AlDajani ist viel unterwegs. Er ist auf wissenschaftlichen Konferenzen gern gesehen und erhielt für seine Arbeit mehrere Preise, darunter die Albert-Schweitzer-Medaille. Es gibt Bedarf an seinen Ideen, denn AlDajani ist Versöhnungsforscher. An der Universität Jena leitet er seit 2018 die Academic Alliance for Reconciliation in the Middle East and North Africa, die ihrerseits Versöhnungsforscher*innen ausbildet.

Der Wissenschaftler, der aus Jerusalem stammt und in Jordanien aufwuchs, besitzt palästinensische, jordanische und israelische Papiere. Auf die Frage, als was er sich selbst sieht, sagt er: "Ich bin Jerusalemer." Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: "und Atheist". 

Die AlDajanis führen ihren Stammbaum zurück bis auf Ali, den Cousin Mohammeds. Der Legende nach war ein Vorfahre AlDajanis ein berühmter Sufi-Gelehrter, der über dem Grab Davids eine Moschee bauen ließ. David, der König von Israel, gilt den Muslimen als Prophet. Die AlDajanis stellten im Laufe der Jahrhunderte einige Bürgermeister Jerusalems, arbeiteten als Anwälte, Beamte und Händler. Der berühmteste AlDajani der jüngeren Geschichte dürfte Hassan Sidqi al-Dajani sein. Dieser, so erzählt sein Nachfahre, habe sich vor knapp hundert Jahren mit den Führern der zionistischen Bewegung geeinigt, auf einen gemeinsamen jüdisch-arabischen Staat hinzuarbeiten, und sei daraufhin von einem Anhänger des Muftis von Jerusalem, der mit den Nationalsozialisten kollaborierte, 1941 ermordet worden.

"Frieden ist kein Abkommen, Frieden erfordert Arbeit"

Auch sein Nachkomme Iyad gilt vielen als zu moderat, als "Normalisierer" – ein Schimpfwort aus Sicht fast aller politischer Fraktionen der Palästinenser*innen. Wer kulturelle und wissenschaftliche Beziehungen mit dem Feind, also Israel, unterhält, muss mindestens mit Widerspruch, häufig aber auch mit Ächtung, ­Repressalien oder gar Morddrohungen rechnen. "Mich schützt, dass ich aus einer großen Familie komme", sagt Iyad AlDajani, "die außerdem den Ruf hat, immer schon für Frieden gewesen zu sein. So wird meine Position akzeptiert, obwohl die Hälfte der Palästinenser sie nicht mag."

Als er mit 15 Jahren in seine Heimatstadt Jerusalem zurückkehrte, fielen ihm die Mauern in den Köpfen auf. Er musste seine Freunde einzeln dazu überreden, mit ihm ins Kino zu gehen. Denn dort gingen die Juden hin. Er studierte Informationstechnologie in den USA und Israel. Eine Weile verdiente er sein Geld ­damit, Hacker zu jagen. Das war lukrativ, aber seine Leidenschaft für Frieden war größer. So studierte er bei dem Jenaer Theologen Martin Leiner Versöhnungsforschung. "Die Idee der Versöhnung besteht darin, Friedensstifter auszubilden", sagt AlDajani. Die Wissenschaft vom Frieden erforsche, wie man in Zeiten von Konflikt und Krieg auf den Frieden hin­arbeiten könne, erklärt er. Es gehe nicht darum, Konflikte zu lösen, sondern vielmehr, sie zu transformieren.

Anders als gemeinhin angenommen, seien Konflikte etwas Gutes, weil sie Diversität herstellten: "Wenn ich alles akzeptiere, was Sie sagen, dann bin ich ein Anhänger, habe keine eigene Idee. Wenn ich Ihnen widerspreche, dann passiert etwas, das wir Brainstorming nennen. Wer das nicht aushält und stattdessen Gewalt anwendet, tut das, weil er oder sie eine schwache Person ist." Frieden ist demnach kein Ergebnis, sondern ein Prozess, der stattfindet, wenn man etwas tut. Daher reiche es auch nicht, Abkommen zu unterzeichnen. "Israelis und Palästinenser haben schon viele Abkommen unterzeichnet. Warum hat das nicht funktioniert? Weil sie nicht für den Frieden ge­arbeitet haben", sagt AlDajani. "Ich sehe das auch heute: Die Extremisten gewinnen. Wenn ich als Palästinenser aus patriotischen Gründen die Hamas unterstütze, dann bin ich Kriegsaktivist. Wenn ich als Israeli sage, das ganze Land gehört den Juden, es wird keine Gleichheit und keinen palästinensischen Staat geben, dann bin ich für Krieg. Dann kann ich nicht erwarten, dass es Frieden gibt. So werden wir nichts erreichen." 

Gemeinsames Ziel im Dialog finden

Ziel müsse vielmehr ein Prozess sein, der eine bessere gemeinsame Zukunft für beide Konfliktparteien biete. Versöhnung bestehe darin, Samen der Hoffnung für zukünftige Menschen zu pflanzen. "Wer dabei an sich selbst denkt, kann keinen Frieden erreichen. Wenn man es für andere tut, dann schließt man Frieden." 

Versöhnung versuche, eine Balance herzustellen. "Leute sagen mir: Israel ist eine Supermacht, die Palästinenser haben keine Macht, also haben sie das Recht zu kämpfen. Ja, sie haben das Recht, aber was ist das Ziel des Kampfs?", fragt AlDajani. Wenn er danach gefragt wird, warum er die Boykottbewegung gegen Israel, BDS, nicht unterstützt, antwortet er: "Weil BDS kein Ziel hat. Man braucht ein reales Ziel. Israelis und Palästinenser müssen ­erkennen, dass sie sich ernsthaft und zu 100 Prozent für eine Zwei-Staaten-Lösung einsetzen müssen. Derzeit versuchen sie sich stattdessen gegenseitig über den Tisch zu ziehen. Das ist dumm. Denn das Ende dieses Spiels besteht darin, sich gegenseitig umzubringen."

Für sein Konzept der Versöhnung muss AlDajani in der Region Überzeugungsarbeit leisten und sich dabei auch mit religiösen Argumenten auseinandersetzen. Er erzählt von einer Konferenz in Hebron, bei der eine Politologin erklärte, eine Versöhnung mit den Juden sei gegen die Lehre des Islam. AlDajani erzählte daraufhin, dass der Prophet Mohammed immer die Versöhnung mit seinen Feinden gesucht habe. Bei einer Friedens­verhandlung sei gar von ihm gefordert worden, er müsse seinen Titel als Prophet ablegen, was er um des Friedens willen dann auch tat. "Sie waren verblüfft", erzählt AlDajani und ergänzt lachend: "Sie wollten mich aber auch nicht wieder treffen." 

Bei einer Konferenz in Jordanien vertrat ein Teilnehmer die Position der Muslimbrüder, Frieden nur zu schließen, um sich für den Krieg vorzubereiten. Diese Idee verfolge die Hamas auch im Gaza-Krieg, erklärt AlDajani. Doch auch dies widerspreche der Überlieferung: "Wenn Mohammed Frieden schloss, bereitete er sich nicht auf Krieg vor. Er 'öffnete' Mekka, wie es heißt. Er griff nicht an und er besetzte es nicht. Als er dort einzog, kam er ohne Waffen und tötete auch keine Nicht-Muslime. Er übernahm es ohne Krieg. Das verwirrt die Extremisten. Und weil es nicht zu ihren Vorstellungen passt, erklären sie, dass der Prophet Gottes tun kann, was er will."

Große Hoffnung setzt AlDajani auf die Doktorand*innen aus der Region, die bei ihm in Jena studieren. In seinen Seminaren wird ein wesentliches Element jedes Versöhnungsprozesses praktiziert: Dialog. Wer miteinander spricht, bildet Vertrauen. Mehr noch, sagt AlDajani: "Dialog öffnet Bewusstseinsräume und die Möglichkeit, zu verzeihen."

Ulrich Gutmair ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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