Amnesty Journal 26. März 2021

Kranke ohne Lobby

Eine Geldbörse liegt aufgeklappt auf der Seite; statt Münzen ist sie mit Pillen und Tabletten gefüllt, die teilweise herausgefallen sind.

Unnötige Verknappung: Patentinhaber entscheiden, wer Medikamente produziert.

In entlegenen Regionen von Entwicklungs- und Schwellenländern leiden Menschen an sogenannten vernachlässigten Tropenkrankheiten. Muss das so bleiben?

Von Heike Haarhoff

Vielleicht muss man mit der afrikanischen Schlafkrankheit beginnen, um zu begreifen, was auf dem Spiel steht. "Nur noch 1.000 Fälle", ruft Heinz Hänel ins ­Telefon, in der Demokratischen Republik Kongo seien "es nur noch 1.000 gemeldete Fälle pro Jahr!" Ermutigend seien diese Zahlen, sagt Hänel, Euphorie in jeder Silbe. Er ist beim Pharmaunternehmen Sanofi für die Wirkstoffentwicklung gegen die Schlafkrankheit zuständig. In den 1990er-Jahren seien in dem afrikanischen Land jedes Jahr bis zu 35.000 neue Fälle diagnostiziert worden, von der Dunkelziffer ganz zu schweigen.

Doch seit zwei Jahren gibt es Fexinidazol zur Behandlung der Schlafkrankheit, dieser tückischen, von der Tsetsefliege übertragenen Infektion, die das zentrale Nervensystem befällt. Die Erkrankung führt zunächst zu Schlaf-, Empfindungs- und psychiatrischen Störungen, später zu Krampfanfällen und Koma, schließlich zum Tod. Fexinidazol war der Durchbruch: Eine Tablette, billig zu produzieren, leicht zu transportieren, einfach zu schlucken. Ein Medikament, das es ohne Hänel nicht gäbe.

Auswirkungen der Pandemie

Frühere Wirkstoffe konnten nur gespritzt werden, die Patientinnen und Patienten mussten oft tagelange Fußmärsche bis in die nächste Klinik auf sich nehmen, die Nebenwirkungen waren extrem, viele brachen die Therapie ab. Heute bleiben sie zu Hause, nehmen zehn Tage lang die Tabletten ein – und werden gesund. Insofern, sagt Hänel, sollte demnächst die Ausrottung der Humanen Afrikanischen Trypanosomiasis gelingen. So lautet die medizinische Bezeichnung der Schlafkrankheit.

Normalerweise jedenfalls. Wäre da nicht Corona.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt, dass die Covid-19-Pandemie das Engagement von Regierungen, Stiftungen, NGOs und Pharmaunternehmen zur Bekämpfung der sogenannten Neglected Tropical Diseases (NTDs) beeinträchtigen könnte. An diesen vernachlässigten Tropenkrankheiten erkranken fast ausnahmslos sozial marginalisierte Menschen in entlegenen Regionen afrikanischer und asiatischer Entwicklungs- und Schwellenländer. Julien Potet von Ärzte ohne Grenzen nennt sie die "Krankheiten für Patienten ohne Lobby".

Wer an diesen Tropenkrankheiten leide, gerate wegen der Priorisierung von Covid-19-Erkrankten ins Hintertreffen, beklagt die WHO. Ein weiteres Problem sei das hohe Corona-Infektionsrisiko, dem das Personal im Gesundheitswesen ausgesetzt sei. Zudem würden durch Flughafenschließungen und erhöhte Frachtpreise die Lieferketten für Medikamente unterbrochen.

Teufelskreis für drei Millarden Menschen

Bei der Schlafkrankheit besteht die Herausforderung darin, Menschen in schwer zugänglichen, manchmal auch umkämpften Gebieten aufzusuchen, Erkrankte zu identifizieren und ihr Blut zu untersuchen, erklärt der Mediziner Achim Hörauf vom Deutschen Zentrum für Infektionsforschung. Heinz Hänel will sich dennoch nicht geschlagen geben. Es sei schon möglich, dass es wegen Corona länger dauern werde, sagt er. "Aber dass wir die Krankheit eliminieren, daran gibt es keinen Zweifel."

Es wäre ein Lichtblick im mühsamen Kampf gegen die vernachlässigten Tropenkrankheiten, von denen nach Angaben der Organisation Drugs for Neglected Diseases initiative (DNDi) mehr als eine Milliarde Menschen in 149 Ländern betroffen sind, die Hälfte davon Kinder. Weitere zwei Milliarden sind von diesen Krankheiten bedroht. Die Verläufe sind schleichend, sie gehen bei Jugendlichen mit Entwicklungsverzögerungen einher und führen bei Erwachsenen zu dauerhaften Behinderungen oder im schlimmsten Fall zum Tod. Eine weitere Konsequenz ist der wirtschaftliche Niedergang ganzer Regionen infolge der ­weiten Verbreitung der Krankheiten. Ein Teufelskreis für drei Milliarden Menschen, 38 Prozent der Weltbevölkerung, der durchbrochen werden muss.

Die WHO hat gerade einen neuen Aktionsplan zur Bekämpfung der NTDs bis zum Jahr 2030 vorgestellt. Zuletzt formulierte sie 2012 das Ziel, bis 2020 zehn vernachlässigte Tropenkrankheiten unter Kontrolle zu bringen. Dies wurde nur zum Teil erreicht. Zurückgedrängt wurden Elephantiasis, viszerale Leishmaniose und afrikanische Schlafkrankheit; die Medinawurm-Erkrankung steht vor der Ausrottung. Der Kampf gegen Bilharziose, Flussblindheit oder die Chagas-Krankheit war weniger erfolgreich.

Imagegewinn für Sanofi

"Die Gründe sind komplex", sagt die Politikwissenschaftlerin Anna Holzscheiter, die am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin die Forschungsgruppe Governance for Global Health leitet. Das Budget der WHO lasse wenig Spielraum für autonome Schwerpunktsetzungen; die Entscheidungsmacht konzentriere sich auf wenige Konzerne und Stiftungen, die einzelne, sinnvolle Projekte förderten, selten aber zu nachhaltigen strukturellen Veränderungen beitrügen.

Kaum ein Land des globalen Südens verfüge über Res­sour­cen, um aus eigener Kraft Auswege zu beschreiten, sagt Holzscheiter. "Das ist nicht nur eine Frage des Geldes." Es mangele auch am wissenschaftlichen Know-how und an der Logistik, Arzneimittel herzustellen und zu verteilen. In abgelegenen Landesteilen gebe es weder Zugang zu sauberem Wasser noch zu medizinischer Basisversorgung, was jedoch Grundvoraussetzung im Kampf gegen NTDs sei. Dieter Müller, Projektkoordinator Globale Gesundheit bei medico international, kann das bestätigen: "Gebraucht wird eine umfassende Gesundheitsvorsorge und -versorgung, gepaart mit Wissens- und Technologietransfer."

Tatsächlich könnten die meisten dieser Krankheiten durch Medikamente wirksam bekämpft werden, schreibt der Verband forschender Arzneimittelhersteller. "Doch für die Unternehmen ist die Erforschung dieser Medikamente weder attraktiv noch profitabel, weil die Menschen, die sie brauchen, sie nicht bezahlen können", sagt Julien Potet von Ärzte ohne Grenzen.

Und doch ist es im Fall der Schlafkrankheit gelungen, mit Fexinidazol ein neues, wirksames Medikament zur Zulassung zu bringen, das die Pharmafirma Sanofi auf eigene Kosten produziert und mit dem sie die Demokratische Republik Kongo gratis beliefert. Ist Sanofi plötzlich eine karitative Einrichtung? "I wo", sagt Heinz Hänel. "Die Anfänge davon fanden heimlich statt."

Suche nach neuen Wirkstoffen

1979 machte Hänel, damals noch Biologiestudent, ein Praktikum bei der Hoechst AG, wie Sanofi früher hieß. Er erforschte Moleküle, die Parasiten wie den von der Tsetsefliege übertragenen Erreger Trypanosoma unter Kontrolle bringen sollten. Doch Hoechst stoppte die Forschung: unrentabel. Hänels Erkenntnisse landeten im Firmenkeller. Bis unabhängige, in der DNDi zusammengeschlossene Wissenschaftler Mitte der 1980er-Jahre Hänels frühe Arbeiten in einer Publikation entdeckten.

Heimlich flog er in die Schweiz, seine alten Aufzeichnungen im Gepäck, und traf sich mit Vertretern der Initiative. Um he­rauszufinden, ob Hänels Tablette wirken würde, waren Studien nötig. Hänel wandte sich 1984 an die Stiftung von Bill und Melinda Gates, die danach viele Jahre lang zusammen mit weiteren privaten Geldgebern, der DNDi und staatlicher Unterstützung aus sieben europäischen Ländern, darunter Deutschland, die präklinische Entwicklung und klinische Studien finanzierte.

Am 24. Dezember 2018 erteilte die europäische Arzneimittelbehörde Fexinidazol die Zulassung für außereuropäische Länder. Und die Rolle von Sanofi? "Ich habe gesagt: Es ist unser ­Molekül. Wir haben soziale Verantwortung. Es ist ein Image­gewinn." Hänel lacht. Wenn das Beispiel Fexinidazol Schule macht, dann übernimmt nun auch mal die öffentliche Hand ­anstelle der Industrie die Suche nach neuen Substanzen gegen Infektionskrankheiten. Dies wäre ein Paradigmenwechsel.

Heike Haarhoff ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

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