Amnesty Journal Frankreich 22. September 2017

Rückkehr nach rechts

Zeichnung einer aufgeschlagenen Zeitschrift

Mit Frankreich hat die Frankfurter Buchmesse ein Gastland gewählt, in dem die extreme Rechte gerade noch in Schach gehalten werden konnte. Die Frage, ob ihr Aufstieg in Europa gebremst ist, beschäftigt derzeit einige Autoren.

Von Maik Söhler

Die Frankfurter Buchmesse rückt in diesem Jahr den größten Nachbarstaat Deutschlands in den Mittelpunkt und nimmt damit auch die politisch-institutionelle Auseinandersetzung mit rechtsextremer Politik von der kommunalen bis zur nationalen Ebene in den Blick. ­Gerade noch einmal gutgegangen – so lautet das vorsichtige ­Fazit nach den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Frühsommer 2017. Doch der Schreck über den Front National (FN), der in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl ein Drittel der abgegebenen Stimmen erhielt, hat Nachwirkungen.

Zusammen mit der Brexit-Entscheidung Großbritanniens, strammen Rechtsregierungen in Ungarn und Polen, dem Aufstieg und der Etablierung rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien in Skandinavien, den Niederlanden, in Österreich, Italien und Deutschland ergibt sich ein politisches Bild, wonach Menschenrechte in Europa an Bedeutung verlieren. Umso wichtiger erschien der Sieg Emmanuel Macrons über Marine Le Pen in Frankreich, denn er zeigte, dass die populistische und extreme Rechte in Europa nicht immer Erfolg hat und dass sie von demokratischer Politik durchaus selbstbewusst ausgebremst werden kann.

Mehrere Neuerscheinungen zur Buchmesse befassen sich mit Aspekten dieser Debatte, die noch lange nicht beendet ist. Darunter sind auch einige aus dem Gastland Frankreich und ­seinem weit über die französischen Grenzen hinausreichenden Sprachraum. Während in Deutschland immer noch gern Didier Eribons autobiografisches Buch "Rückkehr nach Reims" herangezogen wird, um das Erstarken des FN zu verstehen, sind in Frankreich längst andere Werke in den Vordergrund gerückt, die sich mit der aktuellen und spezifischen Situation der "Grande Nation" beschäftigen, die von Postkolonialismus, Ausnahme­zustand, Terror und Terrorverdacht, Rassismus und Selbstmar­ginalisierung geprägt ist.

So veröffentlicht der Verlag Heyne nun mit "Eine französische Hochzeit" den ersten Teil von Sabri Louatahs in Frankreich viel gelesener und diskutierter Romantrilogie "Die Wilden" auf Deutsch. Darin wird ein Attentat auf den französisch-arabischen Präsidentschaftskandidaten Idder Chaouch verübt, und die aus Algerien eingewanderte Familie Nerrouche gerät unter Verdacht. Ein weiteres, in den französischen Feuilletons oft debattiertes Werk erscheint bei Piper: Gaël Fayes "Kleines Land". Es ist ein Roman über den in einem Vorort von Paris lebenden ­Gabriel, seine verspätete Hinwendung zum frankophonen Burundi, das er während des Bürgerkriegs verlassen musste, und die Wechselwirkungen afrikanisch-französischer Migration.

Etablierte Parteien radikalisieren sich

Im Bereich des politischen Buches sind zwei Werke erschienen, die auch nach der Wahlniederlage des FN aktuell bleiben. Zum einen "Der Bruch" des französischen Soziologen und Islamwissenschaftlers Gilles Kepel, ein Plädoyer für bürgerliches Engagement und ein Appell, sich nicht auf die "falsche Konfrontation" einzulassen, die Franzosen aus Angst vor dschihadistischem Terror in die Arme der Rechtsextremen treiben soll. Zum anderen hat Tanja Kuchenbecker, Paris-Korrespondentin zahlreicher deutscher Magazine und Zeitungen, ein beachtenswertes Buch über die FN-Vorsitzende Marine Le Pen geschrieben.

Beachtenswert ist es vor allem, weil sie sichtbar macht, wie Marine Le Pen aus dem Schatten ihres antisemitischen Vaters Jean-Marie heraustrat und einer rechtsextremen Partei ohne reelle Machtchancen ein neues Image verpasste. Gleichzeitig analysiert Kuchenbecker das Programm des "neuen" FN, stellt dessen Protagonisten vor und geht der Vernetzung Le Pens mit anderen europäischen Parteien der extremen Rechten nach. Ihr Fazit weist über die Situation in Frankreich hinaus: "Statt Konzepte für eine Einwanderungs- und Integrationsgesellschaft zu entwickeln, fühlen sich die etablierten politischen Parteien vom Populismus und den extremen Parolen ihrer Gegner unter Druck gesetzt und versuchen, diesem auszuweichen, indem sie ihre eigenen Positionen radikalisieren und ­anpassen."

Das Recht, Rechte zu haben

In Frankreich hat es Macron dennoch weitgehend geschafft, sich die Themen und Thesen nicht vom FN diktieren zu lassen. Wie ließe sich dies auf Deutschland übertragen? Dazu hat der Historiker Michael Wildt in "Volk, Volksgemeinschaft, AfD" einige Vorschläge parat. Er beschäftigt sich mit der deutschen AfD, einem Bündnispartner des FN, und ihren Bezügen zu den Begriffen "Volk und Volksgemeinschaft". Wildt will keine "geschichtswissenschaftliche Analyse" leisten, sondern "eine historisch-politische Intervention": "Volk und Volksgemeinschaft sind politisch, kulturell und sozial definierte Gemeinschaften, bei denen stets um die Zugehörigkeit, um Inklusion und Exklusion, gekämpft wurde." Mit der Philosophin Hannah Arendt stellt der Autor allen ausschließenden, auf ethnische Homogenität zielenden Volkskonzepten das Recht entgegen, Rechte zu haben.

Wildts Buch untersucht Begriffe und Diskurse entlang ihrer Entstehung und Entwicklung. Besonders die Interpretationen und verbalen Auseinandersetzungen um Volk und Volksgemeinschaft in der Weimarer Republik samt ihrer Folgen im ­Nationalsozialismus werden herausgearbeitet. Ebenso präzise gerät die Analyse, wie und zu welchem Zweck sich die AfD diese Begriffe aneignet und gegen politische Konkurrenten in Stellung bringt. Dem entgegnet Wildt: "Es kommt nun darauf an, dass wir das alte Volkskostüm ablegen, die heroische Bühne verlassen und uns als Menschen mit gleichen Rechten und gleicher Freiheit verstehen."

"Endland" gegen "Invasoren"

Wie aber sähe es aus, wenn all das vergeblich wäre? Wenn die extreme Rechte die Macht in Zentraleuropa übernähme? Ein solches Szenario entwickelt der Autor Martin Schäuble in seinem Jugendroman "Endland". Die Rechtsaußenpartei Nationale Alternative hat in Deutschland die Wahl gewonnen – und in den Nachbarländern sieht es nicht viel besser aus. Die Nationale Alternative macht den Atomausstieg rückgängig, privatisiert soziale Einrichtungen, führt die Wehrpflicht wieder ein, rüstet im Inneren und an den Außengrenzen drastisch auf, interpretiert die deutsche Geschichte neu und bekämpft mit aller Härte die noch im Grundgesetz verankerten Reste einer liberalen Asyl- und Migrationspolitik, um "Invasoren" fernzuhalten.

Die Protagonisten in "Endland" sind junge Erwachsene, zwei deutsche Soldaten und eine Frau, die aus dem vom Klimawandel zerstörten Äthiopien geflohen ist. Sie begegnen sich in einer Atmosphäre der Angst und des Misstrauens, die von der Nationalen Alternative und ihren paramilitärischen Unterorganisationen ständig neu geschürt wird. Doch Widerstand ist möglich. Martin Schäubles Szenario ist stellenweise schlicht und unpräzise, dennoch macht es auf literarische Weise deutlich, wie wenig Menschenrechte zählen, wenn jene, denen sie nichts gelten, an die Macht gelangen. Es zeigt aber auch, dass Literatur solidarisches Handeln und Menschlichkeit nicht aus dem Blick verliert und damit ihren Teil dazu beiträgt, den Boom der extremen Rechten zu bremsen. Der Bücherherbst 2017 hat in dieser Hinsicht einiges zu bieten.

 

Sabri Louatah: Eine französische Hochzeit. Aus dem Französischen von Bernd Stratthaus. Heyne, München 2017. 704 Seiten, 18 Euro.

Gaël Faye: Kleines Land. Aus dem Französischen von Andrea Alvermann, Brigitte Große. Piper, München 2017. 224 Seiten, 20 Euro.

Gilles Kepel: Der Bruch. Aus dem Französischen von Martin Weyerle. Verlag Antje Kunstmann, München 2017. 240 Seiten,

20 Euro.

Tanja Kuchenbecker: Marine Le Pen. Tochter des Teufels. Herder, Freiburg 2017. 224 Seiten, 22,99 Euro.

Michael Wildt: Volk, Volksgemeinschaft, AfD. Hamburger Edition, Hamburg 2017. 160 Seiten, 12 Euro.

Martin Schäuble: Endland. Hanser, München 2017. 224 Seiten, 15 Euro. Ab 14 Jahren.

 

Weitere Buchtipps:

Umkämpfte Ressourcen

Wer Umweltschutz und Menschenrechte zusammendenkt, trifft in der politischen Debatte schnell auf Staaten Mittel- und Südamerikas. Gelten doch die Urwälder des Amazonasgebiets als letzte Bastion gegen den Klimawandel und geht doch der Kampf um Landbesitz und -bewirtschaftung häufig mit Menschenrechtsverletzungen einher. Dawid Danilo Bartelt, ehemals Pressesprecher der deutschen Sektion von Amnesty International und inzwischen Mitarbeiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Lateinamerika, wendet sich in "Konflikt Natur" gleichzeitig den ökologischen und den sozialen Problemen des Halbkontinents zu. Er beschreibt die klassische Ausbeutung von Natur und Menschen im Bergbau, Agro­business sowie Erdöl- und -gassektor, nimmt aber auch den "neuen Markt für Natur" samt Emissionshandel und Umweltdienstleistungen in den Blick. Im Vorwort schreibt Bartelt: "Naturressourcen haben eine Konfliktnatur. Nirgendwo ist sie derart trächtig wie in Lateinamerika. Aber Betroffene wehren sich immer wahrnehmbarer, alternative Ansätze werden lauter diskutiert." Wer sich mit Begriffen aus der Rohstoffökonomie wie Extraktivismus und sozialen Konzepten wie Buen Vivir bereits auskennt, findet in "Konflikt Natur" eine analytisch-vertiefende Übersicht. Wer sich nicht auskennt, wird hervorragend ins Thema eingeführt. Ein gedanklich herausforderndes, wichtiges Buch.

Dawid Danilo Bartelt: Konflikt Natur. Ressourcenaus­beutung in Lateinamerika. Wagenbach, Berlin 2017. 144 Seiten, 12 Euro.

 

Bilder für die Pressefreiheit

Diesmal liegt der Schwerpunkt auf der Türkei, Polen, Eritrea, den Philippinen, Großbritannien, Mexiko, dem Südsudan und Ägypten. Jedes Jahr gibt die Journalistenorganisation Reporter ohne Grenzen den vom Bildjournalismus dominierten Band "Fotos für die Pressefreiheit" heraus, der deutlich macht, in welchem Verhältnis die Lage der Medien zum Recht auf Meinungsfreiheit steht, wo diese bedroht ist oder gar systematisch missachtet oder unterdrückt wird. Die Rangliste der Pressefreiheit 2017 umfasst 173 Staaten. Auf Platz 1 befindet sich Finnland, auf Platz 173 Laos; Deutschland nimmt Rang 16 ein. Ausgewählte Text- und Bildbeiträge geben den statistischen Ziffern und gelisteten Ländern Tiefe, analysieren den Kampf um Pressefreiheit. Der britische Fotograf Guy Martin etwa hat lange in der Türkei gelebt und das Land nach dem Putschversuch und der anschließenden Repression im Jahr 2016 verlassen. Im Band zeigt er seine beeindruckende Bildserie "Der parallele Staat" und überlegt in einem Textbeitrag, welche Fotos in Krisensituationen angemessen sind. Beeindruckend ist auch der Beitrag "Menschenjagd bei Nacht" von Dondi Tawato über "einen gnadenlosen Krieg gegen Drogenkriminelle und Süchtige" auf den Philippinen. Im Vorwort betont "Stern"-Herausgeber Andreas Petzold, was den Band ausmacht: "Fotografie zeigt, was ist! Unbestechlich, wahrheitsgetreu – in einer Millisekunde eingefrorene, aussagekräftige Fakten."

Reporter ohne Grenzen (Hg.): Fotos für die Pressefreiheit 2017. Berlin 2017. 107 Seiten, 16 Euro.

 

Aufstieg und Fall der Türkei

Noch vor zehn Jahren wunderte sich die Welt über den Aufstieg der Türkei zu einem Staat, der plötzlich als ökonomisch erfolgreich, politisch weitgehend verlässlich und international angesehen galt. Recep Tayyip Erdoğan, seine AKP und der neue türkische Mittelstand schufen ein islamisch-sozioökonomisches Modell, das sich andere Länder zum Vorbild nehmen wollten, um Politik, Soziales, Wirtschaft und Religion in Einklang zu bringen. Im Jahr 2017 aber ist die Türkei nur noch ein Musterbeispiel für autokratisch-repressive Fehlentwicklungen. Wie konnte es dazu kommen? Cihan Tugal, Professor für Soziologie an der University of California in Berkley, untersucht in seinem neuen Buch "Das Scheitern des türkischen Modells" die Veränderungen in der Türkei, dem Iran und in arabischen Staaten wie Ägypten und Tunesien. Der Untertitel "Wie der arabische Frühling den islamischen Liberalismus zu Fall brachte" verweist darauf, dass Tugal die Türkei nicht isoliert, sondern als Teil der islamischen Welt im Umbruch und als Akteur in einer Krisenregion betrachtet. Der Autor begutachtet die soziologische, politologische und makroökonomische Forschung zum Thema, setzt beim Leser also sehr viel voraus, und auch die Sprache ist akademisch-analytisch. Wer sich davon nicht abschrecken lässt, wird mit profunden Einsichten in das politische Denken und Handeln in der Region belohnt.

Cihan Tugal. Das Scheitern des türkischen Modells. Aus dem Englischen von Hans Freundl und Karsten Petersen. Kunstmann, München 2017. 400 Seiten, 24 Euro.

 

Mit Haut und Haar

Unfrei. Was bedeutet es, keine Rechte zu haben, jemand anderem zu gehören, versklavt zu sein? Der historische Roman "Mein Name ist nicht Freitag" von Jon Walter beantwortet diese Fragen aus Sicht des zwölfjährigen Samuel und gewährt einen kindlichen, schonungslosen und durch den Glauben an Gott geprägten Blick auf die Sklaverei in den Südstaaten der USA während des Sezessionskriegs zwischen 1861 und 1865. Samuel wird nicht als Sklave geboren, er wächst nach dem Tod der Mutter gemeinsam mit seinem kleinen Bruder, für den er sich verantwortlich fühlt, in Pater Moselys Waisenhaus für farbige Jungen auf. Er ist ein Musterknabe, lernt Lesen, Schreiben, Rechnen. Als er jedoch die Verantwortung für ein Vergehen seines Bruders übernimmt, wird er zur Strafe an einen Sklavenhändler übergeben und auf einer Auktion an den jungen Gerald Allen verkauft. "Dieser Junge hat mich gekauft. Dieser weiße Junge, der nicht einmal so alt aussieht wie ich. Ich gehöre jetzt ihm, mit Haut und Haar, und ich bin sechshundert Dollar wert." Schnell muss sich Samuel, der jetzt Freitag heißt, in seine neue Rolle als Leibeigener einfinden, muss gehorchen, die Regeln auf der Baumwollplantage lernen, um in der brutalen Realität der Sklaverei zu überleben. Und er muss überleben, denn schließlich will er zurück nach Middle Creek zu seinem Bruder, so wie er es versprochen hat.

Jon Walter: Mein Name ist nicht Freitag. Aus dem Amerikanischen von Josefine Haubold. Carlsen, Hamburg 2017. 448 Seiten, 18,99 Euro. Ab 14 Jahren.

 

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